Hebräerevangelium
Andere Schreibweise: Evangelium der Hebräer; Gospel of the Hebrews (engl.)
(erstellt: April 2013)
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1. Bezeugung
„Evangelium nach den Hebräern“ ist der einzige in antiken Quellen belegte Titel für ein judenchristliches Evangelium. Das griech. καθ᾿ ῾Εβραίους (kath hebraíous; lat. meist secundum/iuxta Hebraeos) ist den Überschriften der vier kanonisch gewordenen → Evangelien
Der erste sichere Beleg begegnet bei → Clemens von Alexandrien
Der nächste Autor, der das Werk zitiert, ist → Origenes
→ Euseb von Caesarea
Weniger vertrauenswürdig ist Eusebs Angabe, das Hebräerevangelium sei bei den → Ebionäern
Diese Identifikation, die Euseb noch vermieden hatte, findet sich auch wirkungsvoll bei Hieronymus, der oft vom ‚Evangelium nach den Hebräern‘ und von einem ‚hebräischen Evangelium‘ spricht. Damit meint er aber ein aramäisches Werk, mit dem er sich – mehr oder weniger stark – befasst haben dürfte. Hingegen ist fraglich, ob er das bei Origenes belegte „Evangelium nach den Hebräern“ wirklich kennt. Es scheint eher, als beschränke sich seine Kenntnis dieses Werks auf die von ihm in griechischer Sprache übernommenen Zitate und vielleicht weiteren Informationen aus der Zeit seines Besuchs bei Didymus in Alexandrien.
Durch Hieronymus wurde die Rede vom „Evangelium nach den Hebräern“ „je länger je mehr zu einer Hülse“ (Lührmann, 44), in der vieles tradiert werden konnte, ohne gleich in den Verdacht des → Häretischen
2. Forschungsprobleme
Die Angaben des Hieronymus über seinen Gebrauch judenchristlicher Quellen (Klijn 1992, 16-18; Frey 2012, 581-587) bieten vielfältige Probleme. Augenscheinlich spricht der Kirchenvater an allen einschlägigen Stellen von ein und demselben Werk, das er mit unterschiedlichen Wendungen bezeichnet: „Evangelium nach den Hebräern“, „Evangelium der Hebräer“, „hebräisches Evangelium“, „das hebräische Evangelium nach Matthäus“, oder auch „nach den Aposteln“. Gelegentlich spricht auch er von dem Evangelium, das die Nazaräer in Beröa lesen, erwähnt ein Exemplar in der Bibliothek von Caesarea, verweist auf die hebräische Schrift und die „hebräische“ (d.h. wohl aramäische) bzw. „chaldäische“ Sprache und behauptet sogar, das Werk „kürzlich“ (nuper) ins Griechische und Lateinische übersetzt zu haben (Hieronymus, Michakommentar II zu Mi 7,5-7
Die Probleme erschließen sich am klarsten, wenn man die Aussagen des Hieronymus in ihrer chronologischen Abfolge liest (Klijn 1992,16-20). Dabei zeigt sich, dass Hieronymus seine Kenntnis judenchristlicher Traditionen erst nach und nach gewonnen hat und dass er seine ‚vollmundigsten‘ Aussagen in der Spätzeit nicht mehr wiederholt.
Erstmals verweist Hieronymus 383 in einem Brief (ep. 20,5) auf eine Textvariante, die er auf den vermeintlich hebräischen Ur-Matthäus zurückführt, doch sind seine Sprachkenntnisse zu dieser Zeit noch nicht hinreichend (Markschies 1994,141); die Variante dürfte ihm eher aus mündlicher Tradition bekannt geworden sein. Wenn er wenige Jahre später auf das ‚hebräische Evangelium‘ verweist (in Eph II, zu Eph 5,4
Aus dem Überblick über die Zeugnisse des Hieronymus ergibt sich, dass die von ihm zunächst rezipierte Identifikation des “Evangelium[s] nach den Hebräern” mit dem vermeintlich hebräischen Ur-Matthäus ebenso wie die Identifikation des aramäischen Evangeliums der Nazoräer mit beiden als irrtümlich anzusehen sind. Vielmehr begegnete er wohl mindestens zwei unterschiedlichen Werken, nämlich dem bei Clemens, Origenes und Didymus bezeugten „Evangelium nach den Hebräern“ und einer aramäischen Schrift, die bei den aramäisch sprechenden Judenchristen in Beröa in Gebrauch gewesen sein soll.
