Dis/ability Studies
Andere Schreibweise: Disability Studies; Dis/Ability Studies; Dis_ability Studies
(erstellt: Februar 2019)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Disability_Studies.200578
1. Einführung
Die Dis/ability Studies befassen sich, wie Schneider/Waldschmidt, 2012 programmatisch beschreiben, mit dem Differenzverhältnis von Behinderung/Nicht-Behinderung. Dabei geht es den Dis/ability Studies nicht in erster Linie um die Frage nach dem Umgang der Gesellschaft mit behinderten Menschen. Vielmehr soll ein Perspektivwechsel stattfinden und danach gefragt werden, „[w]ie, warum und wozu […] – historisch, sozial und kulturell – ‚Andersheit‘ als Behinderung hergestellt, verobjektiviert und institutionalisiert“ (Schneider/Waldschmidt, 2012, 129) wird. Der aktuelle Forschungsstand dieser noch relativ jungen, „über die verschiedenen Wissenschaften verstreuten, international betriebenen Querschnittsdisziplin“ ist allerdings sehr heterogen und lässt sich daher „kaum zusammenfassend darstellen“ (Schneider/Waldschmidt, 2012, 132). Trotz dieser Vielfalt und der unterschiedlichen Ausdifferenzierungen sind zwei Grundannahmen entscheidend: 1. Die Dis/ability Studies grenzen sich grundsätzlich von „rehabilitationswissenschaftlichen sowie heil- und sonderpädagogischen Ansätzen“ ab, die einem medizinischen bzw. individuellen und damit reduktionistischen Modell von Behinderung folgen. Nach diesem Modell wird Behinderung „mit der Schädigung oder funktionalen Beeinträchtigung des Einzelnen“ gleichgesetzt und „als schicksalhaftes, persönliches Leid [gedeutet], das medizinisch-therapeutischer Behandlung oder sonderpädagogischer Förderung bedarf“ (Schneider/Waldschmidt, 2012, 132f.). 2. Dagegen verstehen die Dis/ability Studies Behinderung als Konstruktion der Gesellschaft bzw. als gesellschaftliches Differenzierungsmerkmal, das „in wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Diskursen sowie politischen und bürokratischen Verfahren“ produziert wird. Ziel ist es, „die vielfältigen Inszenierungen von Normalität, die Machtmechanismen in und durch Organisationen, in denen ‚A-Normalität‘ hergestellt und abgesichert wird, und die Wirklichkeit konstituierende Kraft von dahinterstehenden Wissensapparaten zu analysieren“ (Schneider/Waldschmidt, 2012, 132).
Nach einem kurzen Überblick über die Entstehung der Dis/ability Studies seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts (2.1) sind im Folgenden insbesondere die unterschiedlichen Behinderungsmodelle (medizinisches, soziales und kulturelles Modell) (2.2) und die Notwendigkeit, Behinderung anders/neu zu denken (2.3), darzustellen. Am Beispiel der Literatur- (3.1), Geschichts- (3.2) und Kunst- bzw. Medienwissenschaft (3.3) – Wissenschaftsbereiche, die auch mit Blick auf die Religionspädagogik und den Religionsunterricht besonders relevant erscheinen – wird in einem zweiten Schritt die entschieden interdisziplinäre Orientierung der Dis/ability Studies erläutert. Schließlich soll vor allem ihre im Wissenschaftsdiskurs bislang nur wenig beachtete Bedeutung für die Religionspädagogik (4) erörtert und exemplarisch entfaltet werden.
