Deutsche Bibelgesellschaft

Liturgie / Liturgische Texte im NT

(erstellt: Oktober 2013; letzte Änderung: Dezember 2015)

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1. Problematik

Die Anfänge des christlichen Gottesdienstes liegen weitgehend im Dunkel der Geschichte. Für die erste, formative Phase fehlt es schlicht an verwertbaren Quellen. Verstreute Hinweise finden sich bei einigen Vätern der Frühzeit (Fendt, 17-58). Doch zusammenhängende liturgische Formulare tauchen erst ab der Mitte des 4. Jhs. auf. Umso intensiver hat sich die liturgiegeschichtliche Forschung deshalb dem Neuen Testament zugewandt - in der Erwartung, hier den Ausgangspunkt aller gottesdienstlichen Entwicklungen sowie einen Grundbestand liturgischer Formeln und Texte zu finden.

Es ist das große Verdienst der älteren Formgeschichte, mit der Wahrnehmung “kleiner Einheiten” und ihrer soziokulturellen Verankerung auch den Blick für liturgische Texte bzw. Textbausteine geschärft zu haben. Namentlich Martin Dibelius machte dabei den Gottesdienst als den maßgeblichen “Sitz im Leben” für eine ganze Reihe von Textsorten aus. Zudem beflügelte die Suche nach liturgiegeschichtlich verwertbarem Material die Hypothesenfreudigkeit bei der Analyse der relevanten Texte. Entsprechend umfangreich und weitreichend stellten sich dann auch die Ergebnisse dar: Liturgisches Material ermittelte man in den hymnischen Texten der Briefliteratur oder der lkn. Geburtsgeschichten, im himmlischen Gottesdienst der → Offenbarung des Johannes, in zahlreichen Gebetsrufen und Segensformeln, in der Bekenntnistradition oder im Abendmahlsgeschehen. Als besonders dankbar erwies sich in dieser Hinsicht der → Epheserbrief (Schille). Im → ersten Petrusbrief entdeckte man sogar eine komplette Taufliturgie (Perdelwitz, 1911) und sah darin schließlich das älteste Dokument eines christlichen Gottesdienstes überhaupt.

Methodisch war dafür vor allem die Annahme leitend, dass in den Schriften des Neuen Testaments zahlreiche Versatzstücke des frühchristlichen Gottesdienstes gleichsam zitatweise aufbewahrt worden seien. Hymnische Texte verstand man als Relikte einer liturgischen Tradition, geringfügig angepasst und einem neuen literarischen Kontext dienstbar gemacht. Die Autoren hätten demnach, beeinflusst durch ihre gottesdienstliche Erfahrung, immer wieder auf geprägtes, ihren Adressaten nicht weniger bekanntes liturgisches Gut zurückgegriffen. Somit ließe sich am Ende eine Art Bausatz frühchristlicher liturgischer Stücke und Formen rekonstruieren.

Diesem formgeschichtlichen Optimismus begegnet die jüngere Diskussion mit berechtigter Skepsis. Gegenüber einer Isolierung einzelner Textabschnitte und ihrer hypothetischen Zuordnung zu vorausliegenden Verwendungssituationen tritt heute sehr viel stärker die Bindung solcher Stücke an den jeweiligen literarischen Kontext in den Blick. Der “Hymnus” in Phil 2,6-11 etwa muss nicht zwangsläufig ein liturgisches Vorleben aufweisen; er kann sehr wohl auch von → Paulus selbst ganz bewusst für den argumentativen Zusammenhang in Phil 2 erst entworfen sein. Dafür spricht, dass die antike Literatur das literarische Mittel des “Stilwechsels” sehr wohl kennt und wirksam einzusetzen versteht. Diesen Umschwung in der Bewertung gerade der hymnischen Passagen haben vor allem die Arbeiten von G. Kennel (1995) und R. Brucker (1997) eingeleitet. Eine solche Sichtweise wirkt sich indessen auch auf alle anderen bislang unhinterfragt als liturgische Stücke verstandenen Textpassagen aus.

2. Gottesdienst im Neuen Testament

Die frühe Christenheit hat von Anfang an ein eigenständiges gottesdienstliches Leben entwickelt, das am ersten Tag der Woche ( 1Kor 16,2; Apg 20,7; Apk 1,10; Did 14,1) vor allem den Impuls der Osterbotschaft aufnimmt. Über Abläufe und Einzelheiten ist jedoch nur wenig bekannt. Auch das Neue Testament liefert hier nur vereinzelte Schlaglichter.

Deutlich erkennbar steht der Synagogengottesdienst an der Wiege der christlichen gottesdienstlichen Versammlung. Von ihm übernimmt sie vor allem die Infrastruktur: Der Gottesdienst ist in privaten Räumen in einer Sphäre der Profanität beheimatet; seine Durchführung liegt in der Verantwortung ehrenamtlicher Funktionsträger; sehr wahrscheinlich findet er im wöchentlichen Rhythmus statt (allein Apg 2,46 assoziiert ein tägliches Beisammensein). Alles andere bleibt offen, denn auch über die Gestaltung des Synagogengottesdienstes vor 70 ist so gut wie nichts bekannt. Mit Sicherheit kann man nur sagen: Es gab Schriftlesung, Auslegung und Gebete (Claußen). Ob es auch schon eine feste Leseordnung gab, wie die Auslegung gestaltet war und welche Formen von Gebet man praktizierte, lässt sich nicht mehr ermitteln. Wertvolle Momentaufnahmen liefern Lk 4,16-20 (Synagogengottesdienst in Nazaret) und Apg 13,14-16 (Synagogengottesdienst im pisidischen Antiochien). Entscheidend ist die ausschließliche Konzentration auf ein Wortgeschehen.

