Homosexualität (NT)
(erstellt: September 2012)
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1. Einführung
Homosexualität wird im Neuen Testament nicht eigens zum Thema gemacht. Nur an drei knappen Stellen finden sich Aussagen, die üblicherweise mit gleichgeschlechtlichen Sexualpraktiken in Verbindung gebracht werden. Dies sind Röm 1,26f
Die neutestamentliche Beschäftigung mit Homosexualität bewegt sich also schwerpunktmäßig in vier Diskursräumen. Dies ist erstens das Diskursfeld der historischen Rekonstruktion: Was war damals? Dies ist zweitens das Diskursfeld der Applikation: Welche Bedeutung hat dies für wen? Dies ist drittens das Diskursfeld der → Hermeneutik
2. Die neutestamentlichen Texte. Wortlaut und Fragestellungen
Die Texte befinden sich sämtlich in den → paulinischen
2.1. Ausschluss vom Reich Gottes: 1Kor 6,9
9Oder wisst Ihr nicht: Ungerechte werden nicht Gottes Reich erben. Irrt Euch nicht! Weder Unzüchtige, noch Götzendiener, noch Ehebrecher, noch Weichlinge (μαλακοί, malakoi), noch die, die mit Männern Geschlechtsverkehr haben (α̉ρσενοκοι̃ται, arsenokoitai).
2.2. Verstoß gegen die gesunde Lehre: 1Tim 1,10
9Dies wissend, für einen Gerechten ist das Gesetz nicht gesetzt, sondern für Ungerechte und Aufrührer, Unfromme und Sünder, Unheilige und Unreine, Vatermörder und Müttermörder, Menschenmörder, 10für Unzüchtige, für die, die mit Männern Geschlechtsverkehr haben (α̉ρσενοκοι̃ται, arsenokoitai), Menschenräuber, Lügner, Meineidige und was sonst noch der gesunden Lehre entgegensteht, 11gemäß dem Evangelium der Herrlichkeit des glücklichen Gottes, welches mir anvertraut worden ist.
2.3. Die Vertauschung des Natürlichen als Strafe für Bosheit: Röm 1,26f
25Sie haben die Wahrheit Gottes umgetauscht in die Lüge und sie haben das Geschaffene verehrt und ihm gedient an Stelle des Schöpfers, er sei gelobt in Ewigkeit. Amen. 26Deshalb hat Gott sie schändlichen Leidenschaften ausgesetzt, ihre Frauen nämlich haben den natürlichen Gebrauch in den gegennatürlichen vertauscht. 27Genauso auch haben die Männer den natürlichen Gebrauch mit der Frau verlassen und sind in ihrem Begehren für einander entbrannt. Männer in Männer haben Schamlosigkeit getrieben und die Vergeltung für ihren Irrtum, so wie es sein musste, schon an sich selbst empfangen.
2.4. Textaussagen und weiterführende Fragestellungen
Was auch immer exakt in den betreffenden Passagen im Blick auf bestimmte Sexualpraktiken gemeint sein will, die pejorative Konnotation, die schroffe Ablehnung und apodiktische Verurteilung ist jeweils offensichtlich.
1Kor 6,9
Folgende Problemkreise und Themenfelder werden diskutiert: Welche Vorstellungen werden in der gegenwärtigen Debatte mit dem Begriff der Homosexualität transportiert und wie verhalten sie sich zur Lebenswelt des Paulus? (siehe 3.1.) Wie kommt Paulus zu seinen Aussagen? Welche Traditionen aus Judentum, griechischer und römischer Antike bilden hierfür den Hintergrund? (siehe 3.2.) Was meinen die Schlüsselbegriffe μαλακοί (malakoi) und α̉ρσενοκοι̃ται (arsenokoitai)? (siehe 3.3.) Wie werden die paulinischen Aussagen in der neutestamentlichen Wissenschaft gedeutet? (siehe 3.4) Schweigt das übrige Neue Testament zu gleichgeschlechtlichem Verhalten? (siehe 3.5) Und wie wirkt sich der Homosexualitätsdiskurs auf das Verständnis der Bibel aus und welche Effekte kann er für die exegetischen Disziplinen haben? (siehe 4.)