Diese Differenzierung zwischen dem „Evangelium nach den Hebräern“ und einem aramäischen → „Evangelium der Nazoräer“
Daher ist trotz der Schwierigkeiten, einzelne bei den Vätern zitierte Traditionen dem einen oder anderen Werk zuzuordnen, von der Unterscheidung zwischen einem griechischen „Evangelium nach den Hebräern“ und einer aramäischen, in der Forschung „Nazoräerevangelium“ genannten Evangelienschrift auszugehen.
3. Textbestand
Die Frage, welche der überlieferten Fragmente dem aus Clemens, Origenes und Didymus bekannten griechischen Werk zugeordnet werden dürfen und welche sich auf ein anderes, aramäisches Werk beziehen, lässt sich nicht eindeutig klären und wird in der Forschung im Detail unterschiedlich rekonstruiert. Einige Forscher (Mimouni, Luomanen) verzichten nach wie vor auf diese Unterscheidung und ordnen alle Fragmente außer den bei Epiphanius für das Evangelium der Ebionäer zitierten, dem Hebräerevangelium zu. Nimmt man die oben begründete Unterscheidung vor, so ist das wichtigste Kritierium zunächst die Sprache: So ist der rhetorisch kunstvoll geformte, bei Clemens zitierte Stufenspruch über den Weg zur Herrschaft und zur Ruhe, der nur griechisch entstanden und nicht aus einer semitischen Sprache übersetzt sein kann, eindeutig dem Heebräerevangelium zuzuordnen, hingegen sind Parallelen oder Varianten im Hebräischen bzw. Aramäischen eher einem semitischen Werk zuzuordnen.
Neben dem bei Clemens zitierten (und im Thomasevangelium belegten) Stufenspruch ist das bei Origenes zweimal zitierte und von Hieronymus noch dreimal aufgenommene Fragment über die → Entrückung
Aufbau und Umfang des Hebräerevangeliums lassen sich aus diesem kleinen Bestand kaum sicher rekonstruieren. Das Werk scheint von Jesu Taufe und Versuchung berichtet zu haben, ebenso von seinem letzten Mahl, seiner Auferstehung und einer Erscheinung des Auferstandenen vor Jakobus. Die übrigen Szenen, die Logien oder die Erzählung von der Sünderin lassen sich in diesen Rahmen nicht genauer einordnen. Die späte Stichometrie des Nikephorus zählt für das Hebräerevangelium 2200 Zeilen, doch bleibt unsicher, ob sich die Angabe tatsächlich auf dieses Werk bezieht.
Alle Fragmente weisen klare Unterschiede zu den jeweiligen Parallelen in den kanonischen Evangelien auf oder sind dort sogar ohne Entsprechung. Dies mag auf Zufällen der Überlieferung bzw. der Auswahl der Zitate durch die Kirchenväter beruhen, doch ist deutlich, dass es sich hier um einen in Stoff und Details eigenständigen narrativen Text vom Wirken Jesu (von seiner Taufe bis zu seiner Auferstehung) handelte.
