Judenchristentum
(erstellt: Oktober 2015)
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Judenchristentum ist ein wissenschaftssprachlicher Sammelbegriff für vielfältige Gruppen von jesusgläubigen Juden bzw. Christen mit jüdischer Prägung in der Antike (1.-5. Jh.). In unterschiedlicher Breite wird der Terminus einerseits für Positionen und Phänomene innerhalb des Neuen Testaments und andererseits für Gruppierungen im antiken Christentum des 2.-5. Jh.s verwendet. Prägend für die wissenschaftliche Erforschung des Urchristentums war F. Ch. Baurs Entwicklungsmodell, in dem das ‚Judenchristentum‘ als Gegensatz zum Paulinismus angesehen wurde, so dass die Entstehung der ‚katholischen Kirche‘ aus der Überwindung dieses Gegensatzes im 2. Jh. verstanden wurde. ‚Judenchristentum‘ fungiert sodann als Sammelbegriff für unterschiedliche in antiken Quellen erwähnte Gruppen (Ebionäer / Ebioniten, Nazoräer / Nazarener, Taufsekten wie die → Elchasaiten
1. Definition
Die Termini „Judenchristentum“ und „judenchristlich“ sind in der Antike nicht belegt, sie wurden im englischen Deismus eingeführt, mit unterschiedlichen Konnotationen: einerseits für ein ursprüngliches, noch undogmatisches Christentum (John Toland, später spricht Lessing von ‚Nazarenern‘), andererseits für eine Glaubensweise, die im Gegensatz zu der (auch für Jesus und Paulus vorausgesetzten) „natürlichen Religion“ stehe (Thomas Morgan).
Dies zeigt, wie der Sprachgebrauch von Anfang an von dogmatischen Interessen bestimmt ist. In der deutschen Bibelwissenschaft wurde der Terminus von den einen nur für ‚→ häretische
Offen ist, aufgrund welcher Merkmale Texte oder Gruppen als judenchristlich zu klassifizieren sind. Antike Zeugnisse nennen Aspekte der ethnischen → Abstammung
a) Ethnisch bestimmt sind „Judenchristen“ „Christen aus den Juden“, d.h. jüdischer Abstammung (vgl. Gal 2,12
b) Doktrinal oder häresiologisch wird „judenchristlich“ durch spezifische (evtl. heterodoxe) Lehren bestimmt. Doch bleibt unklar, welche Aspekte kriteriale Bedeutung haben können. Nicht alle als judenchristlich beschriebenen Gruppen lehnten die → jungfräuliche Empfängnis
c) Nach einer pragmatischen Definition wird judenchristlich dadurch definiert, dass Jesusanhänger (die Jesus zumindest messianische Bedeutung zusprechen) Grundelemente jüdischer Lebensweise wie → Beschneidung
d) Es empfiehlt sich eher eine kumulative Definition, die von einem Grundbestand jüdischer Observanz (die bei Christen jüdischer Abkunft wie bei Konvertiten aus dem → Heidentum
Manche Forscher (z.B. Boyarin) stellen in Frage, ob das Attributs „christlich“ / „Christen“ / „Christentum“ für Jesusanhänger vor der Ausbildung dogmatischer Lehrsysteme im 4. Jh. überhaupt angemessen sei und sprechen deshalb nur von „jüdischen Jesusgläubigen“ (Skarsaune / Hvalvik) oder „jüdischen Wegen der Jesusnachfolge“ (Broadhead).
