Jülicher, Adolf
(erstellt: Juni 2010)
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1. Leben
Adolf Jülicher, bedeutender protestantischer Bibelwissenschaftler und Kirchenhistoriker des 19. / 20. Jahrhunderts, wurde am 26. Januar 1857 in Falkenberg bei Berlin geboren. Aufgewachsen in einer erwecklich-lutherisch geprägten Familie, machte der Hochbegabte 1875 Abitur, um an der Berliner Universität Evangelische Theologie u.a. bei A. Dillmann, O. Pfleiderer und B. Weiss zu studieren. 1879 / 80 promovierte er im Alten Testament mit einer literar¬kritischen Untersuchung über Ex 1-24,11
Aufgrund einer Verletzung durch einen Eisenbahnunfall, der seine Gehfähigkeit neben einem Geburtsfehler zusätzlich erschwerte, erwarb A. Jülicher erst 1886 den Grad eines Lizenziaten der Theologie mit der ihn in der Neutestamentlichen Wissenschaft berühmt machenden Arbeit zu den → Gleichnissen Jesu
1897 lehnte A. Jülicher einen Ruf nach Heidelberg ab. Als Rektor der Universität Marburg wie als mehrmaliger Dekan der Theologischen Fakultät setzte er sich kritisch mit der Berufungspolitik des preußischen Kultusministeriums auseinander und ergriff als evangelischer Republikaner Partei in strittigen Fragen der Kirchen- wie der allgemeinen Politik. Nicht zuletzt aufgrund seines angegriffenen Gesundheitszustands und der Beschwernisse des Alters ließ er sich 1923 emeritieren. Durch den Neuaufbruch der Dialektischen Theologie, die seiner Ansicht nach dem Antihistorismus Vorschub leistete, wähnte er sich zudem in einer akademischen Situation, die für ihn als Vertreter der Liberalen Theologie keinen Platz mehr hatte.
A. Jülicher, Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften wie der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, widmete sich fortan der Rekonstruktion der Itala, der altlateinischen Übersetzung der Bibel, und arbeitete an der von Th. Mommsen begonnenen Prosopografie des Römischen Reiches mit. Selbst als er 1925 überraschend erblindete, setzte er mit Hilfe von Mitarbeitern seine wissenschaftliche Arbeit fort. A. Jülicher starb am 2. August 1938 in Marburg.
2. Werk und Wirkung
A. Jülicher, der zahlreiche, überaus kundige und zugleich kritische kirchengeschichtliche Rezensionen und eine Vielzahl von Lexikonartikeln, u.a. in Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, verfasste (s. Bibliografie Klauck) und dessen lesbare Einleitung zu den Schriften des Neuen Testaments zum Lehrbuch für Generationen von Studierenden werden sollte, errang seinen Ruhm als großartiger Vertreter der historisch-kritischen Arbeitsweise mit seinem zweiteiligen Werk über „Die Gleichnisreden Jesu“ (1899, 2 Tle. in einem Bd.; 1. Tl. in 2. Aufl.). Es machte ihn zum Begründer der kritischen, weil mit methodischer Disziplin und literarischem Verständnis an den Evangelientexten arbeitenden historischen Gleichnisexegese (s. Mell [Hg.]):
Der erste, allgemeine Teil formuliert A. Jülichers dreifaches Anliegen: Um zu zeigen, dass eine allegorische Auslegung der Gleichnisse Jesu ein methodischer Irrweg ist, unterscheidet er in historischer Hinsicht zwischen den ehemals mündlich vorgetragenen Gleichnisreden von Jesus von Nazaret und ihrer späteren interpretativen Verschriftlichung in den kanonischen Evangelienschriften der Kirche. Zugleich führt er eine Methodik der Gleichnisauslegung vor, die die Gleichnisse als rhetorische Meisterwerke Jesu zu analysieren und zu verstehen und von der sekundären, poetischen Interpretation der Evangelisten zu unterscheiden hilft und gibt abschließend eine luzide Besprechung der Forschungsgeschichte (s. O. Merk), die Jesu Gleichnissen in Exegese und Theologie bislang widerfahren war.
Im zweiten Teil unternimmt A. Jülicher es, die gesamten Gleichnistexte in den Synoptischen Evangelien (sic!) eben unter Zugrundelegung seiner Auslegungsprinzipien zu exegesieren und interpretieren.