2. Grundlagen der Dis/ability Studies
2.1. Anfänge der Dis/ability Studies
Die Dis/ability Studies haben sich seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts einerseits aus der politischen Behindertenbewegung und andererseits aus wissenschaftlichen Antriebskräften etwa zeitgleich in den USA und England entwickelt (im Folgenden Dederich, 2007, 17-32; auch Schneider/Waldschmidt, 2012, 134-138; Sierck, 2012; Renggli, 2004; http://www.disabilitystudies.de/studies.html
Am Anfang der Dis/ability Studies steht in den USA der frühen siebziger Jahre insbesondere die Independent-Living-Bewegung. Menschen mit Behinderung sollten selbst ihre Anliegen – z.B. die Möglichkeit, sich gegen Abschiebung in spezielle Einrichtungen, Ausgrenzung sowie Fremdbestimmung zu wehren – vertreten können („Nicht über uns ohne uns!“) und in der Gesellschaft und Politik Gehör und Anerkennung finden. Anfang der achtziger Jahre wurde unter Federführung des amerikanischen Soziologen Irving Kenneth Zola die – erst später als solche bezeichnete – Society for Disability Studies gegründet, um Lebensbedingungen und Kontexte von Menschen mit Behinderung aus einer inter- und transdisziplinären und nicht nur, wie bisher, aus einer medizinischen, psychologischen und rehabilitationswissenschaftlichen Perspektive zu betrachten. Waren zunächst die Sozialwissenschaften für den weiteren Diskurs bestimmend, haben sich in den folgenden Jahren in den USA insbesondere die Geistes- und Kulturwissenschaften in den Dis/ability Studies etabliert.
In Großbritannien setzte sich – u.a. angestoßen durch den Soziologen Mike Oliver – vor allem ein sozialpolitisch orientierter Behinderungsbegriff durch. Im Jahr 1990 wurde das erste Institut für Disability Studies in Europa gegründet, das 2000 zum Centre for Disability Studies an der Universität Leeds erweitert wurde.
Auch für Deutschland sind die Anfänge der Disability Studies in der politischen Behindertenbewegung Ende der siebziger Jahre zu finden. Entscheidend für ihre Etablierung waren die zusammen mit der Deutschen Behindertenhilfe – Aktion Mensch e.V. durchgeführte Tagung und Ausstellung „Der (im-)perfekte Mensch“ (2001) und die Tagung „PhantomSchmerz“ (2002) im Deutschen Hygiene-Museum Dresden sowie 2002 die Gründung der AGDS, der Arbeitsgemeinschaft Disability Studies in Deutschland, und 2003 die Sommeruniversität „Disability Studies in Deutschland – Behinderung neu denken“ in Bremen. Mittlerweile sind die Dis/ability Studies auch an deutschen Universitäten und Hochschulen vertreten, z.B. an der Universität zu Köln (Anne Waldschmidt), der Alice Salomon Hochschule Berlin (Swantje Köbsell), der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum (Recht und Disability Studies; Theresia Degener) sowie der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie im Zentrum für Disability Studies (ZeDiS) in Hamburg (Matthias Nauerth). Zudem werden die Dis/ability Studies in verschiedenen Disziplinen – ohne explizite Nennung in der Fachbezeichnung – von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowohl mit Behinderung als auch ohne Behinderung aufgegriffen.
2.2. Behinderungsmodelle
Wie erwähnt, gehen die US-amerikanischen – und auch deutschen – Vertreterinnen und Vertreter der Dis/ability Studies heute in erster Linie von einem kulturwissenschaftlichen Behinderungsmodell aus. In England wird dagegen nach wie vor stärker das soziale Behinderungsmodell favorisiert. In der Darstellung und Entfaltung der beiden Modelle – die Trennungslinie ist nicht immer eindeutig und scharf – werden die wesentlichen Grundanliegen der Dis/ability Studies besonders deutlich, vor allem ihre dezidierte Abgrenzung gegenüber einem individuellen bzw. medizinischen Behinderungsmodell.