2. Quellen
Zeugnisse jüdischer Formen der Jesusnachfolge begegnen zuerst im → Neuen Testament
Zeugnisse jüdischer Jesusnachfolge finden sich im NT in der älteren Jesustradition, insbesondere der → Logienquelle
Spuren judenchristlicher Überlieferung finden sich darüber hinaus in der neutestamentlichen Textüberlieferung (vor allem zum Matthäusevangelium) und in Teilen der verzweigten Diatessaron-Überlieferung wie überhaupt der syrischen Überlieferung. Hinzu kommen andere frühchristliche Werken wie z.B. die → Oden Salomos
Neben den Informationen diverser Kirchenschriftsteller (→ Justin
Auch die rabbinische Literatur enthält noch verdeckte und z.T. polemische Hinweise auf judenchristliche Gruppen, die dort nozerim genannt werden (Alexander, Skarsaune / Hvalvik, 659-709), ebenso die mittelalterlich-jüdischen Toledot Jeschu (Horbury, in Tomson / Lambers-Petry, 280-286), weiter haben sich judenchristliche Traditionen noch bei frühislamischen arabischen Schriftstellern erhalten. Die Verweise auf judenchristliche Evangelien aus dem lateinischen Mittelalter dürften hingegen vor allem auf Hieronymus basieren und nicht mehr eine eigene Kenntnis judenchristlicher Gruppen und Texte belegen.
Zu verweisen ist schließlich auf archäologische Indizien (Graffiti, Kreuz- oder Christussymbole, Inschriften, Ossuare), die nach dem Willen ihrer Ausgräber die lokale und soziale Kontinuität des Judenchristentums im palästinisch-syrischen Raum und damit die Überlieferung ‚heiliger Orte‘ z.B. in Jerusalem, Kafarnaum, Nazareth oder Bethanien belegen sollen, doch ist deren Auswertung aus methodologischen Gründen unsicher (Strange, in Skarsaune / Hvalvik, 710-741; Broadhead 301-351).
3. Geschichtliche Schlaglichter
Eine Geschichte des Judenchristentums lässt sich nicht schreiben, weil die Kohärenz des in vielen Einzelgruppen begegnenden Judenchristentums und die Kontinuität durch die Zeiten angesichts der fragmentarischen Quellenlage nicht zu belegen ist. Die Quellenlage spiegelt umgekehrt den Vorgang, dass in der kirchlichen Überlieferung (zumindest im Westen bzw. in der römisch-byzantinischen Reichskirche) jüdische Jesusnachfolger und judenchristliche Positionen zunehmend verdrängt oder wegen christologisch abweichender Haltungen verketzert wurden, was dann auch den Verlust vieler Quellen implizierte. Nur im Osten, in der syrischen, arabischen oder dann äthiopischen Tradition haben sich jüdische Elemente eher erhalten.
3.1. Jesus und die Urgemeinde
Jüdische Formen der Jesusnachfolge wurzeln in Jesus von Nazareth, dessen Einbettung in das palästinische Judentum in der neueren Jesusforschung (Third Quest) deutlicher als früher gesehen wurde. Vor allem die Texte von → Qumran
Die ersten Gemeinden von Jesusnachfolgern bestanden aus geborenen Juden aus Galiläa oder Jerusalem, die in der jüdischen Tradition und den Schriften (meist hebräisch, z.T. auch in griechischer Sprache) verwurzelt waren und sich durch das Bekenntnis zu Jesus als Messias von anderen Juden unterschieden. Das Selbstverständnis der Jerusalemer Urgemeinde ist aus den Traditionen der Apostelgeschichte und den verstreut überlieferten Selbstbezeichnungen wie „der Weg“ (Apg 9,2
Wie im übrigen Judentum in Palästina und noch mehr der → Diaspora
Hinsichtlich seiner Herkunft und seiner bleibend jüdischen Identität ist auch der Heidenapostel als „Judenchrist“ anzusehen, obwohl die ältere Forschung ihn stets in Entgegensetzung zum Judentum sah. Die Differenzen zwischen Paulus, den Jerusalemern um Jakobus und anderen Juden um das Verständnis der Tora angesichts des Evangeliums und die Möglichkeit des Einschlusses von Heiden in die Heilsgemeinde sind noch als innerjüdische Diskurse zu bewerten. Richtig ist, dass Paulus den jüdischen Gliedern der von ihm bestimmten Gemeinden eine erhebliche Relativierung der jüdischen Praxis der Abgrenzung abverlangte (vgl 1Kor 9,20-22
3.2. Das Judenchristentum in Jerusalem
