Polis
Andere Schreibweise: (deutsch „Stadt“)
(erstellt: Mai 2014)
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1. Begriff und Merkmale
Mit dem griechischen Begriff „Polis“ („Stadt“) sind unterschiedliche Konnotationen verbunden: Etymologisch gesehen bedeutet das Wort ursprünglich „Burg“ und wurde später auf die in ihrem Schutz sich entwickelnde Stadt übertragen. Im klassischen Griechenland (5. / 4. Jh. v. Chr.) gehörte zur Polis nicht nur die ummauerte Siedlung (griech. asty), sondern auch das ländliche Umland, dessen Bewohner mitgezählt wurden.
Daneben fällt dem Begriff eine „politische“ Bedeutung zu, da die Polis im antiken → Griechenland
Die typische Polis verfügte über spezielle politische Organe wie Volksversammlung (ekklesia / demos), Rat (boule) und Magistrate (archontes) sowie über entsprechende Gebäude (z.B. Ratsgebäude- bouleuterion) und Versammlungsplätze, besaß eigene Kalender, Feste, Heiligtümer und Schutzgottheiten, sogar „eigene Wirtschaftsformen und Zahlungsmittel … Doch läßt sich weder die Verwendung des Begriffs p.[olis] strikt an diese Merkmale binden noch waren alle griech. Gemeinden in dieser Form organisiert“ (Rhodes, 23).
2. Entstehung und Geschichte
2.1. Klassische Zeit
Die Polis entwickelte sich in archaischer Zeit (8.-6. Jh. v. Chr.) und wurde durch die griechische Kolonisationsbewegung über den gesamten Mittelmeerraum und die Küsten des Schwarzen Meeres verbreitet. Als Musterbeispiel einer klassischen Polis gilt – obwohl in mancher Hinsicht spezifisch organisiert – die Polis der Athener (nicht Polis von Athen!). Sie verstand sich als ein Gemeinwesen freier Bürger und nicht als administrativer Zusammenschluss einer territorialen Einheit.
2.2. Hellenistische Zeit
In → hellenistischer
Diese Poleis waren vielfach mit Privilegien (z.B. Steuerfreiheit) ausgestattet und besaßen zwar die bekannten Organe städtischer Selbstverwaltung (Volksversammlung, Rat, Magistrate), waren aber im Gegensatz zur klassischen Polis Griechenlands nur noch halbautonom: in der Administration städtischer Angelegenheiten frei, aber außenpolitisch abhängig vom jeweiligen Territorialherrscher.
An Bedeutung und Einwohnerzahl übertrafen die hellenistischen Neugründungen die bislang bestehenden Poleis bei weitem. Großzügig angelegt beherbergten sie oft zwischen 30 und 50.000 Einwohner, aber auch Metropolen mit mehr als 100.000 Einwohnern waren keine Seltenheit (Alexandria in Ägypten, Antiochia am Orontes, Seleukia am Tigres etc.).
Die Einwohnerschaft der neuen Städte war gemischt, da sie neben der griechisch-makedonischen Oberschicht auch indigene und zugewanderte Bevölkerungselemente umfasste.
2.3. Römische Zeit
Die → römische
Eine Reihe von Poleis wurde in staatlichen Bauprogrammen vergrößert und monumental ausgestaltet. Besonders Athen profitierte vom Philhellenismus der Römer. Bis in die Spätantike hinein war es für die römische Elite selbstverständlich, ihre Söhne zum Studium nach Athen zu schicken.
Insgesamt lässt sich sagen, dass die Polis auch unter römischer Herrschaft ihren Charakter bis in die Spätantike hinein bewahren konnte. Erst die Völkerwanderung im Westen und die islamische Expansion im Osten bedeuteten ihr Ende.
3. Städtebau
In städtebaulicher Hinsicht dominierte - insbesondere bei den hellenistischen Neugründungen – das so genannte Hippodamische System (nach Hippodamos von Milet – 5. Jhdt. v.Chr.) mit seinen rechtwinklig zueinander verlaufenden Straßen: „Beiderseits einer breiten Hauptstraße teilen parallel und senkrecht dazu verlaufende Nebenstraßen das Areal in regelmäßige Quartiere auf“ (insulae), „wobei bestimmte Bezirke für öffentliche Anlagen und Gebäude ausgespart“ blieben (Mittmann, 1631f): z.B. für Tempel, für Theater und Bibliothek, für Gymnasium und Stadion – Gebäude, die besonders im nicht-griechischen Umfeld als monumentaler Ausdruck griechischer Lebensart angesehen wurden. Im Zentrum der Stadt lag zumeist die Agora (lat. forum), ein großer, freier Platz, der von Säulenhallen mit sich anschließenden administrativen Gebäuden umgeben war und den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens darstellte. Aufgrund geographischer Gegebenheiten wich man bisweilen von diesem Schema ab.