Dennoch gibt es verschiedene Hinweise, die den christlichen Gottesdienst der Anfangszeit zumindest in Umrissen erkennen lassen (Wick). Wie schon in der Synagoge trägt der Versammlungscharakter den Ton ( 1Kor 11,17.18.20.33.34; 1Kor 14,23.26; Hebr 10,25; Jak 2,2). Apg 2,42.46 liefert eine summarische Zusammenfassung von “Handlungsfeldern”: Lehre der Apostel, Gemeinschaft, Brotbrechen, Gebete. Zur Bezeichnung des Geschehens gibt es noch keine feste Terminologie; erst vom 2. Jh. an avanciert “λειτουργία / leiturgia” (vgl. schon Röm 15,16) zu einer Art Zentralbegriff. Den wichtigsten Textzusammenhang bietet 1Kor 11-14, in dem Paulus eine Reihe von Gottesdienstproblemen behandelt (Balode). Hier lassen sich Verkündigung, freies und gebundenes Gebet sowie die → Abendmahlsfeier als konstitutive Elemente erkennen. Alle anderen Andeutungen (z.B. Apg 20,7-12) bleiben Fragment. Das betrifft auch die liturgische Gestaltung der → Taufe (Avemarie). Was die Offenbarung des Johannes an Elementen einer himmlischen Liturgie aufzubieten hat, speist sich möglicherweise aus gottesdienstlichen Erfahrungen, bleibt aber primär mit dem jeweiligen literarischen Kontext verbunden.

3. Texte mit liturgischer Qualität

In den Schriften des Neuen Testaments finden sich zahlreiche Passagen wie Gebete, Hymnen, Doxologien oder Formeln, wie sie auch aus späteren liturgischen Formularen seit dem 4. Jh. bekannt sind. Ob man jedoch diesen Passagen schon eine liturgische Vorgeschichte zuschreiben kann, bleibt in jedem einzelnen Fall zu prüfen. Mit Sicherheit wird man lediglich sagen können, dass es sich dabei um Texte mit “liturgischer Qualität” handelt, die auch über ihren literarischen Kontext hinaus in anderen Zusammenhängen wirksam zu werden vermögen. Namentlich für die sogenannten “Hymnen” verlagert sich deshalb die Frage nach liturgischen Vorformen hin zu der Frage nach ihrer Rezeption in der christlichen Hymnodik.

3.1. Gebete

Die frühe Christenheit erbt von der jüdischen Glaubenspraxis eine reiche Gebetstradition. In der Tempelliturgie ( Jes 56,7 “mein Haus soll ein Bethaus sein”) wie auch in der Synagoge (die anfangs noch “ προσευχή / proseuchē/ Gebetshaus” heißt) hat sie das Beten gelernt, wobei vor allem der Psalter als eine Art Gebetbuch fungiert (Ådna; Moyise / Menken). Immer wieder werden Gebetssituationen erzählerisch gestaltet oder paränetisch reflektiert. Namentlich Lukas stellt Jesus als ein Vorbild im Beten dar. Über das liturgische Gebet erfährt man jedoch nur wenig. Dass es nach dem Vorbild der Synagoge einen festen Platz im Gottesdienst hatte, steht außer Frage. Das einzige, dafür aber um so gewichtigere Gebet mit einem fixiertem Wortlaut ist das → “Vaterunser” bzw. das “Gebet des Herrn”.

  • Lk 11,2-4 / Mt 6,9-13: Lukas bietet eine kürzere, vermutlich ältere Fassung.
  • Did 8,1-3: Die Fassung der Didache steht näher bei dem Wortlaut des Matthäus.

Lukas und Matthäus gestalten die Vorlage der → Logienquelle eigenständig aus, wobei gerade in der volltönenden Doxologie bei Matthäus (“Denn dein ist das Reich …”) die liturgische Praxis schon ihren Niederschlag gefunden haben dürfte. Beide Evangelisten fügen zudem das Gebet Jesu an hervorgehobener Stelle (Mt: → Bergpredigt / Lk: Weg nach Jerusalem) in einen kleinen “Gebetskatechismus” ein (Mt 6,1-15 / Lk 11,1-13), der die Einübung “richtigen” Betens zum Ziel hat. Die Ausgangsfrage der Jünger Jesu in Lk 11,1 (“Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte.”) signalisiert, dass ein bestimmtes Gebet oder eine bestimmte Art zu beten als Ausdruck von Gruppenidentität gilt. Vom 2. Jh. an steht das Vaterunser dann als fester Bestandteil der Abendmahlsfeier (bzw. der “Liturgie der Gläubigen” im Unterschied zur “Liturgie der Katechumenen”) zeitweise sogar unter Arkandisziplin.

Die wenigen Wortlaute von Gebeten, die darüber hinaus überliefert sind (z.B. Apg 1,24-25: Gebet beim Losverfahren zur Nachwahl des Matthias; Apg 4,23-30: Gemeindegebet), bleiben ausschließlich auf die spezifische narrative Situation bezogen.

Unter den → Psalmen, die im Gottesdienst gebetet werden (1Kor 14,15.26; Kol 3,16; Eph 5,19), sind sicher auch - wenngleich nicht ausschließlich - die vertrauten Texte des atl. Psalters zu verstehen. Kurze, traditionell geprägte Gebetsworte wie in der Parabel von → Pharisäer und → Zöllner (Lk 18,9-14) könnten ebenfalls eingeführte, verbreitete Gebetsformulare widerspiegeln.

Im Neuen Testament lässt sich lediglich ein starker Impuls für das gottesdienstliche Beten erkennen. Seine Ausgestaltung bleibt der späteren liturgischen Entwicklung vorbehalten.

3.2. Texte hymnischen Charakters

Zu den stilistischen Mitteln, deren sich die Autoren des Neuen Testaments bedienen, gehört auch die Form “hymnischer Sprache”. Mit dieser Bezeichnung ist jedoch zugleich ein Definitionsproblem gegeben: Seit langem schon wird die Textsorte des “Hymnus” sowohl hinsichtlich des atl. Psalters als auch hinsichtlich der Fülle griechisch-hellenistischer Kulttexte diskutiert und dabei kontrovers bestimmt (Vollenweider). Unbestritten bleibt, dass “hymnische Texte” durch ein bestimmtes Arsenal sprachlicher Elemente grundsätzlich von Prosatexten unterschieden werden können. Dazu zählen vor allem: metrische Struktur, strophische Gliederung, Partizipialstil oder formalhafte Wendungen in den Rahmenteilen. Inhaltlich können als konstitutiv gelten: die Anrede der zu rühmenden Gottheit, die (Selbst-) Aufforderung zum Gotteslob, die Beschreibung der göttlichen Taten sowie Übergänge zu verschiedenen Formen des Gebetes.

Ob der Begriff des “Hymnus” hier tatsächlich als Sammelbegriff taugt oder nicht besser von Fall zu Fall durch spezifischere Termini wie Enkomion, Psalm, Wegelied, Schöpfungsmittler-Inthronisationslied u.ä. ersetzt werden sollte, bleibt fraglich. Wichtig ist, dass “hymnische Passagen” bereits durch ihre Stilform eine besondere Bedeutung anzeigen. Unabhängig davon, ob sie von Haus aus für eine kultisch-liturgische Verwendung verfasst worden sind, eignen sie sich aufgrund ihrer Form in besonderer Weise für eine liturgische Rezeption.

