Mahl / Mahlzeit (NT)
(erstellt: September 2013)
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1. Begriffsklärung und Vorkommen im NT
Unter dem metasprachlichen Begriff „Mahl“ sind alle Phänomene der (zumeist gemeinschaftlichen) Nahrungsaufnahme zu subsumieren. Die Schriften des NT weisen eine große Vielfalt an Begriffen auf, die auf Mähler verweisen. Als quellensprachliches Äquivalent findet sich im NT das Substantiv δεῖπνον deipnon, das im Unterschied zum seltener im NT belegten ἄριστον ariston (Frühstück oder auch Mittagsmahl; Lk 11,38
Das Abhalten einer Mahlzeit wird im NT sehr häufig mit Verben wie κατάκειμαι katakeimai (beim Mahl / zu Tisch liegen: Mk 2,15
2. Sozialgeschichtlicher Hintergrund
Von den drei Mahlzeiten, die in der hellenistisch-römischen Welt üblich waren, sind auf der Grundlage der Quellen lediglich nähere Aussagen über die Hauptmahlzeit am späten Nachmittag bzw. frühen Abend möglich. Gegenüber dieser Hauptmahlzeit, die gleichsam als sozialer Kondensationspunkt fungierte und in verschiedener Weise symbolisch und theologisch aufgeladen werden konnte, waren das Frühstück (ἀκράτισμα akratisma, lat. ientaculum) und das Mittagessen (gr. ἄριστον ariston; lat. prandium) kleinere Mahlzeiten, die der Sättigung dienten und keine besondere soziale Funktion hatten.
Die Hauptmahlzeit wurde im Liegen eingenommen. Dass diesbezüglich im antiken Judentum und frühen Christentum kein Unterschied gemacht wurde, zeigt schon die Semantik vor allem der oben genannten Verben. Gemeinschaftsmahlzeiten zeichneten sich in der griechisch-römischen Welt durch eine Zweiteilung in einen Essensteil (δεῖπνον deipnon; lat. epulum) und einen anschließenden Unterhaltungsteil aus (συμπόσιον symposion; ποτός potos; lat. comissatio), bei dem ein Nachtisch gereicht wurde und der durch sozial normiertes Trinken von Mischwein sowie von Tischgesprächen geprägt war, aber auch durch ein Unterhaltungsprogramm u.a. mit Musik, Tanz, Spielen (z.B. kottabos) oder erotischer Unterhaltung erweitert werden konnte. Motive des klassischen Symposions sind eines der wichtigsten Themen der Ikonographie der attischen Vasenmalerei (Corpus Vasorum Antiquorum
Gemäß der älteren Form lagerten sich die Mahl- und Symposienteilnehmer auf mindestens drei Speisesofas (κλίνη klinē), die je an einer Wand standen und für zwei bis drei Mahlteilnehmer ausgelegt waren. Deshalb wird das Speisezimmer τρίκλιν(ι)ον triklin(i)on (lat. triklinium) genannt. Häufig weisen Häuser in der römischen Welt neben einem repräsentativen Speisezimmer für Gastmähler ein familiäres Esszimmer zumeist in der ersten Etage (tablinum) auf. Sozial niedriger gestellte Personen, die in ihren Wohnräumen keine eigenen Speisezimmer hatten, konnten sich im großstädtischen Kontext aus Garküchen (popinae) versorgen, für Gemeinschaftsmähler konnten Banketträume jedoch auch angemietet werden (vgl. Mk 14,12-16
Der Trinkmeister, der für das Mischungsverhältnis von Wein und Wasser sowie für den Ausschank verantwortlich war, wurde als Haupt des Symposions (symposiarch) oder als triklinarch (Petron. 22,6), im NT als architriklinos (Joh 2,8
Der Übergang zwischen Mahl und Symposion war durch eine Libation mit begleitendem Paian (ein unisono gesprochener gebetsartiger Gesang) gekennzeichnet. Neuerdings wird diskutiert, ob eine solche Libation auch für frühchristliche Mähler angenommen werden kann (vgl. Klinghardt, Becher zu Lk 22,20