2.2.1. Individuelles bzw. medizinisches Modell
Das individuelle (oder präziser: individualistische) Modell bzw. das medizinische Modell betrachtet „individuelle Schädigung (impairment) als alleinige Ursache von Beeinträchtigung (disability)“. Behinderung wird mit körperlicher Schädigung oder funktionaler Beeinträchtigung gleichgesetzt und „als schicksalhaftes, persönliches Unglück, das individuell zu bewältigen ist“ (Waldschmidt, 2005a, 17), gedeutet. Weitere Prämissen des Modells sind „die Expertendominanz im rehabilitativen Versorgungssystem und das Verwiesensein der Behinderten auf Sozialleistungen, deren Empfang an soziale Kontrolle und Disziplinierung gekoppelt ist“ (Waldschmidt, 2005a, 17). Das individuelle/medizinische Modell – und damit vielfach verbunden auch alltagsweltliche Deutungsmuster – reduziert Behinderungen „tendenziell auf Schädigungen des Körpers und damit auf objektiv beschreibbare Naturvorgänge bzw. Naturtatsachen“; der Körper wird „essenzialistisch als außergesellschaftliches und ahistorisches Faktum verstanden, das dem objektivierenden Blick einer wissenschaftlich fundierten Praxis zugänglich ist und zum Zweck der Prävention, Heilung oder Linderung von Pathologien diagnostisch entschlüsselt und praktisch bearbeitet“ (Dederich, 2007, 36;57) werden muss. Durchaus berechtigte Anliegen und Fortschritte der Medizin, individuelle körperliche Defizite zu heilen oder Beeinträchtigungen zu kompensieren, führen auf der Basis eines molekularbiologischen Paradigmas zunehmend zu Vorstellungen von der Perfektibilität des Menschen und der Kontrollierbarkeit möglicher Abweichungen. Implizit verbunden ist damit die „Abwertung unheilbar kranker und behinderter Menschen“ (Dederich, 2007, 177).
2.2.2. Soziales Modell
Zentral für das soziale Modell steht der Gedanke „Man ist nicht behindert, man wird behindert!“. Nach diesem Modell wird Behinderung im Gegensatz zum individuellen/medizinischen Modell als sozial konstituiert verstanden, „als Resultat einer sozialen Übereinkunft [...], die Einschränkungen in den Aktivitäten Behinderter durch die Errichtung sozialer Barrieren bewirkt“ (Thomas, 2004, 33). Behinderung (disability) „entsteht durch systematische Ausgrenzung und ist nicht einfach das Ergebnis medizinisch festgestellter Pathologie. Menschen werden nicht aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigung behindert, sondern durch das soziale System, das ihnen eine marginalisierte Position zuweist und Barrieren gegen ihre Partizipation errichtet. Entsprechend wird Behinderung in den Kontext sozialer Unterdrückung und Diskriminierung gestellt und als soziales Problem thematisiert, das wohlfahrtsstaatlicher Unterstützung und gemeinschaftlicher (Selbsthilfe-)Aktion bedarf“ (Schneider/Waldschmidt, 2012, 139; Waldschmidt, 2010, 17).
Auch wenn mit dem sozialen Behinderungsmodell ein gesellschaftskritisches Paradigma geschaffen wurde, das es den Dis/ability Studies erlaubt, wissenschaftliche Diskurse ebenso mit politischer Interessensvertretung wie mit privater Lebenspraxis zu verbinden, sind nach Waldschmidt (u.a. Waldschmidt, 2007, 57-60; Waldschmidt, 2005a, 19-24) folgende Kritikpunkte zu benennen: Die strikte Unterscheidung zwischen Beeinträchtigung (impairment) und Behinderung (disability) führt ungewollt zur Körpervergessenheit, weil sie übersieht, dass auch medizinische Kategorien „ihre Geschichte, ihre kulturelle Bedeutung und ihre sozialen Konstruktionsmodi haben“ und daher die körperliche Schädigungsebene als gesellschaftlich bedingt und ebenso die Unterscheidung selbst als historisch kontingent betrachtet werden muss (Schneider/Waldschmidt, 2012, 141). Behindertsein (impairment) und Behindertwerden (disability) sind also „keineswegs trennscharfe Kategorien (im Sinne von: hier das natürlich, körperlich Gegebene, dort die darauf bezogene gesellschaftliche Praxis), sondern verschiedene Dimensionen ein und desselben gesellschaftlichen, also sozial hergestellten Phänomens, die sich wechselseitig durchdringen und aufeinander verweisen“ (Schneider/Waldschmidt, 2012, 142). Insofern bedarf es einer Ergänzung des sozialen Behinderungsmodells durch das sogenannte kulturelle Modell, um einen kulturwissenschaftlichen Ansatz deutlicher zu profilieren (Schneider/Waldschmidt, 2012, 143), der es erlaubt, Behinderung nicht primär als ‚Problem‘ wahrzunehmen, das das individuelle, aber auch das soziale Modell – wenn auch auf je unterschiedliche Weise – zu beheben versuchen, sondern als „spezifische Form der ‚Problematisierung‘ körperlicher Differenz“ (Waldschmidt, 2005a, 24).