3. Homosexualität im neutestamentlichen Diskurs
3.1. Anthropologische Konstante oder Erfindung der Moderne?
Homosexualität, ein griechisch-lateinisches Kunstwort, lässt sich zuerst 1869 bei Károly Mária Kertbeny zur Unterscheidung verschiedener Sexualtypen nachweisen. Der Begriff konnte sich trotz seiner möglichen Verengung auf sexuelle Handlungen und der Gefahr einer Verwechslung von gr. ὁμος (homos, gleich) mit lat. homo (Mann) durchsetzen. Auch heute bleibt der Terminus unscharf, wird schlicht verstanden als „same sex orientation“ (Johannson, 555) oder auch verbindlicher als „sexuelle Beziehung zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern“ (Stegemann 1998, 61), kann dauerhafte Freundschaft sowohl ein- als auch ausschließen, umfasst womöglich Bisexualität ebenso wie Situations-Homosexualität und Pädophilie. Im Blick auf gleichgeschlechtliches Verhalten in der Antike versteht Kenneth J. Dover unter Homosexualität „die Neigung, Sinnengenuß hauptsächlich durch körperlichen Kontakt mit Personen des eigenen Geschlechts zu suchen“ (Dover, 11).
In der historischen Erforschung von Homosexualität stehen sich zwei zunächst gegensätzliche Positionen gegenüber (vgl. Hergemöller, 43-53; Obermayer, 3-8). Die konstruktivistische Sicht, sie greift vor allem auf das Werk Michel Foucaults und seiner Dekonstruktion sexualhistorischer Kontinuitäten zurück, betont, dass Homosexualität ein gegenwärtiges Dispositiv an Ideen und Machtverhältnissen sei, das nicht auf antike Phänomene von Gleichgeschlechtlichkeit projiziert werden könne. Aufgabe der Historiografie ist es vielmehr, diskursanalytisch jeweilige Mechanismen zu beschreiben, die ein bestimmtes gleichgeschlechtliches Verhalten prägen, lenken und ausschließen. Die Klassifizierung von Menschen nach ihrer sexuellen Identität, also homo-, hetero-, bi-, trans-, pan-sexuell etc. zu sein, wird als post- / moderne Erfindung relativiert. Insbesondere ExegetInnen, die Alterität und Abständigkeit neutestamentlicher Aussagen im Blick auf gegenwärtige Homosexualitätsdebatten betonen, rekurrieren auf den konstruktivistischen Diskurs. So stelle die Antike weder einen definitorischen Begriff für Homosexualität bereit noch kenne sie überhaupt so etwas wie einen abgrenzbaren Bereich »Sexualität«, sondern integriere vielmehr den Geschlechtsverkehr weitaus stärker als heute in politische und ökonomische Zusammenhänge (Stegemann 1998, 61f). Die essentialistische Sicht hingegen formuliert Argumente für das Verständnis von Homosexualität als einer übergreifenden anthropologischen Konstante und bringt gleichgeschlechtliches Verhalten verschiedenster Zeiträume mit gegenwärtigen homosexuellen Lebensformen in Verbindung. Vor allem John Boswell plädiert dafür, auch hinsichtlich der Antike von »gay persons« zu sprechen (Boswell, 41-59). Er versteht Homosexualität als biologische Eigenschaft, die es in allen Gesellschaften als eine Minderheit gibt. Ebenso existieren immer auch Menschen, die sich dessen bewusst sind und diese Präferenz als eigene Identität verstehen. Eine kritische Geschichtsschreibung darf nicht darauf verzichten, diesen Menschen ihren Platz in der Geschichte zurückzugeben und die Erinnerung an sie gerade als gay persons wachzuhalten (Boswell, 9-24). Emanzipatorisches, d.h. anti-homophobes Interesse ist also in beiden Lagern der historischen Homosexualitätsforschung zu finden. Weiter ist der vermeintliche Antagonismus zwischen Essentialismus und Konstruktivismus freilich insgesamt überwindbar. Die Oppositionen können auch als verschiedene Perspektiven verstanden werden (Tiedemann, 25). Während der Konstruktivismus die fortlaufende Problematik jeder überzeitlichen Vergleichbarkeit präsent hält, ermöglicht es der Essentialismus, überhaupt Analogien und heuristische Einordnungen vorzunehmen, ohne die eine verstehende Wahrnehmung nicht auskommen kann. Für die Analyse der paulinischen Aussagen bringen beide Ansätze somit wichtige Aspekte zur Bestimmung, Reichweite und Erfassung neutestamentlicher Vorstellungen im Blick auf gleichgeschlechtliches Verhalten ein.