Die verzehrten Speisen und Getränke differenzierten sich sowohl in paganen als auch in jüdischen und christlichen Kontexten nach der wirtschaftlichen und sozialen Stellung des Hausherren oder Gastgebers. Brot, das zugleich als Besteck diente, bildete die Sättigungsgrundlage. Auch in ärmlichen Verhältnissen gab es ein sog. opson (Zubrot), das zumeist aus vegetarischen Speisen sowie Dips und Soßen bestand (vgl. Mk 14,20
Im NT finden sich sowohl festliche Mahlzeiten z.B. zu Geburtstagen und Hochzeiten (Mk 6,14-21
3. Systematisierung
Mahlritual und Mahltexte haben ihre je eigene Semantik, die nicht miteinander gleichgesetzt, sondern ritualtheoretisch reflektiert in Beziehung gesetzt werden sollte (vgl. Klinghardt, Identität, 4f; Taussig; Al-Suadi). Aus methodischen Gründen sind daher bei der Betrachtung von Mahltexten im NT verschiedene Ebenen zu unterscheiden: a) die erzählte Mahlpraxis Jesu; b) die sozialgeschichtlich-empirische Ebene der Mähler in den frühchristlichen Gemeinden; c) Texte, welche diese Ebene reflektieren oder kommentieren; d) Texte, die Mahl-, Essens-, und Trankmetaphorik aufweisen, dabei aber keinen direkten Bezug zu der sozialgeschichtlich-empirischen Mahlpraxis herstellen. (vgl. Heilmann, Wein, 17 [MS])
4. Die erzählten Mahlzeiten Jesu
4.1. Essen mit Zöllnern und Sündern
Die Evangelien erzählen, dass Jesus mit → Zöllnern
4.2. Massenspeisungen
Die Massenspeisungen in den Evangelien (Mk 6,30-44
4.3. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern
Am Abend vor seinem Tod hält Jesus in der Erzählung der Evangelien ein letztes Mahl in Gemeinschaft mit seinen Jüngern, das – anders als im Johannesevangelium – nach der synoptischen Chronologie als Passamahl gekennzeichnet ist (Mk 14,13
Klassischerweise werden diese sog. „Einsetzungsworte“ als entscheidender Bestandteil einer frühchristlichen Eucharistiefeier gesehen. Ihnen wird im neutestamentlichen Text eine kultbegründende Funktion zugeschrieben. Die neuere Forschung hat jedoch herausgestellt, dass die Bezeichnung „Einsetzungsworte“ unpassend ist, da diese Worte erst später im 3. / 4. Jahrhundert in den Wortlaut der Mahlgebete bei der Eucharistiefeier aufgenommen wurden. Es ist fraglich, ob die Deuteworte über Brot und Becher überhaupt auf sozialgeschichtlich-empirische Ebene der Mähler in den frühchristlichen Gemeinden rekurrieren, oder nicht vielmehr zunächst einfach als Bestandteil der erzählten Mähler Jesu interpretiert werden müssen. Sie weisen nämlich trotz ihrer Ähnlichkeit deutliche Unterschiede auf, die im jeweiligen Erzählkontext zu verstehen sind. So bietet etwa die matthäische Fassung als einzige den Zusatz „zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28
5. Mahlkonflikte im NT
Es gibt vor allem zwei Hauptgründe dafür, dass das gemeinsame Essen Konfliktpotential enthalten konnte: a) Das gemeinsame Mahl war ein wichtiger Ort der Definition sozialer Grenzen und der Herstellung von Gruppenidentität. b) Trotz des Postulats der Gleichheit aller Mahlteilnehmer waren Gemeinschaftsmähler in der Regel durch soziale Ungleichheit vor allem in ökonomischer Hinsicht geprägt, wodurch soziale Spannungen entstehen konnten. Insbesondere die Wahl der Plätze und die Verteilung der Speisen und Getränke konnten zu einem Problem werden. Verschiedene Formen von Mahlkonflikten werden im NT reflektiert.