A. Jülichers literarischer Kampf gegen die willkürliche, allegorische Gleichnisauslegung, die mit einer Auslegungswahrheit hinter den Gleichnistexten rechnet, führte er als Liberaler Theologe mit einem Bild vom schlichten, aber genialen Rhetor Jesus von Nazaret, dessen sittliche Sachanliegen im Gleichnis in eigentlicher Rede zur Geltung kommen. Als Grundbaustein des Gleichnisses als eines rhetorischen Beweismittel des Herzens nahm er die Vergleichung an: Das Gleichnis ist „die Veranschaulichung eines Satzes durch Nebenstellung eines andern ähnlichen Satzes“ (Gleichnisreden 1,69). Er behauptete, dass es zwischen Bild- und Sachhälfte nur einen Vergleichspunkt gibt: „Das Gleichnis will, wie die Vergleichung ein Wort, so einen Gedanken durch ein ὅμοιον beleuchten, daher man auch bei ihm nur von einem tertium comparationis redet, nicht von mehreren tertia“ (1,70). Schließlich lassen sich Gleichnisse hinsichtlich der Form (1) in den kurzen treffenden Vergleich unterteilen, (2) in das erzählerische Gleichnis im engeren Sinn, dessen Bild „der jedermann zugänglichen Wirklichkeit entnommen“ ist (1,93), sowie (3) in erzählerische Fabeln / Parabeln im engeren Sinn, die einen ungewöhnlichen, aber in der Wirklichkeit denkbaren Fall vortragen (vgl. 1,100f). Darüber hinaus gibt es (4) die Beispielerzählung, deren Geschichte „ein Beispiel des zu behauptenden Satzes“ ist (1,112), die aber nur in Lk 10,30-37
In der Sichtweise der späteren Evangelisten, deren schriftstellerisches Anliegen die kirchliche Verkündigung war, verwandelten sich die überlieferten Gleichnisreden Jesu jedoch in dichterische Metaphern, die der ausdeutenden Wahrheit unterliegen: Versteht A. Jülicher unter der Metapher „ein Wort, das durch ein andres ihm ähnliches ersetzt werden muss, damit der Leser den Zusammenhang, in dem er die Metapher findet, ganz erfasse“ (Gleichnisreden 1,52), so sind „nach der Theorie der Evangelisten … die παραβολαίι, Allegorien, also uneigentliche, gewissermassen der Uebersetzung bedürftige Rede“ (1,49) geworden. Hinzukommt, dass die Evangelisten unter dem Eindruck der überaus großen Ehrerbietung gegenüber den Worten des Sohnes Gottes eine „allegorisierende Redaktion“ der Jesus-Gleichnisse durchführten (1,190), um aus ehemaligen Jesus-Gleichnissen Allegorien mit einem tieferen Sinn zu machen. Es begann mit den Evangelien die allegorisierende Überinterpretation der Gleichnisse Jesu als „weisheitstriefende Worte“ (1,193), bis hin zur Verrätselung in der späteren kirchlichen wie vorwissenschaftlichen Exegese.
Nimmt A. Jülicher mit seinem literaturhistorischen Programm, die Gleichnisrede Jesu von der Metaphernrede der Evangelisten abzusetzen, Einsichten der (→) Form- und → Redaktionsgeschichtlichen
A. Jülichers Engagement, Gleichnisse der Evangelien als Äußerungen Jesu zu interpretieren, gehört heute zu den Grundeinsichten der → Historischen Jesusforschung
Gehört es zu A. Jülichers unabweislichen hermeneutischen Verdiensten, das Gleichnis als verstehbaren Text rehabilitiert zu haben, so geschieht neutestamentliche Gleichnisauslegung zumeist in Anknüpfung und / oder Absetzung von A. Jülichers Einsichten. Eine Überwindung der auf Aristoteles’ Sprachtheorie zurückgehenden Metapherntheorie der Substitution des fremden Bildes durch den eigentlichen Begriff gelang jedoch erst der Literaturwissenschaft in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts (s. Kurz): Danach ist die Metapher als ein außergewöhnlicher, aber sinnvoller Wortgebrauch begrifflich nur um den Preis des Verlustes an Bedeutung ersetzbar. Eine Metapher zu verstehen, bedeutet sie interpretativ auf ihren sprachlichen Kontext zu beziehen (sog. Interaktionstheorie). A. Jülichers Großtat, alle Synoptischen Gleichnisse zu interpretieren, wurde erst 2007 durch ein Gemeinschaftswerk von Autoren (s. Zimmermann [Hg.]) wiederholt, das zugleich auch eine Interpretation aller urchristlichen Gleichnisse unternahm.