2.2.3. Kulturelles Modell
Das kulturelle Modell erwächst aus einem kulturwissenschaftlichen Perspektivwechsel, nach dem es nicht genügt, wie Waldschmidt erstmals 2005 maßgeblich formuliert und in den kommenden Jahren weiter ausdifferenziert hat (besonders Schneider/Waldschmidt, 2012, 143-148; Waldschmidt, 2017a, 22-26), „Behinderung als individuelles Schicksal oder diskriminierte Randgruppenposition zu kennzeichnen. Vielmehr geht es um ein vertieftes Verständnis der Kategorisierungsprozesse selbst, um die Dekonstruktion der ausgrenzenden Systematik und der mit ihr verbundenen Realität. Nicht nur Behinderung, sondern auch ihr Gegenteil, die gemeinhin nicht hinterfragte ‚Normalität‘ sollen in den Blickpunkt der Analyse rücken. Denn behinderte und nicht behinderte Menschen sind keine binären, strikt getrennten Gruppierungen, sondern einander bedingende, interaktiv hergestellte und strukturell verankerte Komplementaritäten. Die kulturwissenschaftliche Sichtweise unterstellt nicht – wie das soziale Modell – die Universalität des Behinderungsproblems, sondern lässt die Relativität und Historizität von Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozessen zum Vorschein kommen. Sie führt vor Augen, dass die Identität (nicht)behinderter Menschen kulturell geprägt ist und von Deutungsmustern des Eigenen und des Fremden bestimmt wird“ (Waldschmidt, 2005a, 25). Mit dem Perspektivwechsel des kulturellen Modells werden nicht mehr Menschen mit Behinderung als Randgruppe betrachtet, vielmehr wird die Mehrheitsgesellschaft zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand. Es genügen nicht allein Sozialleistungen und Bürgerrechte, „um Anerkennung und Teilhabe zu erreichen, vielmehr bedarf es auch der kulturellen Repräsentation. Individuelle und gesellschaftliche Akzeptanz wird erst dann möglich sein, wenn behinderte Menschen nicht als zu integrierende Minderheit, sondern als integraler Bestandteil der Gesellschaft verstanden werden“ (Waldschmidt, 2005a, 26f.). Nach dem kulturellen Modell ist eine gesellschaftliche Praxis zu kritisieren, „die damit beschäftigt ist, homogene Gruppen zu bilden und diese auf der Basis normativer Bewertungen zu hierarchisieren, anstatt die eigene Heterogenität anzuerkennen und wertzuschätzen“ (Waldschmidt, 2005a, 27).
2.3. Behinderung neu denken
Behinderung neu bzw. anders zu denken, bedeutet auf der Grundlage des kulturellen Modells also, dass „nicht die Abweichung, die Pathologie, die irritierende Andersartigkeit, ‚der Störfall‘ […] in den Blick“ zu nehmen ist; vielmehr ist die Kategorie Behinderung zu verwenden, „um die ‚Mehrheitsgesellschaft‘ […] zu rekonstruieren und von deren Analyse aus nach den Auswirkungen und Folgen für Behinderte zu fragen“ (Dederich, 2007, 29; auch Waldschmidt, 2003, 16).
Im Gegensatz zu einer häufig vertretenen, aber reduktionistischen Sicht handelt es sich bei Behinderung nicht im alltagsweltlichen Sinne um eine eindeutige Kategorie, „sondern um einen höchst komplexen, eher unscharfen Oberbegriff, der sich auf eine bunte Mischung von unterschiedlichen körperlichen, psychischen und kognitiven Merkmalen bezieht, die nichts anderes gemeinsam haben, als dass sie mit negativen Zuschreibungen wie Einschränkung, Schwäche oder Unfähigkeit verknüpft werden“ (Waldschmidt, 2010, 14). Konsequenterweise ist daher auch nicht von disability, sondern von dis/ability und damit von Dis/ability Studies zu sprechen, um mit der optischen Trennung von dis und ability mittels eines Schrägstrichs „die Verschränkungen und Verknüpfungen, das Wechselspiel von ‚normal‘ und ‚behindert‘“ (Waldschmidt, 2010, 20), deutlich zu machen und zu zeigen, dass Behinderung als kontingent, das heißt als soziokulturelle bzw. -historische Konstruktion und gesellschaftliche Differenzkategorie zu denken ist.