5.1. Rangstreitigkeiten/Streit um die Platzwahl
Beim antiken Gemeinschaftsmahl hatten die einzelnen Plätze auf den Klinen eine unterschiedliche Wertigkeit, der sich alle Mahlteilnehmer bewusst waren. Der Platz am unteren Ende des mittleren Sofas (lectus medius), der sich schräg neben dem Platz des pater familias befand, galt bei einem Triklinium als Ehrenplatz (locus consularis). Die Frage nach der Hierarchie bei den Mählern wird auch im NT reflektiert.
Das Streitgespräch der Jünger in Lk 22,24
5.2. Soziale Spannungen beim Mahl
Soziale Spannungen beim Gemeindemahl, die durch ökonomische Ungleichheit bedingt sind und sich negativ auf die Einheit der Mahlgemeinschaft auswirken, stehen im Hintergrund der Intervention von Paulus in 1Kor 11,17-34
5.3. Die Frage des Verzehrs von Götzenopferfleisch
Ein weiterer Konfliktpunkt, der im Kontakt der frühchristlichen Bewegung mit der Mehrheitskultur in den Städten des Römischen Reiches aufbricht, liegt in der Frage nach dem Verzehr von Opferfleisch, das im NT polemisch abgrenzend als εἰδωλόθυτος eidōlothytos (Götzenopferfleisch) bezeichnet wird (→ Götterpolemik
6. Mahlmetaphorik
Zahlreiche Texte des NT bedienen sich zwar einer Mahl-, Essens-, und Trankmetaphorik, stellen aber keinen direkten Bezug zur Mahlpraxis der Leser her, oder weisen einen deutlichen Sinnüberschuss gegenüber den in der erzählten Welt vorhandenen Speisen und Getränken auf. „Brot“ (ἄρτος artos) muss nicht nur für das Nahrungsmittel stehen, sondern kann bei Markus auch zur Metapher für die Lehre Jesu werden. Das eine Brot (εἷς ἄρτος heis artos) kann analog zur Verwendung in anderen antiken Quellen (Diog. Laert. 8,34 f.
7. Bedeutung von Mählern im NT
Jesus ist in den Evangelien bekannt dafür, dass er oft und gerne an Mahlgemeinschaften teilnimmt. In zahlreichen Gleichnissen verwendet er Themen des Essens und Trinkens (Mt 22,1-14
Die frühen Christen veranstalteten ihre Gemeindeversammlungen im Deipnon-Symposion-Rahmen. Eine der für die Identitätsbildung des Frühchristentums wichtigsten und am Meisten umstrittenen Frage war, ob die Mahlgemeinschaft von Judenchristen mit Heidenchristen möglich sei oder nicht (Apg 11,1-18
Paulus widmet ungefähr 10 Prozent des Römerbriefs Fragen der Mahlgemeinschaft in der Gemeinde (Röm 14,1-15,13
Mahlgemeinschaften und die dafür zu klärenden Fragen sind zentral für die Identitätsbildung der Jesusbewegung und des Frühchristentums. Das Mahl ist zur Zeit des NT wie in der gesamten Antike ein entscheidender Kondensationspunkt für die grundlegende Erfahrung von Gemeinschaft im Alltag. Aufgrund seiner kulturellen Funktion ist es offen für religiöse Aufladung und erscheint als Gegenstand textlicher Reflexion.
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Abbildungsverzeichnis
- Freiluft- triklinium mit Mosaiken im Haus von Neptun und Amphitrite in Herculaneum. Photo: Claudia Heilmann
- Freiluft- triklinium in Petra, Jordanien. Photo: Peter Wick
- Sigma-Mahl auf einem Bodenmosaik in einem Haus aus dem 3. Jh. n. Chr. in Sepphoris, Galiläa. Photo: Jan Heilmann
- Christliches Sigma-Mahl, Capella greca, Priscilla-Katakombe, Rom, 2./3. Jh. Wilpert, J.: Fractio panis: Die älteste Darstellung des eucharistischen Opfers in der „Cappella greca“ entdeckt und erläutert, Freiburg i. Br. 1895, Tafeln, S. 6
- Schemazeichnung der Sitzordnung bei einem triclinium. Zeichnung J.H., orientiert an Vössing, Mensa regia, Abb. IV
- Schemazeichnung der Sitzordnung beim Sigma-Mahl. Zeichnung J.H., orientiert an Vössing, Mensa regia, Abb. V
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