4. Einleitungsfragen
Die Bezeugung des Werks bei Clemens, Origenes und Didymus weist auf eine Verbreitung des Hebräerevangeliums im ägyptischen Christentum hin. Der Titel des Werks sagt nur etwas über die Trägerkreise, nichts über die Sprache aus. Er verweist wohl auf griechisch sprechende judenchristliche Kreise. Diese wären allerdings in Palästina kaum als „Hebräer“ bezeichnet worden. D. h., der Titel verweist aus nichtpalästinischer Perspektive auf eine Evangelienschrift griechisch sprechender Judenchristen (im Unterschied zu Evangelien anderer, z.B. heidenchristlicher Gruppen). Walter Bauer hat vermutet, dass der Titel als Pendant zum Titel „Evangelium nach den Ägyptern“ geschaffen wurde, um das Werk der ägyptischen Judenchristen so von dem der dortigen Heidenchristen zu unterscheiden (Bauer, Rechtgläubigkeit, 54-57). Dies bleibt eine Hypothese, doch lässt sich aus der frühen Bezeugung in Ägypten und evtl. auch aus dem theologischen und religionsgeschichtlichen Charakter einiger Fragmente vorsichtig auf eine Herkunft aus dem alexandrinischen Judenchristentum schließen. Eine Anknüpfung an palästinische Traditionen (z.B. der Protophanie vor Jakobus) ist anzunehmen, doch ist das Werk kaum eine Übersetzung einer palästinisch-judenchristlichen, aramäischen oder hebräischen Vorlage.
Eine präzise chronologische Eingrenzung ist schwer möglich. Das Werk dürfte das Martyrium des Herrenbruders Jakobus voraussetzen, also nach 70 entstanden sein. Terminus ad quem ist die Zitierung bei Clemens bzw. die Rezeption bei Hegesipp, d.h. die 2. Hälfte des 2. Jh.s. Wahrscheinlich ist das Werk also in der ersten Hälfte des zweiten Jh.s in Ägypten entstanden, eventuell vor den für die jüdische → Diaspora
5. Theologische Akzente
Auf eine judenchristliche Prägung des Werks weisen nicht alle hier zugeordneten Fragmente in gleicher Deutlichkeit hin. Am signifikantesten ist die Zuweisung der Protophanie des Auferstandenen an den Herrenbruder Jakobus, der nach seinem Martyrium als „Jakobus der Gerechte“ (Hegesipp bei Eus. h.e. II 23,4-7 u.ö.) zum „Heros des Judenchristentums“ (Klauck, Evangelien, 61) wurde. Nach den kanonischen Evangelien war er vor Ostern kein Nachfolger Jesu; 1Kor 15,7
Im Fragment über die Taufe Jesu, in der der Heilige Geist nach dem Heraufsteigen Jesu aus dem Wasser auf ihn herabkommt und auf ihm ruht (Jes 11,2
6. Wirkung
Das Werk war im ägyptischen Christentum offenbar in weiteren Kreisen bekannt. Clemens konnte in diesem an jüdisch-hellenistischer Weisheitstheologie orientierten Werk eine Affinität zu seiner eigenen philosophisch-theologischen Position sehen. Der Einfluss dieser Schrift blieb jedoch auf den ägyptischen Raum konzentriert: Origenes und Didymus zitieren die Schrift und setzen offenbar ihre Kenntnis bzw. Anerkenntnis bei Teilen ihrer Leserschaft voraus. Euseb kannte das Werk wohl über Origenes, doch verzeichnet er es unter den umstrittenen Evangelien. Hieronymus kennt es wohl ebenfalls über Origenes und durch seinen Besuch bei Didymus.
Erst durch die Identifikation mit dem vermeintlich hebräischen Ur-Matthäus und der in Palästina bekannten aramäischen Evangelienbearbeitung der Nazoräer hat Hieronymus das Bild jenes „Hebräerevangeliums“ geschaffen, das dann im Mittelalter und in der Neuzeit seit Lessing die Phantasie angeregt hat und ganz unterschiedliche Traditionen vereinen und legitimieren konnte.