3.2.1. Hymnische Passagen in der Briefliteratur

In der paulinischen Tradition finden sich einige markante Textabschnitte, die trotz enger sachlicher Bezüge nach Form und Inhalt deutlich von ihrem Kontext unterschieden sind. Der Stilwechsel hin zu hymnischen Sprachformen markiert dabei eine neue Ebene theologischer Reflexion, die auf Verallgemeinerung und Konsensfähigkeit hin angelegt ist. Die bedeutendsten Texte sind die folgenden:

  • Phil 2,6-11: Selbstentäußerung und Auszeichnung Jesu Christi mit dem Kyrios-Namen - Präexistenzvorstellung - Schema von Erniedrigung und Erhöhung
  • Kol 1,15-20: Gottes Sohn als Erstgeborener vor der Schöpfung und als Erstgeborener aus den Toten - Präexistenzvorstellung - Schema von Schöpfung und Erlösung
  • 1Tim 3,16: Jesus Christus in dieser Welt und in Gottes Welt - Niedrigkeit und Hoheit als Geheimnis der Frömmigkeit

Alle drei Texte entfalten Christologie, wobei die strophische Gliederung ein hohes Maß an dichterischer Gestaltungskraft verrät. In ihrem jeweiligen Kontext erfüllen sie eine klare Funktion: Phil 2,6-11 stellt Christus als Vorbild dar, “durch Demut einander höher zu achten als sich selbst”; Kol 1,15-20 präsentiert den Sohn als denjenigen, der alle Mächte und Gewalten weit übertrifft; 1Tim 3,16 bietet eine Art christologische Konsensformel für das Leben im “Haus Gottes”, der Kirche. Insofern sind sie primär Teil eines literarischen Kontextes. Sie eignen sich jedoch auch, um als verdichtete Kurzfassungen christologischer Grundwahrheiten isoliert und sekundär verwendet zu werden - auch wenn das Neue Testament darüber keine weitere Auskunft gibt.

Das Johannesevangelium setzt mit einem Prolog ein, der in hymnischer Sprache die geschichtliche und vorgeschichtliche Verankerung der Geschichte Jesu Christi einfängt:

  • Joh 1,1-18: der Logos Gottes wird Fleisch / Mensch - Johannes zeugt von ihm - Schema von Abstieg und Aufstieg, Menschwerdung und Verherrlichung

Trotz seiner formalen Eigenständigkeit bleibt dieser hymnische Prolog besonders eng mit dem Text des gesamten Evangeliums verquickt. Die gehobene Sprache ist weniger Ausdruck liturgischer Affinitäten als Kennzeichen christologischer Akzentsetzung.

Im Blick auf die Adresse hymnischer Passagen unterscheidet man in der formgeschichtlichen Diskussion die beiden Bereiche von “Gotteshymnen” und “Christushymnen” (Deichgräber), denen sich etwa die folgenden Texte zuordnen lassen:

Die Vielfalt der formalen Merkmale, die sich dabei beobachten lässt, rät zur Vorsicht gegenüber präziseren Bestimmungen.

3.2.2. Lukas und die „Cantica"

Der Evangelist Lukas hat in seine Geburtsgeschichten ( Lk 1-2) vier hymnische Passagen eingefügt, die man zusammenfassend als “Cantica” bezeichnet und nach ihren jeweiligen lateinischen Textanfängen benennt.

  • Lk 1,46-55: Magnifikat - Lobgesang der Maria
  • Lk 1,68-79: Benediktus - Lobgesang des Zacharias
  • Lk 2,14: Gloria - Lobgesang der Engel auf den Hirtenfeldern
  • Lk 2,29-32: Nunc dimittis - Lobgesang des Simeon im Tempel

In diesen hymnischen Passagen reflektiert der Evangelist die Christologie seiner Erzählung noch einmal auf einer anderen Ebene (Mittmann-Richert), so wie das Matthäus an entsprechender Stelle mit seinen “Erfüllungszitaten” tut. Im vorliegenden Kontext handelt es sich damit um sehr bewusst konzipierte christologische Texte. Ob sie bereits eine liturgische Vorgeschichte hatten (was vor allem für Magnifikat und Benediktus immer wieder diskutiert worden ist), bleibt fraglich. Klar erkennbar ist indessen ihre liturgische Nachgeschichte, die schon früh beginnt und bis heute in die Tagzeitengebete verschiedener Konfessionen führt.

Am Beginn jener bemerkenswerten Rezeptionsgeschichte der lkn. Cantica steht auch die als “Buch der Oden” bekannte Sammlung biblischer “Hymnen” aus AT und NT, wie sie vom 5. Jh. an in zahlreichen griech. Handschriften dem biblischen Psalter hinzugefügt wird. Unter den “Oden” sind die lkn. Cantica als einzige ntl. Texte zwischen weiteren atl. und apokryphen Gebetstexten enthalten. Die modernen LXX-Editionen haben die “Oden” in ihren Bestand aufgenommen; dementsprechend finden sie sich auch leicht zugänglich in der Septuaginta Deutsch (2009). Zu den “Oden” zählt man die folgenden Stücke:

