Kant, Immanuel
(erstellt: Mai 2014)
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1. Die Bibel im Werk Immanuel Kants
1.1. Überblick
Biblische, insbesondere neutestamentliche Motive durchziehen das Werk Immanuel Kants. Bereits in der vorkritischen Phase zeigt Kant Interesse für die Frage nach dem ewigen Leben („Träume eines Geistersehers“, 1764). Und berühren biblische Motive weiter schon die Entwicklung der theoretischen Philosophie seiner kritischen Phase, die sich neben der Beantwortung der Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was soll ich thun?“ auch eine Auskunft über die Frage „Was darf ich hoffen?“ zum Ziel setzte („Kritik der reinen Vernunft“, 1781; „Prolegomena“, 1783), so sind sie von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis seiner praktischen Philosophie („Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, 1785; „Kritik der praktischen Vernunft“, 1788; „Metaphysik der Sitten“, 1797).
In systematischem Zusammenhang werden die Bezugnahmen auf die Bibel in der Schrift zur „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) dargestellt. Die Frage nach dem nicht eindeutig geklärten Verhältnis von praktischer und Religionsphilosophie führt schließlich zu der Notwendigkeit, die universitäts- und wissenschaftspolitische Dimension des Umgangs mit der Bibel ebenfalls zu bedenken. „Der Streit der Fakultäten“ (1798) gibt davon Zeugnis und enthält zentral Ausführungen zu Kants bibelhermeneutischen Prinzipien sowie zum Verhältnis von Religionsphilosophie und Theologie.
Es ist umstritten, ob die Religion und damit auch die biblischen Motive ungeachtet ihrer werkgeschichtlichen Kontinuität und zunehmenden Zentralität im Denken Kants eine in systematischer Hinsicht konstitutive Funktion für seine Philosophie haben.
1.2. Kants Bibel
Kants eigenes Bibelexemplar, eine Lutherübersetzung von 1751, ist seit 1945 verschollen. Eine Dokumentation der 32 Randbemerkungen und mehr als 500 Unterstreichungen ist jedoch erhalten und einsehbar (Borkowski). Kants Handexemplar gibt nur in Kombination mit den innerhalb seiner Einzelwerke zitierten Bibelstellen tatsächlichen Aufschluss über seine Hermeneutik. Gleichwohl zeigt bereits die Verteilung der Markierungen deutliche Zugriffstendenzen an: Im AT sind nahezu ausschließlich in Gen Unterstreichungen und Kommentare angebracht; im NT hauptsächlich in den Evangelien, Apg und Röm sowie 1.Kor. Auf dem Vorsatzblatt findet sich ein Überblick über die Zeitrechnung in Gen (u.a.).
1.3. Biblische Motive
Die Rede von „biblischen Motiven“ im Werk Kants muss berücksichtigen, dass für seine Rezeption das Interesse leitend ist, diese in ihrer philosophischen Bedeutung geltend zu machen. Grundlegend gilt dabei, dass Kant die biblischen Motive vor dem Hintergrund der dogmatischen Systematisierungen der protestantischen Orthodoxie einer moralphilosophischen Reinterpretation zuführt, die auch seine historisch-kritischen Einlassungen prägt. Allerdings überschreitet er moralische Interpretation und Kritik in Richtung einer funktionalen (und damit affirmativen) Bestimmung auch der nicht i.e.S. moralisch interpretierbaren religiösen Traditionsbildung.
2. Einzelne biblische Motive bei Kant
Die Darstellung einzelner biblischer Motive im Werk Kants kann nicht von deren Systematisierung im Spätwerk ausgehen, sondern muss deren werkgeschichtliche Kontinuität berücksichtigen. Dabei bietet sich die Orientierung an den genannten dogmatischen Gliederungsvorgaben an.
2.1. Gotteslehre
In der KrV gilt Gott als „Ideal der reinen Vernunft“ (AA III, 390), das dann in der KpV als praktisches Postulat mit den Prädikaten „der heilige Gesetzgeber (und Schöpfer), der gütige Regierer (und Erhalter) und der gerechte Richter“ (AA V, 139, Anm.) in den Begründungszusammenhang der Moralphilosophie eingeführt wird. In der „Religion“ als „oberster Gesetzgeber“ und zugleich als „moralische[r] Weltherrscher“ verstanden, der als „Herzenskündiger“ (AA VI, 99) zugleich dem „Gerichtshof […] im Inneren des Menschen“ (AA VI, 439), d.h. dem Gewissen, vorsitzt. Religion ist demnach „das Erkenntniß aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“ (AA VI, 153).
2.2. Schöpfungslehre
Gott ist für Kant nach der KpV auch „Schöpfer“ (AA V, 139, Anm.). Die moral- und geschichtsphilosophische Interpretation der Schöpfungsberichte mitsamt der Lehre von Ur- bzw. Erbsünde bestimmt den wirkmächtigen Aufsatz „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ (1786) (vgl. Sommer). Ansätze zu einer kosmologischen Interpretation des Schöpfungsgedankens finden sich in der „Kritik der Urteilskraft“ (1790).