3.2. Gleichgeschlechtliches Verhalten in der Antike
Paulus bewegt sich als ein zum Christus-Glauben gekommener Diasporajude innerhalb zweier Kultursphären, die vielfältige Überlappungen aufweisen und räumlich-geografisch nicht zu trennen sind. Dies ist zum einen das → Judentum
3.2.1. Der römisch-griechische Kulturraum
Gleichgeschlechtliches Verhalten wurde in der Antike recht unterschiedlich akzeptiert. Tolerierung bis Desinteresse lässt sich für den städtischen Bereich und hier besonders bei den Bildungseliten annehmen, insofern bestimmte Normen eingehalten wurden (so Veyne, 42; Boswell, 61-63). Im ruralen Raum hingegen wird die Bevölkerung weit weniger aufgeschlossen gewesen sein (vgl. Winterer, 32f; Hoheisel, 312). Aber nicht nur der Stadt-Land-Konflikt sowie die soziale Differenzierung, sondern auch eine zunehmende Diskriminierung durch die philosophischen Institutionen prägte tendenzhaft die frühe → Kaiserzeit
Zur Zeit des Paulus war gleichgeschlechtliches Verhalten vor allem männliche Päderastie, wenngleich nicht ausschließlich. Der Erwachsene übernahm den aktiven Part. Der bereits geschlechtsfähige Junge hatte den Vorgang passiv zu dulden, die Angaben zur erlaubten Altersgrenze umfassen die Spanne vom 12. bis zum 28. Lebensjahr (Stegemann, 1993, 264). In römischer Zeit war gleichgeschlechtlicher Kontakt mit einem freigeborenen Jungen verpönt, in der Regel waren hierfür → Sklaven
Wie strikt die normativen Vorgaben gesellschaftlich präsent waren, wie sehr sie Ideal blieben oder auch als verstummende Ordnungen verblassen konnten, ist umstritten und hängt vom Einzelfall ab. Der prominenteste Regelverstoß sicherlich wurde Julius Cäsar zur Last gelegt, da er dem unterworfenem König der Bythinier als passiver Geschlechtspartner gedient haben soll (Suet. Divus Iulius 49f). Dennoch wurde er als erfolgreicher Feldherr geachtet und verehrt. Weiter machte sich der römische Klatsch ebenso lustig über Männer, die von ihren Jünglingen vorgeführt wurden, man verachtete verweiblichte androgyne Männergestalten (Veyne, 44). Auch mehrjährige erotische Beziehungen unter freien Männern gab es mitunter. Sueton berichtet über die Hochzeit → Kaiser Neros
Weibliches gleichgeschlechtliches Verhalten ist in der Antike weit weniger beschrieben und galt allgemein als ausgesprochen suspekt (Belege bei Tiedemann, 271f). Ovid – neben vielen anderen – nennt es widernatürlich (Ov. Metamorphoses, 9,737f). Für Frauen konnte es eigentlich nur eine einzige legitime Art sexuellen Verhaltens geben: sie mussten im Dienst des Mannes stehen und passiv sein. Gleichgeschlechtliches Verhalten unter Frauen war nur zugleich als deren Maskulinisierung denkbar, was als Bedrohung der Männerdominanz galt und somit normativ ausgeschlossen wurde. Wenn Paulus in Röm 1
Die Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichem Verhalten nahm in der römischen Gesellschaft bereits im 1. Jahrhundert v. Chr. ab. In der → Stoa