Literaturverzeichnis
1. Literatur von A. Jülicher
- 1928, [Selbstdarstellung], in: Stange, E. (Hg.), Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig, 158-200
- 1913, Die Entmündigung einer preußischen theologischen Fakultät im zeitgeschichtlichen Zusammenhang, Tübingen
- 1976, Die Gleichnisreden Jesu, 2 Teile, Tübingen, 2. Aufl. 1899 (1. Teil Tübingen 1886; 2. Teil Tübingen 1899); zuletzt: fotomech. Nachdr. des 2. unveränd. Abdrucks Tübingen 1910, Tübingen
- 1880, Die Quellen von Exodus I – VII,7. Ein Beitrag zur Hexateuchfrage, Halle-Wittenberg
- 1906, Die Religion Jesu und die Anfänge des Christentums bis zum Nicaenum, in: Hinneberg, P. (Hg.), Die Kultur der Gegenwart Bd. I / 4,1, Berlin u.a., 41–128, zuletzt: Berlin u.a., 3. Aufl. 1922 (mit Nachträgen)
- 1894, Einleitung in das Neue Testament, GThW 3 / 1, Freiburg; zuletzt: Tübingen, 7. mit Fascher, E. neubearb. Aufl. 1931
- 1906, Neue Linien in der Kritik der evangelischen Überlieferung (Vorträge des Hessischen und Nassauischen theologischen Ferienkurses 3), Gießen
- 1907, Paulus und Jesus (RV 1 / 14), Tübingen
- 1911, (Hg. mit Bauer, W.), Holtzmann, H. J., Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie 2 Bde., Sammlung Theologischer Lehrbücher, Tübingen, 2. neu bearb. Aufl.
- 1938, (Hg.), Itala. Das Neue Testament in altlateinischer Überlieferung nach den Handschriften 4 Bde., durchges. und zum Druck besorgt von Matzkow, W. und Aland, K., Bd. 1 + 2 Berlin 1938 + 1940; Bd. 3 + 4 Berlin 1954 + 1963; Bd. 1-3 Berlin, 2. verb. Aufl. 1970-1976
- 1895, (Hg.), Vincenz von Lerinum: Commonitorium. Pro Catholicae fidei antiquitate et universitate adversus profanas omnium haereticorum novitates, Freiburg / Leipzig, zuletzt: Tübingen, 2. durchges. Aufl. 1925 (unveränd. Nachdr. Frankfurt 1968)
2. Literatur über und zu A. Jülicher
- Alkier, St., 1999, Die „Gleichnisreden Jesu“ als „Meisterwerke volkstümlicher Beredsamkeit“. Beobachtungen zur Aristotelesrezeption Adolf Jülichers, in: Mell, U. (Hg.), Die Gleichnisreden Jesu 1899–1999. Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher (BZNW 103), Berlin / New York, 39-74
- Erlemann, K., 1999, Adolf Jülicher in der Gleichnisforschung des 20. Jahrhunderts, in: Mell, U. (Hg.), Die Gleichnisreden Jesu 1899–1999. Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher (BZNW 103), Berlin / New York, 5-37
- Harnisch, W., 42001, Die Gleichniserzählungen Jesu, Göttingen
- Jüngel, E., 61986, Paulus und Jesus. Eine Untersuchung zur Präzisierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie (HUTh 2), Tübingen
- Kaiser, J.-Chr., 1999, Adolf Jülicher als Zeitgenosse. Eine biographische Skizze, in: Mell, U. (Hg.), Die Gleichnisreden Jesu 1899–1999. Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher (BZNW 103), Berlin / New York, 257-286
- Klauck, H.-J., 1980, Adolf Jülicher – Leben, Werk und Wirkung, in: Schwaiger, G. (Hg.), Historische Kritik in der Theologie. Beiträge zu ihrer Geschichte (SThGG 32), Göttingen, 99-150 (Bibliogr.)
- Klauck, H.-J., 21986, Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnistexten (NTA N.F. 13), Münster
- Klemm, H.G., 1969, Die Gleichnisauslegung Ad. Jülichers im Bannkreis der Fabeltheorie Lessings, ZNW 60, 153-174
- Kurz, G., 62009, Metapher, Allegorie, Symbol (kleine Vandenhoeck-Reihe), Göttingen
- Mell, U., 1999, Die Publikationsgeschichte von Adolf Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, in: Mell, U. (Hg.), Die Gleichnisreden Jesu 1899–1999. Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher (BZNW 103), Berlin / New York, 1-3
- Merk, O., 2008, Forschungsgeschichte im Werk Adolf Jülichers, in: Kessler, M. / Wallraff, M. (Hg.), Biblische Theologie und historisches Denken. Wissenschaftsgeschichtliche Studien. Aus Anlass der 50. Wiederkehr der Basler Promotion von Rudolf Smend (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel N.F. 5), Basel, 314-334
- Via, D.O., 1970, Die Gleichnisse Jesu (BEvTh 57), München
- Weder, H., 41990, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern (FRLANT 120), Göttingen
- Zimmermann, R. (Hg.), 2007, Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh
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