Wenn Differenzmerkmale wie gesund/krank oder nicht behindert/behindert ebenso soziokulturelle Konstrukte wie Perfektibilitäts- oder Normalitätsvorstellungen als Gegensatz zu Abweichung, Krankheit und Behinderung sind und nicht zuletzt aufgrund sozial-demografischer Veränderungen in westlichen Gesellschaften zunehmend fragwürdig erscheinen, ist mit Blick auf jede Einzelne/jeden Einzelnen sinnvollerweise von temporarily abled (‚zeitweise nicht behindert‘), differently abled (‚unterschiedlich befähigt‘) oder embodied difference (‚verkörperte Differenz‘) zu sprechen (Waldschmidt, 2010, 14f.; Bösl, 2009b, 19f.; Dederich, 2007, 20). Zugleich ist von einem Menschenbild auszugehen, „bei dem nicht mehr in der Tradition der europäischen Aufklärung einseitig Autonomie und Selbstbestimmung im Vordergrund“ stehen, „sondern Aspekte wie Abhängigkeit und Angewiesenheit, Fragilität und Zerbrechlichkeit verstärkt hervortreten“ (Dederich, 2007, 188). Aus differenzphilosophischer Sicht ist damit die Vielfalt als Regelfall zu betrachten und Konzepte der Abweichung sind zurückzuweisen (Dederich, 2007, 188; Davis, 2002, 26-32).
In letzter Konsequenz müsste sich daher aus den Dis/ability Studies ein neues Forschungsprogramm der „normality studies“ entwickeln, „welches sich von der bislang vorherrschenden, auch für den wissenschaftlichen Blick charakteristischen ‚Besonderung‘ des Phänomens Behinderung gänzlich verabschiedet, um das Augenmerk auf das für jede Kultur und Gesellschaft zentrale Phänomen der Besonderung zu richten“ (Schneider/Waldschmidt, 2012, 59).
3. Kultur-/Geisteswissenschaften und Dis/ability Studies
Auf dieser Grundlage eines sozialen und kulturellen Behinderungsmodells entfalten sich in den Dis/ability Studies unterschiedliche Diskurse, etwa zu den Themen Alterität, Differenz, → Diversity
3.1. Literaturwissenschaft
Insbesondere mit Blick auf die Deutung biblischer Texte und ihre Wirkungsgeschichte ist im Kontext der Dis/ability Studies die Erörterung der Frage wichtig, auf welche Weise gerade literarische Repräsentationsformen an der Hervorbringung und Verfestigung wissenschaftlicher, kultureller und sozialer Differenzvorstellungen einer Gesellschaft und damit auch an einer narrativen Konstruktion von Behinderung als negativer Differenzkategorie beteiligt sind (im Folgenden Schiefer Ferrari, 2012, 41f.). Literarische Texte tragen nach den Studien von Mitchell/Snyder (1997;2000) wesentlich dazu bei, „kulturelle Prozesse der Erzeugung, Aufrechterhaltung und ‚Bewältigung‘ von Differenz“ zu bekräftigen und „Grenzen und Übergangsbereiche zwischen Normalität und Abweichung in der Erfahrung der Leser“ zu konstruieren bzw. zu rekonstruieren, indem das kulturell Selbstverständliche und Normale auf der Folie des kulturell Anderen und Fremden besonders plastisch erfahrbar gemacht wird (Dederich, 2007, 107-123; hier 108f.).