Literaturverzeichnis
1. Lexikon- und Handbuchartikel sowie Textsammlungen
- J. Frey, 2012, Die Fragmente judenchristlicher Evangelien, in: C. Markschies / J. Schröter (Hg., in Verb. mit A. Heiser), Antike christliche Apokryphen, Bd 1: Evangelien und Verwandtes, Teil 1, Tübingen, 560-592
- J. Frey, 2012, Die Fragmente des Hebräerevangeliums, in: C. Markschies / J. Schröter (Hg., in Verb. mit A. Heiser), Antike christliche Apokryphen, Bd 1: Evangelien und Verwandtes, Teil 1, Tübingen, 593-606 (sowie die Synopse 649-654)
- P. Vielhauer / G. Strecker, 1987, Judenchristliche Evangelien, in: E. Hennecke / W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 1: Evangelien, 5. Aufl. Tübingen, 114-147 (bes. 142-147)
- H. Waitz, 1924, Hebräerevangelium, in: E. Hennecke (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen, 2. Auflage, Tübingen, 48-55
- D. Lührmann, 2000, Fragmente apokryph gewordener Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache, Marburger Theologische Studien 59, Marburg, 40-55
- J. K. Elliott, 1993, The Apocryphal New Testament, Oxford, 9–10
- D. A. Bertrand, 1997, Fragments évangeliques. Textes traduits, présentés et annotés, in: F. Bovon/P. Geoltrain (Ed.), Écrits apocryphes chrétiens 1, Bibliothèque de la Pléiade 442, Paris, 393–495 (459–462)
- A. F. J. Klijn, 1992, Jewish-Christian Gospel Tradition, VigChrSup 17, Leiden u.a.
- S. Mimouni, 2006, Les fragments évangéliques judéo-chétiens ‘apocryphisés’ : Recherches et perspectives, CRB 66, Paris
2. Weitere Literatur
- E. Broadhead, 2010, Jewish Ways of Following Jesus, WUNT 266, Tübingen, 254-267
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- J. Frey, 2010, Die Vielgestaltigkeit der judenchristlichen Evangelienüberlieferung, in: J. Frey / J. Schröter (Hg., unter Mitwirkung von J. Spaeth), Jesus in apokryphen Evangelienüberlieferungen, WUNT 254, Tübingen, 93-137
- J. Frey, 2003, „Et numquam laeti sitis…“ – Ein apokryphes Jesuswort und die Probleme des Hebräerevangeliums, in: Gunda Brüske / Anke Haendler-Kläsener (Hg.), Oleum Laetitiae, Festschrift für P. Benedikt Schwank OSB zum 80. Geburtstag, Jerusalemer Theologisches Forum 5, Münster (Aschendorff), 187-212
- J. Frey, 2005, Ein Weg zurück zu den Ursprüngen? Die Fragmente judenchristlicher Evangelienüberlieferungen, Bibel und Kirche 60, 75-81
- A. Hilgenfeld, 1863, Das Evangelium der Hebräer, ZWTh 6, 345-385
- H.-J. Klauck, 2002, Apokryphe Evangelien, Stuttgart, 55-62
- A. F. J. Klijn, 1988, Das Hebräer- und das Nazoräerevangelium, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II/25,5, Berlin – New York, 3997-4033
- D. Lührmann, 1987, Das Bruchstück aus dem Hebräerevangelium bei Didymos von Alexandrien, Novum Testamentum 29, 265-279
- D. Lührmann, 2004, „Das Hebräerevangelium, das von den meisten das ursprüngliche des Matthäus genannt wird.“ Das Problem der „judenchristlichen Evangelien“, in: ders., Die apokryph gewordenen Evangelien, NT.S 112, Boston u.a., 229–258
- P. Luomanen, 2012, Recovering Jewish-Christian Sects and Gospels, VigChrSup 110, Leiden – Boston, 83-144
- S. C. Mimouni, 1998, La documentation judéo-chrétienne ‚orthodoxe‘: présentation des évangiles judéo-chrétiens, in : ders., Le judéo-christianisme ancien : essais historiques, Paris, 207-225 ; Engl. Übersetzung: The ‘Orthodox’ Judaeo-Christian Documentation : The Ebionite Literature, in : ders., Early Judaeo-Christianity. Historical Essays, Interdisciplinary Studies in Ancient Culture and Religion 13, Leuven 2012, 175-196
- A. Schmidtke, 1911, Neue Fragmente und Untersuchungen zu den Judenchristlichen Evangelien, Texte und Untersuchungen III/1, Leipzig
- H. Waitz, 1937, Neue Untersuchungen über die sogenannten judenchristlichen Evangelien, ZNW 36 , 60-81
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