1. Lied nach der Rettung am Schilfmeer ( Ex 15,1-19)

2. Moselied ( Dtn 32,1-43)

3. Lobgesang der Hannah ( 1Kön 2,1-10)

4. Gebet des Habakuk ( Hab 3,2-19)

5. Gebet des Jesaja ( Jes 26,9-20)

6. Gebet des Jona ( Jona 2,3-10)

7. Gebet des Azarja (AddDan 3,26-45)

8. Gebet der drei Jünglinge im Feuerofen (AddDan 3,52-88)

9. Magnifikat / Loblied der Maria und Benediktus / Loblied des Zacharis ( Lk 1,46-55.68-79)

10. Weinbergslied ( Jes 5,1-9)

11. Gebet des Hiskia ( Jes 38,10-20)

12. Gebet des Manasse (apokrypher Gebetstext)

13. Nunc Dimittis / Gebet des Simeon ( Lk 2,29-32)

14. Gloria in Excelsis Deo ( Lk 2,14 - fortgeschrieben und auf insgesamt 46 Zeilen erweitert)

3.2.3. Hymnische Passagen in der Offenbarung

Die Offenbarung des Johannes entwirft in den Visionen des Sehers das Bild eines vielgestaltigen liturgischen Dienstes vor dem Thron Gottes. Damit steht sie in der Tradition atl. Texte wie Jes 6 oder Ez 1. Zentrum dieser himmlischen Liturgie ist der “Thron Gottes und des Lammes”, vor dem die vier Gestalten, die 24 Ältesten sowie verschiedene Engelsgestalten als Akteure in Erscheinung treten. Lange Zeit hat man darüber diskutiert, ob dieses “hymnische Evangelium” letztlich nur eine Projektion gottesdienstlicher Erfahrungen aus den christlichen Gemeinden des westlichen Kleinasien sei und somit Rückschlüsse auf deren liturgische Entwicklung gegen Ende des 1. Jhs. gestatte. Im Ergebnis ist man sich heute weitgehend einig: Die zahlreichen hymnischen Passagen haben eine feste, nachvollziehbare Funktion im Aufbau des Makrotextes und sind von ihrem Autor selbst mit prophetischer Kraft gestaltet worden. Dass sie bei dem Lesepublikum der Offenbarung dennoch Assoziationen zu vertrauten liturgischen Formeln (wie z.B. Halleluja, Amen, Sanctus, Doxologien usw.) wecken konnten, steht auf einem anderen Blatt.

  • Apk 4,8: Sanctus - “Heilig, heilig, heilig ist der Herr …”
  • Apk 4,11: Gotteshymnus - “Würdig bist du, Herr unser Gott, zu nehmen …”
  • Apk 5,9-10: Christushymnus - “Würdig bist du, das Buch zu empfangen …”
  • Apk 5,12: Christushymnus - “Würdig ist das geschlachtete Lamm …”
  • Apk 5,13: Doxologie - “Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm Lob und Ehre …”
  • Apk 11,17-18: Dankgebet der 24 Ältesten
  • Apk 15,3-4: Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes
  • Apk 19,1-8: Hymnisches Finale / himmlisches Halleluja in fünf Abschnitten: 1. Hymnus der Vollendeten (1-2), 2. Bestätigung durch die Vollendeten (3), 3. Bekräftigung durch die 24 Ältesten und die vier Wesen (4), 4. Aufforderung zum Lobpreis vom Thron her (5), 5. Hymnus der irdischen Heilsgemeinde (7-8). - Diese Passagen stehen auch untereinander in einem engen textlichen Zusammenhang. Eine in sich geschlossene Konzeption präsentiert die Thronsaalvision in Apk 4-5 (die sich an Jes 6 orientiert); zu dem Dankgebet der 24 Ältesten in Apk 11 treten in Apk 15 die Überwinder hinzu; in Apk 19 schließlich stimmen alle Beteiligten in einen Lobpreis ein, der den Sieg über die gegengöttlichen Mächte feiert und in kumulativer, überbordender Weise die Herrschaft Gottes thematisiert.

3.3. Doxologien

Doxologien sind stereotyp formulierte Sätze, die der Gottheit die ihr gebührende Würde attestieren. Formal sind sie mit anderen Heilszuschreibungen wie etwa dem Friedensgruß oder dem Chariswunsch verwandt (Berger, Formgeschichte). Ihr Name leitet sich ab von der “Herrlichkeit bzw. Ehre (δὀξα / Doxa)” als einer der herausragenden Würdebezeichnungen Gottes. Im liturgischen Kontext folgen Doxologien einem festen Schema, das freilich in allen seinen einzelnen Bestandteilen variieren kann:

  • Nomen (Doxa) + Adressat im Dativ + Ewigkeitsformel + Amen
  • Beispiel Röm 11,36: “Ihm (Gott) sei Ehre in Ewigkeit! Amen!”

Das Amen hatte ursprünglich responsorische Funktion (so z.B. noch in Apk 5,13-14), bevor es zum festen Bestandteil des ganzen Schemas wurde. Häufig werden vor allem Gebete mit Doxologien abgeschlossen (z.B. Mt 6,13). In literarischen Zusammenhängen stehen Doxologien gern am Schluss theologisch bedeutsamer Textabschnitte.

In aller Regel wird Gott als Adressat genannt. Seine “Ehre / Doxa / Kabod” ist bereits in atl.-jüd. Tradition ein etablierter Topos. Gelegentlich werden damit aber auch Christus oder wie in der Offenbarung des Johannes Gott und das Lamm adressiert.

In dieser wechselnden Zuschreibung deutet sich bereits das Problem der Gebetsadresse an (Lohfink), das zu einem der Impulsgeber für die im 2./3. Jh. einsetzende Diskussion um das christologische Dogma wird.

3.4. Liturgische Formeln

Eingebettet in Textzusammenhänge ganz unterschiedlicher Art finden sich immer wieder kurze Elemente der Gebetssprache, die als geläufige liturgische Formeln zu identifizieren sind. Auch wenn sie in ihren jeweiligen Kontexten literarische Funktionen erfüllen, assoziieren sie ganz bewusst das gottesdienstliche Geschehen. Das liegt schon allein deshalb nahe, weil hier hebr. bzw. aram. Worte in griech. Transkription erscheinen. Vermutlich haben diese Formeln ihren angestammten Ort noch in der Gebetssprache der hebräischsprachigen Gemeinde der ersten Generation in Jerusalem und Judäa.

3.4.1. Amen

Das griech. “ἀμήν” transkribiert das hebr. “אמן / Amen”. Dabei handelt es sich im Sinne von “אמן / fest, zuverlässig” um einen formelhaften Ausdruck der Bekräftigung oder Bestätigung. In AT und frühem Judentum ist das responsorische “Amen” liturgisch bereits fest verankert und wird von der frühen Christenheit in dieser Funktion übernommen.

Unter den ntl. Texten lassen vor allem die Briefe und die Offenbarung verschiedene liturgische Verwendungsweisen des responsorischen Amen erkennen:

In zwei Textzusammenhängen gewinnt die “Amen-Formel” christologische Qualität, wofür ihr grundlegend responsorischer Charakter den entscheidenden Haftpunkt darstellt:

  • 2Kor 1,20: “Denn wie viele Verheißungen Gottes es auch gibt - in ihm (Christus) ist das Ja. Deshalb sprechen wir auch durch ihn das Amen, zur Verherrlichung Gottes durch uns.”
  • Apk 3,14 (Sendschreiben nach Laodizäa): “Das sagt, der das ‘Amen’ heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes (also: Christus).”