Behinderungen werden immer wieder „für die Bildung vielfältiger Analogien und Metaphern herangezogen“. Dabei geht es eigentlich gar nicht um die Behinderung, vielmehr symbolisiert Behinderung „etwas Abstraktes oder Allgemeines, etwa innere Ängste, zwischenmenschliche Konflikte oder soziale Probleme wie die Folgen von Krieg und Gewalt“ und ist gekennzeichnet von einer Ambivalenz zwischen „Faszination und Abscheu, Neugier und Ablehnung, Zuwendung und Ausschluss“ (Dederich, 2007, 110f.). Behinderungs-Metaphern transportieren in der Regel diskriminierende psychologische, soziale oder moralische Wertungen, letztlich aus der irrigen Annahme heraus, von einer Behinderung aus auf die durch sie nach außen hin verkörperten inneren Defekte eines Menschen schließen zu können. Werden diese Metaphern nicht als solche wahrgenommen, entfalten sie umso mehr ihre Macht (Dederich, 2007, 114-117;119-122).
Um die Stellvertreterfunktion behinderter Charaktere in literarischen Texten besonders deutlich zu machen, verwenden Mitchell/Snyder das Bild der „narrativen Prothese“. So wie eine physische Prothese gleichermaßen auf die Behinderung und auf das Normgerechte verweist, versucht auch eine von einer Behinderung handelnde Erzählung sowohl von der Entstehung als auch „von der Auflösung, Korrektur oder dem Ausschluss einer Abweichung“ zu berichten, indem sie das Geschehen deutet und es „in einen kulturellen Bezugsrahmen (etwa in ein politisches Weltbild, eine → Anthropologie
Umgekehrt können literarische Texte auch Gegenbilder gegen Negativbewertungen von Behinderung hervorbringen und „populäre Erwartungen an menschliches Behindertsein erschüttern, indem sie den Prozess der Unsichtbarmachung, der stigmatisierenden Hervorhebung, der Normalisierung oder der Auslöschung unterlaufen und beispielsweise den behinderten Körper nicht als Sinnbild für andere soziale oder menschliche Probleme missbrauchen“ (Dederich, 2007, 123).
3.2. Dis/ability History
Der Dis/ability History geht es weniger nur darum, sich mit Klassifizierungen und Lebenslagen von Menschen mit Behinderung in der Geschichte auseinanderzusetzen, sondern mittels der Kategorie Behinderung auf das menschliche Zusammenleben in Gesellschaften und den Umgang mit Unterschieden im Ganzen zu blicken (Bösl, 2009a, 1; im Folgenden Schiefer Ferrari, 2017b, 69). Dabei untersucht die Dis/ability History „historische Prozesse der Wahrnehmung von ‚Andersheit‘ (bzw. ‚Normalität‘), die auf physische, psychische und mentale Merkmale zurückgreifen, um Differenzierungsmerkmale konstruieren zu können“ (Bösl/Klein/Waldschmidt, 2010, 8), und versucht, „in historischer Tiefe differenzierte Bilder von der Konstruktion von und dem gesellschaftlichen Umgang mit Behinderungen“ (Bösl, 2009a, 3f.) zu entwerfen und Menschen mit Behinderungen „zunehmend als Handelnde und als Subjekte der Geschichte [...] und nicht mehr nur als Behandelte“ zu betrachten (Bösl, 2009a, 8). Die Dis/ability History sieht im Übrigen in der Kategorie Behinderung ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft Europas seit der Aufklärung. „Tradierte Vorstellungen über den Umgang mit verkörperten Andersheiten in antiken und mittelalterlichen Gesellschaften“, wie etwa die von permanenter Vernachlässigung oder Verstoßung, werden hinterfragt (Bösl, 2009a, 17). „So seien die Bandbreite der familiären und gesellschaftlichen Reaktionen und Verhaltensweisen [...] sehr viel größer“ gewesen und hätten „Sorge und Pflege ebenso [...] wie die konkrete Zuweisung sozialer und wirtschaftlicher Funktionen“ eingeschlossen (Bösl, 2009a, 17). Diese dezidierte Infragestellung zeit- und kulturübergreifender Konstanten beim Phänomen Nicht/Behinderung und die vorrangige Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung als Handelnde durch die Dis/ability History sollten gerade auch bei der Lektüre biblischer Texte oder bei der Beurteilung kirchengeschichtlicher Ereignisse vor der unreflektierten Übertragung gegenwärtiger, meist reduktionistischer Annahmen schützen.