Das stärkste Interesse an der Bewahrung jüdischer Identität lässt sich in den Gemeinden in Palästina und vor allem in Jerusalem erkennen, was auch angesichts der angespannten politischen Lage vor dem → Jüdischen Krieg
Sofern es Gemeinden in Galiläa gab (wie man evtl. aus der Logienquelle erschließen kann), dürften diese ebenfalls die jüdische Identität ungebrochen bewahrt haben. Nach einer häufig bestrittenen, aber in ihrer Substanz kaum nur fiktiven Überlieferung (Euseb, HistEccles III 5,3; Epiphanius, Mens 15) soll die Jerusalemer Gemeinde angesichts der zunehmenden politischen und religiösen Spannung vor dem Jahr 70 ins Ostjordanland nach Pella geflohen sein. Unsicher ist, ob Teile später noch einmal zurückkehrten, doch teilt Euseb eine Liste von 15 Jerusalemer Bischöfen mit (HisEccles IV 5,3). Doch scheinen bis zum Bar-Kochba-Aufstand Mitglieder der Jesus-Familie im palästinischen Judenchristentum noch Einfluss gehabt zu haben. Für den Aufstand unter Bar Kochba wird die Verfolgung von (sicher jüdischen) Christen bezeugt, die Jesus nicht verleugnen wollten (Justin, Apol I 31,6; Euseb, HistEccles IV 6,1). Erst als nach 135 Jerusalem bzw. Aelia Capitolina für Juden und Judenchristen zur verbotenen Stadt wurde, endete die Geschichte des Judenchristentums in Jerusalem. Hauptverbreitungsgebiet von Judenchristen war fortan das Ostjordanland und der syrische Raum (s. Euseb, Onom 172,1-3; Epiphanius, Panar XXX 2,8 zu Kochaba, später Hieronymus, VirIll 3 zu Beröa = Aleppo), doch war das Judenchristentum zeitweise in der ganzen mediterranen Welt von Südarabien bis Rom verbreitet.
3.3. Notizen bei Kirchenschriftstellern und Häresiologen
→ Ignatius
Justin (Dial 47) bezeugt um 160 eine Vielzahl von Spielarten judenchristlicher Lehre, die zwar von der Mehrheit der großkirchlichen Christen abgelehnt würden, deren Anhänger aber am Heil teilhaben könnten, sofern sie nicht die Gesetzesobservanz für alle für verbindlich erklärten.
→ Irenäus von Lyon
Hippolyt von Rom (um 190) setzt in seiner Ketzerbestreitung die Notizen des Irenäus voraus, führt aber die Herkunft der Sekte fälschlicherweise auf einen Urheber namens ‚Ebion‘ zurück.
→ Origenes
Euseb übernimmt im Wesentlichen die Aussagen von Origenes und Hippolyt, erwähnt aber zusätzlich, dass die Ebioniten neben dem Sabbat auch den Sonntag feiern. In seinem Onomastikon lokalisiert er diese in Choba / Kochaba (ein Ortsname, der vielleicht auf den ‚Stern aus Jakob‘ Num 24,17
Epiphanius schreibt in seinem ‚Arzneikästchen gegen alle Häretiker‘ (Panarion) ausführlich über die judenchristlichen Gruppen der Kerinthianer (c. 28), Nazoräer (c. 29) und Ebionäer (c. 30). Er erwähnt als erster die „Nazoräer“ als judenchristliche Sekte, wobei er auch Aussagen, die vorher über andere Gruppen gemacht worden waren, auf sie überträgt, so dass seine Vertrauenswürdigkeit gelegentlich anzuzweifeln ist. Er nimmt auch erstmals die Unterscheidung von ‚orthodoxen‘ Nazoräern und christologisch abweichenden Ebionäern vor. Glaubwürdig aber ist seine Lokalisierung der Gruppe in Beroea (= Aleppo), die auch Hieronymus bezeugt (Pan XXIX 7,7; vgl. Hieronymus, VirIll 3,1). Nach Epiphanius lesen die Nazoräer das AT auf Hebräisch und das Evangelium nach Matthäus in ursprünglicher Gestalt in hebräischer Schrift (wobei er die problematische Notiz des Papias von einem ursprünglich hebräisch verfassten Mt [Euseb, HistEccles III 39,16] aufnimmt, wie schon vor ihm Irenäus, Origenes und Euseb). Ob dieses Werk die „Stammbäume“, d.h. die mt Vorgeschichten enthielt, lässt Epiphanius jedoch offen, d.h. er hat das Buch selbst wohl nicht gesehen und die Information eher aus zweiter Hand. Über die Ebionäer sagt Epiphanius, diese benutzten nur das Mt, das sie „nach den Hebräern“ genannt hätten (dabei kombiniert er zwei Notizen aus Irenäus und Euseb). Hier zitiert er aus einer ihm vorliegenden Evangelienschrift (=> Ebionäerevangelium), wobei er den Ebionäern Verfälschung vorwirft: Sie hätten die Stammbäume weggeschnitten und mehrere Stellen im Sinne eines (im Judenchristentum verbreiteten) Vegetarismus bzw. Fleischverzichts korrigiert.