Von dieser responsorischen Form unterscheidet sich das vorangestellte “Amen”, mit dem bei den → Synoptikern zahlreiche Jesus-Logien beginnen (49x). Darin wird ein besonderer Geltungsanspruch hörbar, der die Gültigkeit des Wortes bereits im Vorhinein bekräftigt (Berger, Amenworte); die für Johannes charakteristische Doppelung “Amen, amen, ich sage euch …” (25x) verstärkt diese Funktion noch einmal.

3.4.2. Abba / Vater

Das griech. “αββα / abba” transkripiert das aram. “אבא / abba”. Um diesen Vokativ der Gebetsanrede hat es eine lange Diskussion gegeben (Jeremias; Schelbert). Weil darin der vertrauliche Ton familiärer Beziehung anklingt, kommt der Vokativ “Abba” in aram. Gebeten auch nur äußerst selten vor. Hier zeigt sich gerade das Besondere dieser von Jesus im “Vater unser” favorisierten und daran anschließend popularisierten Gebetsanrede. Dennoch sollte das Verständnis von “Abba” nicht zu “Pappi” oder “daddy” banalisiert werden. Der Ton liegt darauf, Gott als den gütigen und liebevollen Vater vertrauensvoll anzurufen.

  • Gal 4,6: “… den Geist seines Sohnes, der schreit: Abba! Vater!”
  • Röm 8,15: “… den Geist der Sohnschaft, durch den wir rufen: Abba! Vater!”
  • Mk 14,36 (Gethsemane): “Abba, Vater, alles ist dir möglich!”
  • Lk 11,2 / Mt 6,9 (Vater unser): “Vater (πάτερ / pater) …”

Auch im Hintergrund der Anrede im Vaterunser steht ohne Frage das aram. “Abba”. Aufgrund der zentralen Bedeutung, die das “Gebet des Herrn” in der frühen Christenheit gewinnt, wird “Vater” deshalb relativ schnell zu der dominierenden Gottesprädikation (Zimmermann). Vor diesem Hintergrund bleibt auch das aram. “Abba” noch für einige Zeit in Gebrauch, bevor es allmählich wieder aus der Liturgiesprache verschwindet.

3.4.3. Maranatha

Das griech. “μαραναθα / maranatha” transkripiert das aram. “מרנאתא / maranatha” und bedeutet, je nach Worttrennung (griech.) oder Vokalisierung (hebr.), 1. “Unser Herr, komm!” oder 2. “Unser Herr ist gekommen!” Der Ruf in Apk 22,20 bietet lediglich eine Übersetzung ohne Transkription; dadurch wird jedoch das Verständnis im Sinne eines Imperativs gesichert.

  • 1Kor 16,22 (Briefschluss): “Maranatha!”
  • Did 10,6 (Abendmahl): “Maran atha (μαρὰν ἀθά). Amen.”
  • Apk 22,20 (Buchschluss): “Amen ja, komm Herr Jesus!”

In diesem Gebetsruf kommt die gespannte → Parusienaherwartung der frühen Christenheit (vgl. etwa 1Kor 7,29.31) zum Ausdruck. Liturgische Relevanz hat sie auch in der Abendmahlsfeier, durch die der Tod des Herrn verkündigt wird, “bis er kommt” (1Kor 11,26). In der späteren Liturgiesprache spielt diese Wendung keine Rolle mehr.

3.4.4. Halleluja

Das griech. “ ἁλληλουϊά / hallēluia” transkripiert das hebr. “הללו־יה”. Dieser Aufruf “Lobt JHWH!” ist in der Gebetssprache des Psalters längst zu einer festen Formel erstarrt, mit der vorzugsweise hymnische Texte abgeschlossen werden. Für die christliche Liturgiesprache ist das Halleluja in Apk 19 der älteste, im NT zugleich auch der einzige Beleg.

  • Apk 19,1.3.4.6: Halleluja als Gliederungselement einer “himmlischen Liturgie”

Immer wieder hat man gefragt, ob dieses Halleluja dem Autor von seiner gottesdienstlichen Erfahrung her in die Feder geflossen sein könnte. Einen Beleg gibt es für diese Vermutung nicht. Wenig später ist das Halleluja dann jedoch in der christlichen Liturgiesprache nahezu allgegenwärtig und avanciert zu einer der verbreitesten Formeln.

3.4.5. Hosianna

Das griech. “ὡσαννά / Osanna” transkripiert die hebr. Bitte “ הוֹשִיעָה נָא / hoschia na” aus Ps 118,25: “Hilf doch!” Sie geht in die christliche wie jüdische Liturgiesprache indessen als Akklamation ein, die den Charakter der Bitte zunehmend verliert und zum Freudenruf wird. Einen starken Impuls stellt dafür die Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem dar, in der das “Hosianna” als jubelnde Begrüßung für den Herrscher / Messias / Davidssohn fungiert.

  • Mk 11,9-10 / Mt 21,9 / Joh 12,13 (Akklamation beim Einzug Jesu in Jerusalem): “Hosianna dem Sohn Davids, gepriesen sei, der kommt im Namen des Herrn, Hosianna in den Höhen!” (Mt 21,9)
  • Mt 21,15 (Geschrei der Kinder im Tempel): “Hosianna dem Sohn Davids!”
  • Did 10,6 (im Kontext der Abendmahlsfeier): “Hosianna dem Sohn Davids!”

In der biblischen Überlieferung bleibt dieser Ruf marginal; seine Karriere beginnt erst in der frühchristlichen Liturgie. Ob sich ein solcher liturgischer Gebrauch (wie in Did 10,6) auch schon in der Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem spiegelt, bleibt fraglich.

3.4.6. Weckruf

Der kurze, imperativische Dreizeiler im Epheserbrief wird durch eine Zitateinleitung (“Deshalb heißt es: …”) ausdrücklich als bekannt vorausgesetzt und gekennzeichnet.

  • Eph 5,14: “Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten, so wird Christus dir aufleuchten!”

Zu dieser Form des Weckrufs gibt es zahlreiche Analogien aus → Qumran, → Gnosis und → Mysterienfrömmigkeit. Im Falle des Epheserbriefs ist die Annahme wahrscheinlich, dass es sich um ein Fragment aus der Taufliturgie handelt, das nun in einen neuen, paränetischen Kontext gestellt ist (Schnackenburg, 232).