3.3. Medien- und Kunstwissenschaft
Die verschiedenen Disziplinen der Kunst- und Medienwissenschaft setzten sich im Rahmen der Dis/ability Studies mit der „Wahrnehmung und Inszenierung von Behinderung“ auseinander und erörtern, „inwieweit die Frage des Bildes und mediale Produktion kulturellen Sehens analysiert bzw. welche Rolle den komplexen Systemen von Sehen und Nicht-Sehen, von Wahrnehmungsstrukturen und Blickkonstellationen sowie von Strategien der Un/Sichtbarmachung in Wechselwirkung mit dem jeweiligen Eigensinn der Medien zugesprochen wird“ (Ochsner/Schimmel/Grebe/Bellina, 2012, 242). Diese Fragestellungen sind dabei ebenso auf das Leitmedium Fernsehen zu beziehen wie auf Visualisierungen in der Antike oder im Mittelalter bis in die Gegenwart. Ziel ist es, „diejenigen medialen Praktiken aufzuzeigen, die ,Behinderung‘ bzw. die soziale und kulturelle Differenz zwischen (Bildern von) Behinderung und Nicht-Behinderung herstellen. So geht es um die Analyse eines in bestimmter Weise kodierten, praktizierten und tradierten Sehens, das im kulturellen Modell selbst zu verorten ist“ (Ochsner/Grebe, 2013b, 7).
Wie sehr sich „Selbstverständlichkeiten des eigenen Sehens“ in Frage stellen und „vermeintlich eindeutige Gleichsetzungen wie ‚normal = schön‘ und ‚behindert = häßlich‘“ durcheinanderbringen und irritieren lassen müssen, zeigt beispielsweise die Performance-Künstlerin Mary Duffy. So hat Duffy ihren eigenen, armlosen Körper als Venus von Milo inszeniert und sich anschließend aus der Pose gelöst, „um auf die Konstruktion des behinderten Körpers aufmerksam zu machen“, indem der „Widerspruch zwischen der Imagination eines zertrümmerten Torsos als idealem weiblichen Körper und der negativen Bewertung eines real vorhandenen Frauenkörpers als behindert, weil ihm die Arme fehlen“, deutlich wird (Schneider/Waldschmidt, 2012, 130-132).
4. Religionspädagogik und Dis/ability Studies
Geht man von der kulturprägenden Wirkung des Christentums aus, müssen sich die Theologie ebenso wie andere Geistes- und Kulturwissenschaften fragen (lassen), inwieweit nicht auch sie über Jahrhunderte zu einer Konstruktion von Differenzvorstellungen beigetragen und beispielsweise die binären Gegensätze von normal/abweichend und behindert/nicht behindert entscheidend mitgeformt haben. Daraus erwächst für alle theologischen Disziplinen gleichermaßen die Aufgabe, zum einen die eigenen Traditionen auf solche Differenzkonstruktionen hin zu reflektieren, etwa beim Thema Exklusion und Inklusion (Leutzsch, 2016; Fischer, 2013), und zum anderen auch die aktuelle Vermittlungspraxis kritisch auf implizit damit verbundene Normalitäts- und Perfektibilitätsvoraussetzungen zu befragen. Neben einzelnen Ansätzen innerhalb der Theologie (u.a. Liedke/Wagner, 2016; Nord, 2015; Eurich/Lob-Hüdepohl, 2014; Liedke, 2013; Eurich/Lob-Hüdepohl, 2011; Mohr, 2011; Creamer, 2009; Liedke, 2009; Bach, 2006; Hull, 2003) findet in den letzten Jahren vor allem in der Religionspädagogik (z.B. Geiger, 2017; Grümme, 2017; Schweiker, 2017; Brieden, 2016; Nord, 2016; Kammeyer/Roebben/Baumert, 2015; Pemsel-Maier/Schambeck, 2014; Kammeyer/Zonne/Pithan, 2014; Pithan/Wuckelt/Beuers, 2013; Pithan/Schweiker, 2011) eine intensive Auseinandersetzung mit der Inklusions-Exklusions- bzw. Heterogenitäts-Vielfalt-Debatte statt. Vielfach werden dabei notwendige Verbesserungen gesellschaftlicher, insbesondere schulischer Verhältnisse in den Blick genommen; die von den Dis/ability Studies vorgetragenen Fragestellungen werden aber von der Theologie in der Regel nicht – zumindest nicht explizit – erörtert (dagegen Pithan, 2017; Betcher, 2007; Eiesland, 1994).
