Prozess Jesu
(erstellt: Mai 2011)
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1. Begriffsklärung und Problemstellung
Als Prozess Jesu bezeichnet man in der Regel die Ereignisse von der Gefangennahme Jesu im Garten Gethsemane (Mk 14,26-50
2. Die Quellenlage
2.1. Christliche Quellen
Als wichtigste Quellen für die Rekonstruktion des Prozesses Jesu gelten, wie bereits erwähnt, die vier neutestamentlichen Evangelien, von denen das Markusevangelium (vgl. für den Prozess i.e.S. Mk 14,53-65
Eine Sonderstellung nimmt das Johannesevangelium ein, das nach gängiger Auffassung als das jüngste Evangelium gilt und daher einen fortgeschrittenen Grad theologischer Reflexion aufweist. Ob das Johannesevangelium grundsätzlich, besonders aber in der Passionsdarstellung von einem oder mehreren der synoptischen Evangelien abhängig ist, wird kontrovers diskutiert (vgl. den Überblick bei Reinbold, 2006, 28-30, der selbst für Unabhängigkeit plädiert).
Trotz erheblicher Unterschiede im Detail stimmen die vier kanonischen Evangelien im Wesentlichen darin überein, dass Jesus auf Veranlassung hochrangiger Juden unter Anführung des → Hohenpriesters
Insgesamt gilt, dass die Texte mit voranschreitender Zeit eine immer stärkere Tendenz aufweisen, die römische Seite zu entlasten und die Verantwortung am Tod Jesu „den (d.h. allen) Juden“ zuzuschieben. Dies ist bspw. ersichtlich an der berühmten Szene Mt 27,24f
Die apokryphen Texte, die vom Prozess Jesu handeln (z.B. → Petrusevangelium
2.2. Nichtchristliche Quellen
Obwohl uns nur wenige nichtchristliche Quellen für den Tod Jesu vorliegen, sind sie doch insofern wichtig für die historische Rekonstruktion, als sie ein selbständiges Zeugnis von den Eckdaten des Prozesses Jesu geben.
Als älteste Quelle kann das sog. „Testimonium Flavianum“ des jüdischen Historikers → Josephus
Um das Jahr 116 / 117 n. Chr. erwähnt der römische Historiker P. Cornelius Tacitus in seinen Annalen im Zusammenhang der Christenverfolgung unter Nero, dass ein gewisser „Christus [Namensform umstritten] unter Tiberius von dem Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden war“ (Tacitus, Annalen 15,44). Obwohl auch in diesem Fall die Quellenlage strittig ist und zumindest die Auskunft, Pontius Pilatus sei Prokurator gewesen (sein offizieller Titel war Präfekt, s.u.), falsch ist, scheint hier ein weiteres unabhängiges Zeugnis für die Hauptverantwortung der Römer am Tod Jesu vorzuliegen.
Kaum für die Rekonstruktion des Prozesses Jesu auswertbar ist hingegen eine Episode im babylonischen Talmud (bSanh 43a), da bspw. nicht sicher entschieden werden kann, ob an der Stelle überhaupt Jesus von Nazareth gemeint und zudem von einem Tod durch Erhängung die Rede ist (vgl. Theißen / Merz, 1996, 82f).
3. Historische Eckdaten des Prozesses
Aufgrund der skizzierten Quellenlage kann als historisch gesichert angesehen werden, dass Jesus etwa im Jahr 30 n. Chr. (vgl. zur Chronologie Theißen / Merz, 1996, 154) unter dem römischen Statthalter Pontius Pilatus in Jerusalem gekreuzigt wurde. Sowohl die Kreuzesstrafe als auch die Verurteilung durch Pilatus werden übereinstimmend von den ältesten christlichen und nichtchristlichen Quellen bezeugt. Die Kreuzigung war in der frühen Kaiserzeit eine römische Todesstrafe, die bei schweren Verbrechen in Bezug auf Sklaven und Nichtrömer angewendet wurde (Heid, 2006, 1099f), und ist als solche auch für Palästina bezeugt (vgl. Josephus, Antiquitates Judaicae 17,295; Bellum Judaicum 2,253). Das jüdische Strafrecht sah hingegen als übliche Todesstrafe die Steinigung vor (Heid,2006,1100). Es war üblich, dass einer Kreuzigung, wie im Fall Jesu von den Evangelien bezeugt, eine Geißelung als Nebenstrafe vorausging (Miglietta, 2004, 245). Pontius Pilatus war von 26 bis 36 / 37 n. Chr. Statthalter der römischen Provinz Judäa und trug den offiziellen Titel praefectus Iudaeae; er wurde aufgrund von Beschwerden über seine Amtsführung vorzeitig abgesetzt (Schwartz, 2003).