3.5. Liturgische Gesten

Sparsam, an einigen Stellen jedoch auch mit erheblichem theologischen Gewicht versehen, lassen sich einige Gesten erkennen, in denen sich liturgische Vollzüge widerspiegeln. Sie beziehen sich vor allem auf die Feier des Abendmahls, die Gebetspraxis oder alle mit einer Handauflegung verbundenen Rituale (wie Segnungen im Kontext von Taufe und Ordination).

3.5.1. Heiliger Kuss

Auffällig ist die stereotype Aufforderung, einander mit dem “heiligen Kuss” bez. dem “Kuss der Liebe / Agape” zu grüßen. Sie findet sich vorzugsweise gegen Ende einiger Paulus-Briefe. Könnte es sein, dass damit der Übergang von der gottesdienstlichen Verlesung des Apostelbriefes zur gemeindlichen Abendmahlsfeier signalisiert werden soll? Immerhin hat es einige Wahrscheinlichkeit für sich, in diesem Kuss den Ursprung jenes in späterer Zeit fest etablierten “Friedenszeichens” der Abendmahlsliturgie zu sehen.

Eindeutig wird hier die soziale Dimension des Kusses betont, der als “Gruß” die positive Zuwendung, Wertschätzung sowie eine geklärte Beziehung zum Ausdruck bringt. In dieser Bedeutung hat der Kuss bereits eine lange Tradition aufzuweisen (Thraede). Im Kontext der Gemeindeversammlung scheint er dabei noch einmal eine neue, eben liturgische Funktion zu gewinnen. “Heilig” wird er deshalb genannt, weil ihn die “Heiligen” ( 1Kor 1,2; 2Kor 1,1; Röm 1,7 u.ö.) praktizieren. Als “Kuss der Agape” wird er bewusst gegen alle erotischen Konnotationen abgegrenzt.

3.5.2. Proskynese

Die Proskynese als Form kniefälliger Verehrung eines sozial Höherstehenden, die im orientalischen Hofzeremoniell zugleich einen fließenden Übergang zur Anbetung des göttlich verehrten Herrschers aufweist, ist auch in vielen kultischen Vollzügen beheimatet. Der Mensch wirft sich im Gestus der Anbetung vor der Gottheit in den Staub und bringt dadurch seine Selbstdemütigung oder Unterwerfung zum Ausdruck. Die Formen können von der Neigung des Kopfes über den Kniefall bis hin zur Berührung des Bodens mit der Stirn reichen. In kultischen Zusammenhängen wird der Begriff synonym zu “Anbetung” verwendet.

Inwiefern sich die frühe Christenheit in ihrer Gebetspraxis auch der Proskynese bedient hat, bleibt unklar. Für die Tempelliturgie wird das ausdrücklich bestätigt (leitmotivisch in Joh 4; dazu Apg 8,27; Apg 24,11). Gegenüber Christus aber besteht in den erzählenden Texten auch am Ende des 1. Jhs. noch eine gewisse Zurückhaltung. Dass die Proskynese tatsächlich die kniefällige Anbetung meint, wird an einigen Stellen durch die Doppelung “niederfallen und …” eindeutig gesagt. Weit über Markus hinaus (Mk 5,6; Mt 15,19) lässt Matthäus auf der Erzählebene immer wieder Menschen vor Jesus niederfallen und ihn anbeten (Mt 8,2; Mt 9,18; Mt 14,33; Mt 15,24; Mt 18,26; Mt 20,20; Mt 28,9.17); für die Anlage seiner Erzählung steht die göttliche Hoheit des Immanuel auch von Anfang an außer Frage. Lukas hingegen vermeidet den Terminus konsequent; in der Versuchungsgeschichte weist Jesus das entsprechende Ansinnen des Diabolos unter Verweis auf Gott vehement zurück (Lk 4,7-8 / Mt 4,9-10). Erst vor dem Auferstandenen, der sich nach Lk 24,52 im Segensgestus mit erhobenen Händen von seinen Schülern verabschiedet, vollziehen die Elf dann erstmals die Proskynese. Kornelius, der in Apg 10,25 zu einer Proskynese vor → Petrus ansetzt, wird sofort daran gehindert.

Nach 1Kor 14,25 wird der Ungläubige oder Unkundige, von der Verkündigung in der Gemeinde überführt, “auf sein Angesicht niederfallend (πεσὼν ἐπὶ πρόσωπον; pesōn epì prosōpon) Gott anbeten (προσκυνήσει; proskynēsei) und bekennen: Gott ist wahrhaftig unter euch.” Nach Hebr 1,6 vollziehen die Engel die Proskynese vor Christus als dem Erstgeborenen. Als Gebetsgestus himmlischer Liturgie wird die Proskynese dann vor allem in der Offenbarung des Johannes breit ins Bild gesetzt.

3.5.3. Handerhebung

Das Gebet mit erhobenen Händen ist ein in atl.-jüd. Tradition (z.B. Ex 9,29.33; 1Kön 8,54; Neh 8,6; Ps 28,2; Ps 63,5; Ps 77,3; Jes 1,15 u.ö.) weit verbreiteter Gebetsgestus, der Demut und Hilfeersuchen gleichermaßen sinnfällig inszeniert. Zahlreiche frühchristliche Darstellungen (etwa in der Katakombenmalerei) bestätigen diese Orantenhaltung, zu der es auch Analogien in der paganen Frömmigkeit gibt.

  • 1Tim 2,8: Die Männer sollen beim Gebet “heilige Hände ohne Zorn und Zweifel” aufheben.

Diese Anweisung zielt in ihrem Kontext weniger auf einen bestimmten, verbindlichen Gestus als primär auf die innere Haltung der Betenden.

Auch als Segensgestus sind die erhobenen Hände längst eingeführt. Sie haben ihren wichtigsten Haftpunkt im priesterlichen Segen ( Lev 9,22; Sir 50,22).

  • Lk 24,50: “Er (der Auferstandene) führte sie aber hinaus bis nach Bethanien. Und indem er die Hände aufhob (ἐπάρας τὰς χεῖρας; eparas tas cheiras), segnete er sie.”

Von beiden Gesten zu unterscheiden ist der eher offensiv erscheinende Rednergestus in Apg 26,1: Paulus verteidigt sich vor → Agrippa “mit ausgereckter Hand”.

