Deutsche Bibelgesellschaft

Handlungswissenschaft

(erstellt: Februar 2018)

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1. ‚Handlungswissenschaft‘ als Fokussierung der unhintergehbaren Theorie-Praxis-Beziehung

In ihrer Geschichte hat sich die Religionspädagogik in unterschiedlichen Weisen als Wissenschaft entfaltet. Ein bis heute vor allem in der katholischen Religionspädagogik prominentes und von einschlägigen Einführungswerken als für die Disziplin grundlegend erachtetes Paradigma (van der Ven/Ziebertz, 1993) stellt die Konstituierung der Religionspädagogik als Handlungswissenschaft dar (Schröder, 2012, 270f.). So klar diese Setzung auf den ersten Blick erscheint, so unterschiedlich sind ihre Ausformungen (Mette, 2002, 138f.).

Ein erstes einendes Moment all dieser Spielarten ergibt sich bei einer terminologischen Annäherung: Der vom Soziologen Helmut Schelsky geprägte Begriff ‚Handlungswissenschaft‘ (1963, 282-284) vereinigt in sich sowohl Momente der Praxis, die als Handlungszusammenhang gesehen und interpretiert wird, als auch der theoretischen Reflexion von Praxis in verschiedenen ‚Wissenschaften‘. Gemeint sind dabei „jene Humanwissenschaften, die ausdrücklich das menschliche Handeln thematisieren, also etwa Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Politologie, Wirtschafts- und Kommunikationswissenschaften“ (Zerfaß, 1974, 164, Anm. 1; Schröer, 1977, 207f.; Peukert, 1984, 64f.). Insofern sich ‚Praktische Theologie‘ durch ihren Bezug auf religiöse Praxis in Kirche und Gesellschaft definiert, kann mit Bernd Schröder (2001, 117) gesagt werden, dass „nahezu alle Entwürfe Praktischer Theologie“ im „weiten Sinne des Wortes ‚Handlungswissenschaft‘“ sind.

Die wissenschaftstheoretische Reflexion Praktischer Theologie als Handlungswissenschaft fokussiert deshalb zunächst auf den bis heute für die Fundierung der Praktischen Theologie und Religionspädagogik zentralen Zusammenhang von Theorie und Praxis (Brieden, 2005, 44-53; Hunze, 2013). Dabei stellt sie fest, dass deren Bezug im Grunde immer schon gegeben ist. „So wie jede Praxis ausgesprochen oder unausgesprochen voll Theorie steckt, ist umgekehrt Theorie immer schon Teil der Praxis, die ihr Gegenstand ist“: Der analytischen Trennung von Theorie und Praxis liegt ihre „dialektische Verschränkung“ voraus (Nipkow, 1978, 240). Der Begriff ‚Handlungswissenschaft‘ bringt diese Verschränkung zum Ausdruck: Theorie und Praxis sind „gleichursprüngliche“ Reflexionsbegriffe: „‚Theorie‘ zielt (...) auf ‚Praxis‘“ und Praxis ist „nur theoretisierend (...) als Praxis identifizierbar“ (Wichmann, 1999, 197-199).

Diese gegenseitige Bedingtheit lässt vielmehr gewahr werden, dass die → Religionspädagogik als Wissenschaft ihr bereicherndes Potenzial gerade dann ausspielen kann, wenn sie sich zwar auf Praxis bezieht, aber sich zugleich „dem Gegebenen nicht affirmativ aussetzt“ (Lämmermann, 1981, 153).

Die Unterschiede in den theoretischen Entwürfen beginnen nach dem damit herausgearbeiteten Minimalkonsens jedoch bereits bei der Definition dessen, was unter „Handeln“ konkret zu verstehen ist. Da zudem das Prinzip der Handlungsorientierung den Mittelpunkt der „Praktische[n] Theologie als Handlungswissenschaft“ (Zerfaß, 1974; Mette, 1979; Blasberg-Kuhnke/Könemann, 2015) darstellt, werden im Folgenden in einem ersten Schritt zunächst notwendige Differenzierungen des Handlungsbegriffes eruiert (Kapitel 2). Diese Rückversicherungen erlauben es, in ihrem Licht zentrale handlungswissenschaftliche Konzepte der Praktischen Theologie klarer darzustellen und zu analysieren (Kapitel 3). Für die weitere Forschung ergibt sich darüber hinaus die Notwendigkeit, soziologisch zu benennen, auf welchen Ebenen praktische Vollzüge theoretisch reflektiert werden können und sollen (Kapitel 4). Religionspädagogische Konsequenzen der erörterten Differenzierungen und eines dezidiert theologischen Handlungsbegriffs werden abschließend umrissen (Kapitel 5).