4. Kontroverse Aspekte des Prozesses
4.1. Grund für die Verhaftung und Inhalt der Anklage
Die Kreuzigung weist auf einen römischen Urteilsspruch hin, der seinerseits ein strafrechtlich relevantes Delikt voraussetzt (s.u.). Es ist denkbar, aber nicht wahrscheinlich, dass die römischen Behörden von sich aus auf Jesus aufmerksam wurden und ihn, etwa wegen Unruhestiftung, verhaftet haben. Allerdings gehen bereits die ältesten christlichen Quellen einmütig von einer Initiative von Seiten führender Juden aus, wenngleich sich über ihre Motivation nur Vermutungen anstellen lassen. Als Grundlagen dienen hier vor allem die Notizen über den Todesbeschluss (Mk 14,1
Laut Mk 14,55-64
4.2. Jüdische Beteiligung am Prozess
Während die meisten von einer gewissen Beteiligung jüdischer Instanzen am Prozess Jesu ausgehen, werden Form und Grad dieser Mitwirkung kontrovers diskutiert. Das Spektrum reicht hier von der Annahme eines offiziellen Todesbeschlusses durch den Hohen Rat, der lediglich von Pilatus vollstreckt wurde (so z.B. Blinzler, 1969, 229-232) bis hin zur Annahme eines rein römischen Prozesses (Fricke, 1988, passim; W. Stegemann, 1998).
Maßgeblich für die einschlägige Diskussion ist nicht zuletzt die sozial- und rechtsgeschichtliche Beurteilung der juristischen Kompetenz lokaler Behörden im Imperium Romanum. Seitdem Judäa im Jahr 6 n.Chr. zur römischen Provinz erhoben wurde, oblag die Kapitalgerichtsbarkeit den Römern, genauer gesagt wurde sie vom jeweiligen Kaiser an den Statthalter übertragen. Allerdings ist strittig, ob dem Synhedrium in begründeten Ausnahmefällen, die den Tempelbereich betrafen, nicht das Recht zustand, ein Todesurteil zu verhängen, das anschließend von den Römern vollstreckt wurde (s. dazu Müller, 1988; Giovannini / Grzybek, 2008, 11-56).
Darüber hinaus wird die Frage diskutiert, inwiefern die in den Evangelien zugrunde gelegte Prozessführung mit jüdischem Recht vereinbar war (s. dazu bes. Blinzler, 1969, 197ff.; Brown, 1994, I 357ff). Mögliche Widersprüche werden etwa darin gesehen, dass die Verhandlung Jesu in der Nacht, an einem Feiertag und im Haus des Hohenpriesters stattfand (Mk 14,12
Die Mehrheit der Forschung geht gegenwärtig davon aus, dass kein förmlicher Prozess vor dem Synhedrium stattgefunden hat, sondern allenfalls eine Voruntersuchung zur „Findung einer politisch u. juristisch tragfähigen Anklage (…) vor dem röm. Statthalter“ (Mikat, 1999, 676).
4.3. Das Verfahren
Es ist unstrittig, dass Pontius Pilatus das ius gladii (Kapitalrecht) über Peregrine (Nichtrömer) besaß, doch wird diskutiert, ob er den Fall Jesu im Rahmen eines Koerzititionsverfahrens (d.h. eine Zwangsmaßnahme zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung) oder eines Prozesses mit förmlichem Urteil entschieden hat, wobei in den Provinzen nicht das „ordentliche“, sondern ein „außerordentliches“ Verfahren üblich war (eine sog. cognitio extra ordinem; vgl. Sherwin-White, 1963, 24-47). Im Rahmen seiner Befugnisse stand es dem Statthalter in gewissen Fällen vermutlich auch zu, den Angeklagten freizulassen oder zu begnadigen (so Mikat, 1999, 677; anders Reinbold, 2006, 117f.), wohingegen die Praxis einer Passaamnestie durch nichtchristliche Quellen nicht belegt ist, weshalb die Barabbas-Szene (Mk 15,6-14
4.4. Der Urteilsspruch
Sowohl Jesu Verhör durch Pilatus (vgl. bes. Mk 15,2
Enthalten die Pilatusfrage und der titulus crucis einen historischen Kern, so lautete der Urteilsspruch des Pilatus vermutlich entweder auf schweren Landesverrat (perduellio) oder auf ein Majestätsdelikt (crimen maiestatis imminutae bzw. crimen laesae maiestatis), die eng miteinander verwandt waren. Entscheidend ist jedoch, dass beide Delikte mit dem Tod, im Falle des Nichtrömers Jesus also mit dem Kreuz bestraft wurden.
Literaturverzeichnis
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