Paulus konnte also bewusst oder unbewusst die Welt, in der er sich bewegte, als eine Zeit des Umbruchs erlebt haben. (Noch) galt gleichgeschlechtliches Verhalten unter Männern, so es nach bestimmten Regeln stattfand, nicht als prinzipielles Problem. Askese und Aufwertung der → Ehe
3.2.2. Judentum
Viel stärker als der griechisch-römische Diskurs prägten freilich jüdische Vorstellungen den Sittencodex des Paulus (Frey, besonders 24-35). Der → Tanach
Ganz selbstverständlich galt dem Frühjudentum gleichgeschlechtliches Verhalten als Sünde der Heiden. Die Abgrenzung von den übrigen Völkern konnte sich in paulinischer Zeit noch einmal steigern, indem ein moralisches Überlegenheitsbewusstsein die politische Ohnmacht gegenüber der römisch / griechischen Fremdherrschaft zu kompensieren suchte. Dieses Grundgefühl konnte sich in der Verbundenheit mit Israel auch in der Diasporasituation halten (Wilckens, 110): So grenzt der → Aristeasbrief
Die Briefe des Paulus zeigen solide Kenntnisse des Tanach und jüdischer Schriftauslegung auf (Frey, 24-26), mit griechischer oder römischer Literatur hat sich Paulus wohl nicht intensiv auseinandergesetzt, jedenfalls finden wir davon keinen Widerhall. Als Jude in der hellenistischen Diaspora mit → pharisäischer
3.3. Paulusvokabular. Was meint μαλακοί und α̉ρσενοκοι̃ται?
Paulus benutzt keine besonders gängigen Begriffe zur Umschreibung gleichgeschlechtlichen Verhaltens. Eventuell war ihm das Phänomen mehr als unvertraut. Das Griechische stellt eine Vielzahl bei weitem gebräuchlicher Termini zur Verfügung, etwa κίναιδος (kinaidos, unzüchtiger Mensch, Wüstling, Homosexueller), θηλύδριος (thēlydrios, mädchenhafter weichlicher Mann), παιδεράστης (paiderastēs, Knabenliebhaber), α̉νδρόγυνος (androgynos, zwitterhaft; Eunuch; übertr.: unmännlich, weibisch), ε̉ραστής–ε̉ρώμενος (erastēs – erōmenos, Liebhaber – Geliebter), u.s.w.
Liddel / Scott gibt für μαλακός (malakos) als Grundbedeutungen »soft«, »tender«, »youthful looks«, »mild« oder auch »gentle« an (Liddel / Scott, 1076f). In diesem Sinn dürfte μαλακός in Mt 11,8
Noch weit ungewöhnlicher als μαλακός (malakos) ist der andere Begriff, α̉ρσενοκοι̃ται (arsenokoitai), bei dem es sich vielleicht um einen von Paulus geschaffenen Neologismus handelt. John Boswell sieht mit α̉ρσενοκοι̃ται (arsenokoitai) ursprünglich nur männliche Prostituierte gemeint, genauer: Männer, die allgemein Geschlechtsverkehr haben, nicht aber spezifische Formen gleichgeschlechtlichen Verhaltens. Erst im 4. Jahrhundert n. Chr. sei es zu einer Bedeutungsverschiebung gekommen, der Begriff wurde nun „antigay“ (Boswell, 350–353). Näher dürfte eine Ableitung von Lev 18,22
3.4. Paulusdeutungen. Die Interpretation seiner Aussagen zu gleichgeschlechtlichem Verhalten
Die unübliche Wahl an Formulierungen sowie vielfältige mögliche Kontextbezüge tragen zu einem breiten Interpretationsspektrum dieser Verse bei. In der neutestamentlichen Wissenschaft werden hierzu mindestens folgende vier Fragen diskutiert:
1) Wo spricht Paulus überhaupt von gleichgeschlechtlichen Handlungen?