3.5.4. Handauflegung

Das Auflegen der Hände hat im atl.-jüd. Kult als Gestus der Kraftübertragung eine lange Vorgeschichte. Zwei Bereiche sind von besonderer Bedeutung: das Ritual des großen Versöhnungstages und die Rituale von Segnung und Amtseinsetzung.

Im NT sind die Handauflegungen, die im Zusammenhang von Heilungswundern die göttliche Kraft durch den Wundertäter übermitteln (z.B. Mk 1,41 / Mt 8,3 / Lk 5,13; Mk 5,23 / Mt 9,18; Mk 6,2.5; Mk 7,32; Mk 8,23.25; Mk 16,18; Lk 4,40; Lk 13,13; Apg 5,12; Apg 6,6; Apg 14,3; Apg 19,11 u.ö.), strikt von den ritualisierten Handauflegungen im Kontext eines liturgischen Geschehens zu unterscheiden. Als liturgische Gesten kommen dabei die folgenden Formen in Betracht:

Segensgestus

Geistmitteilung bei der Übertragung einer Aufgabe

  • Apg 6,6: Einsetzung der sieben “Diakone”
  • Apg 13,13: Aussendung des Barnabas und des Paulus

Geistmitteilung bei der Ordination

  • 1Tim 4,14: “… die Gnaden in dir, die dir geben ist durch ein Prophetenwort mit dem Auflegen der Hände des Presbyteriums.”
  • 1Tim 5,22: “Die Hände lege niemandem zu schnell auf …”
  • 2Tim 1,6: “… die Gabe Gottes, die in dir ist durch das Auflegen meiner Hände.”

Geistmitteilung bei der Taufe

  • Apg 8,17: Taufen in Samarien
  • Apg 9,17: Taufe des Saulus
  • Apg 19,6: Johannesjünger in Ephesus
  • Hebr 6,2: “… mit der Lehre von den Taufen, vom Auflegen der Hände …”

Missbrauchsversuch

  • Apg 8,18-24: Simon, der Magier, will die Fähigkeit zur Geistverleihung durch Handauflegung käuflich erwerben (- daher stammt der Begriff “Simonie”).

3.6. Abendmahlsworte

Die Feier des Abendmahls stellt einen wichtigen Bestandteil des frühchristlichen Gottesdienstes dar. Dafür werden verschiedene Begriffe wie “Gemeinschaft des Blutes (bzw. Leibes) des Herrn” ( 1Kor 10,15-16), “Tisch des Herrn” (1Kor 10,21), “Mahl des Herrn” (1Kor 11,20), “Brotbrechen” (Lk 24,35; Apg 2,42) oder “Liebesmahl” (Jud 1,12) verwendet; erst vom 2. Jh. an erlangt der Begriff “Eucharistie / Danksagung” (Did 9,1) Dominanz. Hinweise auf frühchristliche Mahlfeiern finden sich in Apg 2,42-47 (Jerusalem) und Apg 20,7.11 (Troas). Die wichtigste Momentaufnahme liefert jedoch 1Kor 11,17-34. Auch das letzte Mahl Jesu im Kontext der synoptischen Passionsgeschichte (Mk 14,12-26 / Mt 26,17-30 / Lk 22,7-23.39) ist bereits im Lichte frühchristlicher Abendmahlspraxis stilisiert.

Mit den sogenannten “Einsetzungsworten” ( Mk 14,22-24 / Mt 26,26-29 / Lk 22,19-20 / 1Kor 11,23-26) wird ein fester Wortlaut überliefert, der in der regelmäßigen liturgischen Wiederholung während der Mahlfeier beheimatet ist. Nach dem synoptischen Bericht handelt es sich dabei im Kern um Deuteworte über Brot und Wein, die Jesus während des Passamahles gesprochen hat. Auch Paulus führt diese Worte in 1Kor 11,23 auf den → “Kyrios” zurück. Sie liegen in zwei Fassungen vor:

Mk 14,22-24 / Mt 26,26-29: “Das ist mein Leib. / Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird.” - Matthäus fügt dem Becherwort noch hinzu “zur Vergebung der Sünden”.

Lk 22,19-20 / 1Kor 11,23-26: “Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird. / Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut (das für euch vergossen wird).” - Lukas und Paulus fügen noch die Aufforderung “das tut zu meinem Gedächtnis” hinzu (Lukas nur beim Brotwort, Paulus bei beiden).

Alle Versuche, daraus so etwas wie den O-Ton Jesu rekonstruieren zu wollen, sind zum Scheitern verurteilt. Beide Fassungen repräsentieren in ihrem jeweiligen Bemühen um formale Parallelität zwei eigenständige Überlieferungsstränge der frühchristlichen Abendmahlsparadosis.

3.7. Bekenntnisformeln

Die ältere Formgeschichte hat in den Bekenntnisformeln der ntl. Briefliteratur die Keimzelle frühchristlicher Theologie überhaupt gesehen. Zugleich war sie mit großem Optimismus bereit, hier nahezu alles auf die Situation der Taufe zu beziehen. Die Palette an Bekenntnissituationen ist jedoch schon im NT sehr viel breiter und lässt sich nicht auf die Taufe reduzieren.

Die formgeschichtliche Klassifikation von Bekenntnisformeln hat sich lange Zeit an der Vorgabe von Röm 10,9-10 orientiert:

  • Röm 10,9-10: “Denn wenn du bekennst mit deinem Mund: ‘Kyrios ist Jesus!’ und wenn du glaubst in deinem Herzen: ‘Gott hat ihn auferweckt von den Toten!’ dann wirst du gerettet werden.”

Dementsprechend teilte man das Material ein in die beiden Grundformen der “Pistisformel” und der “Homologie”, denen sich dann weitere Untergliederungen zuordnen lassen (Vielhauer):

1. Pistisformel (=> mit dem Herzen => glauben): eingeleitet mit “ich glaube, dass …”

2. Homologie (=> mit dem Mund => anrufen): eingeleitet mit “ich bekenne, dass …”

Ob sich das Material tatsächlich so lupenrein klassifizieren lässt, bleibt weiterhin Gegenstand der Diskussion. Unübersehbar gibt es Übergänge zu anderen Textsorten: hymnische Passagen etwa, die christologische Kernaussagen enthalten, können leicht als Bekenntnistexte fungieren; die theologische Reflexion wiederum kann zu ihrer Selbstvergewisserung bekenntnishafter Formulierungen gar nicht entbehren. Liturgische Bekenntnissituationen sind da zu vermuten, wo der Auferstandene und Erhöhte im Gottesdienst gepriesen und angebetet wird. Dazu bedarf es eines Namens; jeder Name aber impliziert zwangsläufig auch ein christologisches Konzept. Insofern sind vor allem Akklamations- und Identifikationsformeln als Teil der gottesdienstlichen Gebetspraxis zu vermuten. Naheliegend ist auch, dass eine kombinierte Formel wie 1Kor 15,3b-5 in ihrer klaren, einprägsamen Struktur der wiederholten Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens von Tod und Auferstehung Jesu diente; immerhin wird sie von Paulus als überliefertes Gut eingeführt, das den Korinthern schon bekannt ist und über dessen Inhalt bei allen Gemeinden Konsens besteht (1Kor 15,1-3).