Hieronymus ist der zweite Autor, der die Nazoräer erwähnt, freilich nur, wenn er Varianten oder Fragmente aus der ihnen zugeschriebenen judenchristlichen Schrift zitiert (wobei er faktisch wohl mehrere unterschiedliche Werke verwechselt). Sein Interesse an der hebräischen Tradition speist sich aus der Bevorzugung der Hebraica Veritas, und so hat er zu einem gewissen Grad Hebräisch gelernt, Kontakte mit Juden und Judenchristen unterhalten und aus deren Schrift(en) abweichende Lesarten und Auslegungen zitiert (→ Hebräerevangelium
Noch → Augustinus
3.4. Das Judenchristentum der Pseudoklementinen
Besondere Erwähnung verdient noch eine Quelle, deren Auswertung besonders komplex ist: Die Pseudoklementinen sind ein Klemens von Rom (um 100) zugeschriebener Wiedererkennungsroman, dessen zwei Versionen (Homilien und Recognitionen) im 4. Jh. in Syrien anzusetzen sind. Aus ihnen rekonstruiert die Forschung eine Grundschrift aus dem frühen 3. Jh. (Periodoi Petrou), in der Petrus in Auseinandersetzung mit Markioniten eine judenchristliche Version des Christentums (Antipaulinismus, Waschungen, Speiseregeln) lehrt. Dieser Schrift liegen ihrerseits wohl Quellenschriften zugrunde, die im 2. Jh. angesetzt werden, die Anabathmoi Iakobou (in Ps-ClemRec I 33-71), eine judenchristliche Antiapostelgeschichte, in der ein „feindlicher Mensch“ auftritt, der das Volk aufhetzt und Jakobus von den Stufen des Tempels stürzt – eine polemische Reminiszenz auf Paulus. Als zweite Quelle werden meist die Kerygmata Petrou angesehen, in denen Petrus die Auseinandersetzung mit Paulus führt, der in der Grundschrift dann mit → Simon Magus
3.5. Weitere Gruppierungen
Neben den genannten Gruppen der Ebioniten und Nazoräer, die sich freilich kaum als konsistente Gruppen erweisen lassen, weil die Notizen der Häresiologen allzu sehr differieren, ist noch auf judenchristliche Taufsekten zu verweisen, so vor allem die ab dem 2. Jh. belegten Elkesaiten am Oberlauf des Euphrat (von denen Hippolyt von Rom [um 230] und Epiphanius berichten), die ihrerseits die Lehre des Manichäismus und vielleicht auch des Mandäismus beeinflusst haben dürften.
4. Die Verdrängung des Judenchristentums
Das Judenchristentum erfuhr die Verdrängung und Häretisierung durch die Großkirche, aber aufgrund der rabbinischen Erneuerung des Judentums nach dem Jahr 70 wurden jüdische Jesusnachfolger auch nach und nach aus dem nun stärker normativ entwickelten Judentum verdrängt. Die Überlieferung über die Erweiterung der sogenannten Birkat-ha-Minim, des ‚Ketzersegens‘ in der 12. Bitte des → Achtzehn-Bitten-Gebets
Literaturverzeichnis
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