Nur Röm 1,27
2) Denkt Paulus an heterosexuelle Menschen, die homosexuell agieren?
Insbesondere die Formulierungen in Röm 1
3) Sind nur Menschen gemeint, die nicht an Christus glauben?
Röm 1,26f
4) Sind heutige Vorstellungen von Homosexualität etwas völlig anderes als gleichgeschlechtliches Verhalten in der Welt des Paulus?
Bereits in Abschnitt 2 habe ich auf diese Diskussion hingewiesen. Die unterschiedlichen Facetten der antik-mediterranen Welt in Abschnitt 3.1 sollten deutlich machen, dass zum einen erhebliche Unterschiede zwischen hier und dort bestehen, zum anderen gerade der römisch-griechische Diskurs frappierend aktuell und zeitnah anmutet. Insgesamt jedoch war die sexualethische und damit auch sexualpraktische Matrix ganz anders strukturiert als heute. Die Geschlechterbilder und Rollenerwartungen galten vornehmlich als starr und hierarchisiert, gleichgeschlechtliche Praxis verlief als Vorläufer oder häufig auch parallel zu ehelichen Verpflichtungen und basierte in der Regel nicht auf Freiwilligkeit und Stetigkeit. Freilich verweisen ebenso Spuren auf grundsätzliche homoerotische Dispositionen, auch dauerhafte Beziehungen zwischen Männern lassen sich finden (s.o.). Die überwiegende Mehrheit der antiken Texte spricht aber nicht von homosexueller Identität, sondern von gleichgeschlechtlichem Verhalten (Hasitschka, 57). Paulus dürften die feinen Nuancen und komplexen Differenzierungen im antiken Sexualdiskurs kaum bekannt gewesen sein, darauf verweist zumindest sein unübliches Vokabular. Ob Paulus ausschließlich Päderastie vor Augen hatte, bleibt umstritten (so Scroggs, 127f, anders Stegemann, 1993, 280). Homosexualität im Sinn post-/moderner Lebenspraxis konnte Paulus zweifelsohne nicht verdammen, da er sie nicht kannte (so u.a. Stegemann 1998, 67; Punt, 972 und ganz ähnlich auch in Bezug auf die hebräische Bibel Otto, 1884). Kaum lassen sich hierzu Einzelaussagen übernehmen, ohne auch die antik-mediterranen Figuren von oben/unten, Gewalt, männlich / weiblich u.s.w. zu übernehmen. Dies gilt freilich für Sexualaussagen im Neuen Testament generell.