2.3. Christologie
Zentral in Kants Rezeption biblischer Motive ist die Figur Jesu bzw. Christi, die er bereits in der GMS als der „Heilige des Evangelii“ (AA IV, 408) einführt. In der KpV wird die Predigt Jesus im sog. Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe verdichtet und selbst als Darstellung des „Urbild[s]“ oder „Ideal[s] der Heiligkeit“ (AA V, 83) angesprochen. Neben der Aneignung Jesu als „moralischer Lehrer“ (AA VII, 53, pass.) steht bei Kant die Vorstellung Jesu selbst als „Urbild[] der sittlichen Gesinnung“ (AA VI, 61). In der „Religion“ werden diese Aspekte zusammengeführt und zur „Darstellung“ einer Person verdichtet, die als historisches Individuum und sittlicher Lehrer zugleich das vernunftimmanente „Ideal eines Gott wohlgefälligen Menschen“ (AA VI, 129) anschaulich realisiert.
2.4. Sündenlehre / Anthropologie
Kants Religionsschrift setzt mit der in GMS und KpV vorbereiteten Beobachtung ein, dass der Realisierung vernunftgemäßer Moralität offenbar die Hemmnis durch individuelle Neigungen entgegensteht, die Kant hier auf das Prinzip des „radikalen Bösen in der menschlichen Natur“ zurückführt, welches dem Menschen „angeboren“ (AA VI, 21) sei. Dieser „Hang“ (AA VI, 37) müsse als Resultat einer unvordenklichen, „intelligibele[n] Tat“ (AA VI, 31) verstanden werden. Ob Kant hier tatsächlich eine konstitutive Funktion der Erbsündenlehre für die Moralphilosophie behauptet, ist umstritten.
2.5. Ekklesiologie
Die Lehre von der Kirche wird von Kant in doppelter Weise durch den Rückgriff auf die Bibel formuliert – einerseits als „sichtbare Vorstellung (das Schema) eines unsichtbaren Reichs Gottes auf Erden“ (AA VI, 131) oder auch als „Volk Gottes“ (AA VI, 99). Andererseits wird diese Vorstellung kritisch auf die empirische Kirche angewendet.
2.6. Eschatologie
Eschatologische Motive finden sich bereits in Kants Interpretation Gottes als endzeitlichen gerechten Richters. Wesentlicher ist aber seine Vorstellung einer endzeitlichen Rekompensation des moralischen (aber dadurch nicht unbedingt immer erfreulichen) Lebenswandels, die sich als eine der „Sittlichkeit angemessene Glückseligkeit“ (AA V, 124) bereits gegenwärtig partiell realisieren kann. Die Abhandlung „Das Ende aller Dinge“ (1794) führt diese Gedanken unter Rückgriff auf die Religionsschrift systematisch zusammen und nimmt zentral auch biblisch-apokalyptische Motive (etwa die „Vorzeichen des jüngsten Tages“, AA VIII, 331) auf.
3. Bibelhermeneutische Prinzipien
Kants Publikation der “Religion”, der die separate Veröffentlichung des Ersten Stücks, “Über das radikale Böse” (1792), sowie, ein Jahr vorher, der Aufsatz “Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee” (1791) vorausgegangen waren, sorgte für einige Furore. Kant geriet wegen religions- bzw. bekenntnisgefährdender Behauptungen in den Fokus der preußischen Zensur und sah sich gezwungen, dem Häresievorwurf u.a. durch die Offenlegung seiner bibelhermeneutischen Prinzipien sowie der Klarstellung ihres Geltungsanspruchs zu begegnen. Zu diesem Zweck unterschied Kant vier Arten der Schriftauslegung (vgl. Kaiser; Scheliha): 1. Die theologische Auslegung „nach statuarischen Grundsätzen“ und mit der „Scharfsinnigkeit der Schriftgelehrten“ (AA VII, 61); 2. Die historisch-philologische Hermeneutik, die „zu wissen verlangt, was der heilige Verfasser mit seinen Worten für einen Sinn verbunden haben mag“ (AA VII, 67); 3. Eine von einem bloßen „innere[n] Gefühl“ (AA VI, 113) geleitete divinatorische Auslegung; 4. Diejenige „doktrinale“ philosophische Auslegung, die dem Interpreten erlaubt, „der Schriftstelle […] denjenigen Sinn unterzulegen, den sie in moralisch-praktischer Absicht […] annimmt“ (AA VII, 67). Es ist der letztgenannte Typ, den Kant für die religions- und moralphilosophische Interpretation der Bibel geltend machen will, der andererseits weder die theologische noch die historische Interpretation grundsätzlich in Frage stellen, wohl aber in ihrem Geltungsbereich einschränken soll. Zusammengenommen stellt die Bibel für Kant ein historisches Dokument dar, das eine “lebendige Darstellung” (AA VI, 132) vernünftig-moralischer Ideen enthält. Als solches ist es eine “heilige[] Urkunde” (AA VIII, 109) nur insofern, als es für die Ausbildung eines moralischen Bewusstseins von illustrativer und motivationaler Bedeutung ist. Diese Vorstellung korreliert mit Kants Bestimmung der historischen Religion als “Vehikel für den reinen Religionsglauben” (AA VI, 118).
Literaturverzeichnis
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