Dagegen setzen sich im Bereich der Bibelwissenschaft einzelne Vertreterinnen und Vertreter seit mehr als zehn Jahren intensiv mit der Bedeutung des kulturellen Behinderungsmodells für die Rezeption und Interpretation biblischer Texte sowie den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Applikation biblischer Erzählungen auseinander (z.B. Grünstäudl/Schiefer Ferrari/Distelrath, 2017; Melcher/Parsons/Yong, 2017; Grünstäudl/Schiefer Ferrari, 2012; Moss/Schipper, 2011; Raphael, 2008; Avalos/Melcher/Schipper, 2007; Schipper, 2006). So lässt sich beispielsweise an neutestamentlichen Heilungserzählungen deutlich machen, dass diese auf der einen Seite zwar die aus paradiesischen Urbildern abgeleiteten Endzeiterwartungen anfanghaft ‚realisieren‘ und auf diese Weise Zukunftshoffnungen in der Gegenwart der Leserinnen und Leser wecken können. Auf der anderen Seite hat die gleichzeitige Wahrnehmung menschlicher Fragilität aber eine erheblich deutungsverändernde Wirkung für das Verständnis der in der Bibel erzählten wundersamen Heilungen. Die in der UN-BRK geforderte „Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen“ und die „Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit“ (Art. 3 Buchstabe d) sowie ihre „volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens“ (Art. 26 Abs. 1) wird offenbar nicht eingelöst, wenn Bilder vom Paradies ebenso wie zukünftige Heilserwartungen unhinterfragt mit körperlicher Vollkommenheit verbunden werden. Vielmehr muss ein dis/abilitykritischer Perspektivwechsel wegführen von einer ‒ auch in der Theologie in Bezug auf Behinderung und Krankheit ‒ vielfach üblichen „Defizitperspektive“ zu einer schöpfungstheologischen und soteriologischen Doppelperspektivität der Gleichheit aller Menschen, also zu einer Sicht, nach der Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen von Anfang an zur guten Schöpfung Gottes gehören und mit Blick auf die Endzeit ebenso teilhaben am zukünftigen Heil Gottes (Schiefer Ferrari, 2017b, 13;17;30f.).
Eine didaktisch-methodische Implementierung solcher dis/abilitykritischen Ansätze in der Schule ist erst Schritt für Schritt zu entwickeln (Comenius-Institut, seit 2014). So bietet die noch junge Dis/ability-Forschung zwar „instruktive Ergebnisse für die Religionspädagogik, die allerdings noch umfassend rezipiert und reflektiert werden müssen“ (Pithan, 2017, 191). Dabei ist die Vermittlung von Pluralitäts- und Heterogenitätskompetenzen – im Sinne einer inklusiven Religionspädagogik bzw. Religionspädagogik der Vielfalt – Aufgabe der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Religionslehrkräften. Die Sensibilisierung für die von den Dis/ability Studies hervorgehobenen Grundaspekte des Menschseins „wie Abhängigkeit und Angewiesenheit, Fragilität und Zerbrechlichkeit“ (Dederich, 2007, 188) und die Notwendigkeit einer Orientierung an solchen Voraussetzungen sind nicht nur inhaltlich – im Gegensatz zu Vollkommenheits- und Machbarkeitsvorstellungen – zu benennen und auch auf dem Hintergrund der jüdisch-christlichen Tradition zu entfalten, sondern müssen ebenso für die je eigenen methodischen und handlungsorientierten Umsetzungsversuche gelten.
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