3.5. Leerstelle übriges Neues Testament?
Weiter lassen sich im Neuen Testament keine direkten Hinweise auf gleichgeschlechtliches Verhalten finden. Diskutiert werden mögliche Bezüge in 1Kor 11,2-16
Darüber hinaus sind noch eine kleine Reihe an Texten zu nennen: die Hunde in Apk 22,15
4. Konsequenzen für das Verständnis des Neuen Testaments und der Bibelwissenschaften
Die Diskussion gegenwärtiger homosexueller Praxis wird durch die Exegese nicht zu einem Abschluss gebracht. Die neutestamentlichen Beiträge reichen von einer Verteidigung der biblischen Texte in ihrer normativen Bedeutung für heute (so etwa Richard B. Hays) bis zu deren kulturanthropologischen Distanzierung als Gebilde einer fremden Welt (so etwa W. Stegemann). Eine dezidiert textwissenschaftliche Beschäftigung mit den neutestamentlichen Aussagen könnte sich gegen die Gefahr solcher Vereindeutigungen dafür einsetzen, die ungemeine Vielfalt im Verstehen gerade historischer Texte herauszustellen. Dann geht es nicht mehr nur um eine rekonstruktive Autorenintention, zu der man sich dezisionistisch positionieren muss. Im Mittelpunkt könnte vielmehr noch deutlicher als bisher die Multidimensionalität intertextueller Bezüge stehen, also das heterogene und dynamische Verhältnis der paulinischen Aussagen zu möglichen Prä- und Folgetexten. Eine solche Unternehmung arbeitet ebenso Kontinuität, aber auch Kontingenz und Kollision des paulinischen Standortes hinsichtlich verschiedener Zeiträume und Kulturregionen heraus. Zugleich macht diese Interpretationsarbeit die Suche obsolet, in den neutestamentlichen Texten Antworten zu finden, wie Menschen heute miteinander leben können. Denn sie sieht in den Texten vornehmlich Geflechte, die mit vielen weiteren (Text-)Teilen multilinear verwoben sein können. Die Vorstellung der Bibel als Kanon wird dabei als Rezeption ihrer Einzelschriften wahrgenommen und kritisch reflektiert (Wischmeyer, 629-632). Das Neue Testament erscheint so nicht mehr als Lehrbuch, das Lösungen in ethischen Debatten vorgibt, sondern als facettenreiches Lernbuch mit zahllosen Bezügen zu bekannten und unbekannten (Text-)Welten (Scholz, 4f). Diese bilden einen Zugang, Geschichte zu verstehen und sie können Anregung sein, sich mit den kulturellen, auch religiösen Wirkungen dieser Texte auseinanderzusetzen. Diskriminierung oder Menschenwürde entscheidet sich somit nicht an biblischen Texten, sondern an Vorerfahrungen, Aufklärung, Aufarbeitung von Homophobie und generell von Bildung.
Die neutestamentliche Beteiligung an der Homosexualitätsdebatte hatte ihren Höhepunkt bereits in der letzten Dekade des vergangenen Jahrhunderts. In der Rückschau zeigt sich, dass ihre Klärungen nicht nur historische Rekonstruktionsarbeit sind. Bibel-Exegese ist nicht harmlos: ob sie das will oder nicht, ihre Ergebnisse werden mitunter anders rezipiert als Homer- und Vergil-Deutungen, denn sie haben ebenso politische Dimensionen. Ihre Forschung tritt somit auch gesellschafts- und kirchenpolitisch in Erscheinung. Dabei kann sie ideologiekritisch aufzeigen, wie normative Lektüreverfahren auf bestimmten Relevanzkriterien basieren. Nicht jedoch sollte sie sich mit dem Anstrich von Wissenschaftlichkeit auf bibelbasierte aporetische Entscheidungsfindungen zur Akzeptanz homosexueller Lebensformen einlassen.