3.8. Segen

Segensformeln, verbunden mit Segensgesten (vgl. 3.5.3. und 3.5.4.), haben seit jeher ihren Ort in kultischen und liturgischen Vollzügen (siehe auch: → Segen). Sie setzen dabei ein Gegenüber voraus, dem der Segen zugesprochen wird. Grundsätzlich ist mit den zu “ברך / barak” oder “εὐλογεῖν / eulogein” gehörenden Wortfamilien eine doppelte Perspektive verbunden: im Blick auf Gott äußert sich das “Segnen” als Lobpreis; im Blick auf den Menschen äußert es sich als Heilszusage. Insofern bedienen sich Segensworte auch einer breiteren terminologischen Palette (Heckel). Folgende Formen lassen sich erkennen:

Solche Segensworte haben ihren Ort vor allem im Alltag und sind deshalb auch häufig Gegenstand der Paränese. Ihre liturgische Beheimatung ist dort zu erwarten, wo Funktionsträger mit Lehr- und Leitungsverantwortung der Gemeinde gegenübertreten. Gruß- und Entlassungsworte dürften sich dann an dem Vorbild des Alltagssprachgebrauchs orientiert haben.

4. Musik und Gesang?

Das Evangelische Gesangbuch beginnt seine ‘Liedgeschichte im Überblick’ (EG 956) mit den Worten: “Die christliche Kirche war von Anfang an eine singende Kirche …”. Das ist im vorliegenden Kontext falsch oder zumindest missverständlich. Einen Gesang im Sinne melodieförmiger “Lieder” hat es weder im frühen Judentum noch im frühen Christentum gegeben. Hymnische Texte wurden im gehobenen Sprechton rezitiert. Diese Form des Vortrages unterscheidet sich grundlegend von dem, was man heute unter Musik oder Gesang versteht.

Die meist sehr unreflektiert geführte Diskussion um den Gemeindegesang der frühen Christenheit kreist vor allem um die Begriffe “Psalm / ψαλμός / psalmós”, “Hymnus / ὕμνος / hymnos” und “(geistliche) Ode / ᾠδή odē (πνευματική / pneumatikē)”. Alle drei Termini bezeichnen indessen Formen der Dichtung und beziehen sich ausschließlich auf Texte, ohne dabei irgendeine Art “Vertonung” zu implizieren. Dieser Sachverhalt wird durch den jeweiligen Kontext auch ausreichend klar beschrieben:

  • Kol 3,16: “In aller Weisheit lehrt und ermahnt einander, mit Psalmen und Hymnen und geistlichen Oden, indem ihr singt (ᾄδοντες; adontes) durch die Gnade Gott in euren Herzen.”
  • Eph 5,19: “Redet (λαλοῦντες; laluntes) untereinander mit Psalmen und Hymnen und geistlichen Oden, indem ihr singt (ᾄδοντες; adontes) und psalmodiert (ψάλλοντες; psallontes) dem Herrn in euren Herzen.”

Psalmen, Hymnen und geistliche Oden sind demnach Ausdruck von Lehre oder Ermahnung, in der man untereinander “redet”. Was dann im Herzen geschieht (“singen und psalmodieren”), erfolgt ohnehin tonlos und lässt sich nur als eine Art innerer Rezitation verstehen. Entscheidend ist der Unterschied zum freien, charismatischen Gotteslob: Anders als die unverständliche Glossolalie folgen Psalmen, Hymnen und geistliche Oden einem fixierten Wortlaut. In genau diesem Sinne unterscheidet bereits Paulus in 1Kor 14,15 zwischen einem Beten von Psalmen (ψάλλω; psallō) mit dem Geist oder mit dem Verstand. Wenig später setzt er in 1Kor 14,26 die Psalmen an die Spitze einer Liste von Wortbeiträgen (Psalm / Lehre / Offenbarung / Zungenrede / Übersetzung), die dem Aufbau der Gemeinde dienen sollen.

Über die “Aufführungspraxis” von Texten in gebundener Sprache lässt sich heute nichts Sicheres mehr in Erfahrung bringen - weder mit Blick auf die Psalmen im Kontext der Jerusalemer Tempelliturgie (Seidel) noch mit Blick auf die Kulthymnen an den paganen Heiligtümern der hellenistisch-römischen Welt (Furley / Bremer). Auf jeden Fall aber liegt sie auf einer anderen Ebene als die musikalische Ausgestaltung des Gottesdienstes in späterer Zeit (Ferguson). Bereits die Rede von einem “Sprechgesang” dürfte hier falsche Assoziationen wecken.

Eine andere Frage betrifft die Verwendung von Instrumenten. Im Jerusalemer Tempelkult fanden vor allem Blasinstrumente Verwendung, um durch festgelegte Signaltöne den liturgischen Ablauf zu strukturieren. Für den christlichen Gottesdienst, der im profanen Kontext von Privathäusern stattfand, sind solche Instrumente auszuschließen. Hier war es jedoch gerade bei Gastmählern üblich, musikalische Unterhaltung aufzubieten. Paulus spielt in 1Kor 14,7 auf die “Doppeloboe / Aulos (αὐλός; aulos)”, “Leier / Kithara (κιθάρα; kithara)” und “Trompete (σάλπιγξ; salpigx)” an - allerdings nur, um ein Beispiel für die deutliche Wahrnehmung von Tönen zu liefern. Bei Instrumenten geht es demnach eindeutig um Musik im Sinne unterscheidbarer Töne. Im Gottesdienst selbst scheinen sie jedoch keine Rolle gespielt zu haben. Der Einzug von Instrumenten in die Liturgie lässt noch wenigstens 700 Jahre auf sich warten.

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