Die Römer übernahmen dieses System bei ihren Neugründungen in der Regel. So findet sich das Hippodamische System in römischer Zeit sowohl im Westen als auch im Osten des Imperiums und selbstverständlich auch in Palästina.
4. Die Polis in Palästina
Nach der Eroberung durch Alexander den Großen gehörte → Palästina
Unter → König Herodes
5. Das frühe Christentum und die Stadtkultur
„Das Christentum war von Anfang an auch und vor allem eine Stadtreligion“ (Fitschen, 92), obwohl Jesus und seine Jünger vom Lande kamen und sich nahezu ausschließlich im ländlichen Kontext bewegten. Zwar waren die Dörfer → Galiläas
Dagegen zielt die spätere urchristliche Mission eindeutig auf die Städte: zuerst sind es die „Hellenisten“, dann vor allem der Apostel → Paulus
Die paulinische Mission war so erfolgreich, dass sie die Grundlage für eine schnelle Ausbreitung des Christentums schuf. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich aus den Anfängen einer traditionell dörflich orientierten Bewegung eine das ganze Römische Reich umspannende Religion, deren Basis die Gemeinden der größeren Städte waren.
6. Die Polis im Neuen Testament
6.1. Allgemeines
Im Neuen Testament hat der griechische Begriff πόλις / pólis seine ursprünglich „politische“ Konnotation nahezu verloren und wird als geographische Bezeichnung für geschlossene Siedlungen unabhängig von ihrer politischen Verfassung gebraucht. Polis bedeutet zumeist schlicht „Stadt“. Dabei sind die Grenzen zum Dorf fließend (vgl. Mk 1,38
Der für die Stadt im klassischen Griechenland charakteristische Polis-Gedanke tritt in den Hintergrund, schwingt aber noch mit im Bild vom → himmlischen Jerusalem
6.2. Bezeugung
Der Begriff πόλις / pólis findet sich im Neuen Testament insgesamt mehr als 150mal, am meisten im lukanischen Doppelwerk (81mal), im → Matthäusevangelium
In der LXX wird πόλις / pólis über 1500mal als Übersetzung für das hebräische עיר / gebraucht. Beide Ausdrücke sind von ihrem Sinngehalt aber nicht deckungsgleich, da das hebräische עיר relativ undifferenziert auf jede halbwegs befestigte Höhe angewandt werden kann. Die spezifisch politische Konnotation, die das griechische Wort πόλις / pólis hat, ist dem Hebräischen fremd.
6.2.1. Evangelien
In den Evangelien werden die meisten Orte, die in Beziehung zum Auftreten Jesu stehen, als Städte bezeichnet, so z.B. → Nazareth
Bei der in Mk 5,14
Dass Jerusalem aufgrund der Größe und Architektur (mit Stadtmauer etc.) nach dem einhelligen Zeugnis der Evangelien als Stadt bezeichnet wird, ist nicht verwunderlich. Jerusalem ist die „heilige Stadt“ (Mt 4,5
6.2.2. Apostelgeschichte
In der Apostelgeschichte werden – gemäß der programmatischen Ausrichtung auf die Ausbreitung des Evangeliums von Jerusalem über Judäa und Samarien bis „ans Ende der Welt“ (Apg 1,8
6.2.3. Hebräerbrief und Offenbarung des Johannes – die himmlische Polis
Im Hebräerbrief und vor allem in der Offenbarung begegnet die Vorstellung von der himmlischen πόλις / pólis: Schon die → apokalyptische
Paulus bezeichnet im Zusammenhang der Gesetzesproblematik das „jetzige Jerusalem“ als Jerusalem der Knechtschaft und stellt es dem freien, dem ἄνω Ἰερουσαλὴμ / anō Ierusalēm (Gal 4,26
Im Hebräerbrief wird diese Vorstellung konkretisiert und vom „besseren Vaterland“ (Hebr 11,16
Plastisch ausgemalt wird das Bild vom himmlischen Jerusalem in der Apokalypse. Nach Apk 21
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
- Athen – Agora (Verwaltungszentrum der Polis); im Hintergrund die Akropolis. Foto: Christoph vom Brocke
- Alexander der Große (356-323 v. Chr.). Foto: Christoph vom Brocke
- Kaiser Nero. Foto: Christoph vom Brocke
- Athen - Hadriansbibliothek. Foto: Christoph vom Brocke
- Stadtplan von Milet (auch online). Scan: Christoph vom Brocke
- Das hellenistisch-römische Scythopolis (Beth Schean). Foto: Christoph vom Brocke
- Caesarea Maritima - Hippodrom. Foto: Christoph vom Brocke
- Sepphoris - Theater. Foto: Christoph vom Brocke
- Paulus von Tarsus (Philippi – Taufkapelle). Foto: Christoph vom Brocke
- Jerusalem - Westmauer mit Felsendom. Foto: Christoph vom Brocke
- Ephesus - Celsusbibliothek. Foto: Christoph vom Brocke
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