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
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- Hartmann, Elke, 1998, Art. Homosexualität, in: DNP V, 703–707
- Hoheisel, Karl, 1994, Art. Homosexualität, in: RAC XVI, 289–364
- Liddel, Henry G./Scott, Robert, 19969, A Greek-English Lexicon, Oxford
- Otto, Eckart, 2000, Art. Homosexualität, II. Biblisch, in: RGG4 III, 1884
2. Kommentare
- Merkel, Helmut, 1991, Die Pastoralbriefe, NTD 9/1, Göttingen, 18–20
- Schrage, Wolfgang, 1991, Der erste Brief an die Korinther, EKK VII/1, Neukirchen, 425–436
- Wilckens, Ulrich, 1978, Der Brief an die Römer, EKK VI/1, Neukirchen, 94–121
3. Weitere Literatur
- Boswell, John, 1980, Christianity, Social Tolerance and Homosexuality. Gay People in Western Europe from the Beginning of the Christian Era to the Fourteenth Century, Chicago/London
- Dover, Kenneth J., 1983, Homosexualität in der griechischen Antike, München
- Frey, Jörg, 2006, Das Judentum des Paulus, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, UTB 2767, Tübingen/Basel, 5–43
- Hays. Richard, 1998, Homosexualität: Die ethische Sicht des Neuen Testaments, in: R. Hilliard/W. Gasser, Homosexualität verstehen 2, Zürich/Tamm, 30–46
- Haacker, Klaus, 1994, Exegetische Gesichtspunkte zum Thema Homosexualität, in: Theol. Beiträge 25, 173–180
- Hasitschka, Martin, 1998, Homosexualität – eine Frage der Schöpfungsordnung, in: ZNT 2, 54–60
- Hergemöller, Bernd-Ulrich, 1999, Einführung in die Historiographie der Homosexualitäten, Historische Einführungen 5, Tübingen
- Gielen, Marlis, 2009, »Der Leib aber ist nicht für die Unzucht …« (1Kor 6,13
). Möglichkeiten und Grenzen heutiger Rezeption sexualethischer Aussagen des Paulus aus exegetischer Perspektive, in: dies., Paulus im Gespräch – Themen paulinischer Theologie, BWANT 186, Stuttgart, 223–246 - MacGregor, Kirk, 2009, Is 1 Corinthians 11:2–16 a Prohibition of Homosexuality?, in: Bibliotheca Sacra 166, 201–216
- Martin, Andreas, 2000/1, 1 Kor 6,9f – Nichts über schwule Christen?!, in: Schwule Werkstatt, Tübingen, 19-29
- Obermayer, Hans Peter, 1998, Martial und der Diskurs über männliche »Homosexualität«, Classica Monacensia 18, Tübingen
- Porsch, Hedwig, 2008, Sexualmoralische Verstehensbedingungen. Gleichgeschlechtliche PartnerInnenschaften im Diskurs, Stuttgart
- Punt, Jeremy, 2007, Romans 1:18–32 admidst the gay-debate: Interpretative options, in: HTS 63/3, 965–982
- Römer, Thomas, 2008, Homosexualität in der Hebräischen Bibel?, in: Michaela Bauks/Kathrin Liess/Peter Riede (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5), Neukirchen, 435–454
- Scholz, Stefan, 2012/1, Das Lernbuch. Ein textethisches Plädoyer, in: Korrespondenzblatt, hrsg. v. Pfarrer- und Pfarrerinnenverein in der ELKB, 2–6
- Scroggs, Robin, 1983, The New Testament and Homosexuality. Contextural Background for Contempory Debate, Philadelphia 1983
- Stegemann, Wolfgang, 1993, Keine ewige Wahrheit. Die Beurteilung der Homosexualität bei Paulus, in: B. Kittelberger u.a., Was auf dem Spiel steht. Diskussionsbeiträge zu Homosexualität und Kirche, München, 262–285
- Stegemann, Wolfgang, 1998, Homosexualität – ein modernes Konzept, in: ZNT 2, 61–68
- Tiedemann, Holger, 1998, Die Erfahrung des Fleisches. Paulus und die Last der Lust, Stuttgart
- Veyne, Paul, 1992, Homosexualität im antiken Rom, in: Philippe Ariès/André Béjin (Hg.), Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, Frankfurt-Main, 40–50
- Winterer, Angelika, 2005, Verkehrte Sexualität – ein umstrittenes Pauluswort. Eine exegetische Studie zu Röm 1,26f
. in der Argumentationsstruktur des Römerbriefes und im kulturhistorisch-sozialgeschichtlichen Kontext, Europäische Hochschulschriften: Reihe 23 (Theologie) Bd. 810, Frankfurt-Main - Wischmeyer, Oda, 2012, Kanon und Hermeneutik in Zeiten der Dekonstuktion, in: Eve-Marie Becker/Stefan Scholz (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, Berlin/Boston, 623–678
- Zimmermann, Ruben, 2013, Körperlichkeit, Leiblichkeit, Sexualität, in: F. W. Horn (Hg.), Handbuch Paulus, Tübingen (im Erscheinen)
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