2. Differenzierungen des Handlungsbegriffs

Im alltäglichen Verständnis heißt ‚Handeln‘ immer ‚praktisches Tun‘ und impliziert in der Regel die Veränderung des Vorfindlichen: Indem wir uns mit bestimmten Absichten (mit Bedürfnissen, Wünschen, Interessen etc.) der Welt (Dingen, Menschen, Tieren etc.) zuwenden und dabei mit geeigneten Mitteln (Werkzeugen, Materialien, Gesprächen etc.) und orientiert an bestimmten Gewohnheiten (Bräuchen, Sitten, Normen etc.) praktisch tätig werden (= handeln), verändern wir etwas in der Welt. Ein solcher handlungstheoretisch als ‚eng‘ zu charakterisierender Begriff von ‚Handeln‘ schließt Vorgänge aus, die unbewusst geschehen (z.B. die Verdauung), und Verhaltensweisen und Erlebnisformen, die nicht unmittelbar ‚praktisch‘ wirken (z.B. Wahrnehmen, Denken, Stimmungen, Leiden) (Brieden, 2005, 64).

Von diesem engen ist ein ‚weiter‘ Begriff zu unterscheiden, der ‚Handeln‘ als menschliches Existential versteht. Das Handeln ist dann nicht mehr bloß die praktische Ausführung bestimmter Möglichkeiten, die im menschlichen Dasein liegen, sondern der Mensch bezieht sich ursprünglich durch Handeln nicht nur auf seine Umwelt, sondern auch auf sich (Feiter, 2002, 136f.). Damit schließt ‚Handeln‘ die im engen Handlungsbegriff ausgeschlossenen Verhaltensweisen und Erlebnisformen ein. Indem ich z.B. wahrnehme, verändere ich die Welt. Diese ist vom eigenen Dasein aus gesehen in ständiger Veränderung begriffen: eben durch (wahrnehmendes) ‚Handeln‘. Und diese Veränderungen geschehen, auch wenn ich nicht direkt eingreifend ‚handle‘. In diesem Verständnis besteht kein absoluter Kontrast zwischen Wahrnehmen und Handeln (Feiter, 2004, 376f.), vielmehr sind schon Momente des Handelns in den Akt des Wahrnehmens integriert (Grözinger, 1998, 310f.).

Neben der Differenzierung von ‚weit‘ und ‚eng‘ lässt sich der Handlungsbegriff ferner auch im Hinblick auf die Absicht des Handelns (Haslinger, 2015, 416-419) unterscheiden: ‚Instrumentelles Handeln‘ definiert sich durch seinen Handlungszweck, der nicht in der Handlung selbst liegt (z.B. ich gebe einer Schülerin eine schlechte Note, damit sie sich beim nächsten Test mehr anstrengt). Gegen eine solche Funktionalisierung eröffnet und realisiert ‚kommunikatives Handeln‘ (Habermas, 1988) aus wechselseitigem Interesse an den Beteiligten der Kommunikation deren jeweilige Freiheit in einem ergebnisoffenen Prozess (z.B. ich gebe einem Schüler ein Feedback zu einer Leistung, indem ich ihm erkläre, was für eine gute Bewertung noch fehlt – und kann durch die Antwort des Schülers verstehen, dass meine eigene Aufgabenstellung nicht klar genug war).

Nun lässt sich allerdings instrumentelles von kommunikativem Handeln nicht immer leicht trennen: Auch im scheinbar kommunikativen Handeln sind (häufig unbewusst) Nebenabsichten verborgen, aufgrund derer das Handeln instrumentell wird (z.B. ich will obigem Schüler gefallen, weil er beliebt ist, und widme ihm deshalb mehr Zeit), und dem scheinbar instrumentellen Handeln sind kommunikative Akte vorgelagert, die es legitimieren (z.B. sind meine Kriterien für die Notengebung mit der Schülerin zuvor in einem kommunikativen Prozess transparent ausgehandelt worden).

Wolf-Eckart Failing und Hans-Günter Heimbrock (1996, 164f.) weisen deshalb auf Grenzen eines engen sozialwissenschaftlichen Handlungsbegriffs hin. Im Rückgriff auf den Phänomenologen Bernhard Waldenfels machen sie – wie später Reinhard Feiter (2002) – einen Begriff von Handeln stark, der seiner Differenzierung in instrumentell/funktional versus kommunikativ/substantial noch vorausliegt: Der Begriff ‚antwortendes Handeln‘ (Leimgruber/Lohausen/Feiter 2014, 254-260) verweist darauf, dass wir in jedem Handeln immer schon auf etwas reagieren, das uns entgegenkommt; dass im Handeln Resonanzen spürbar werden auf etwas, das uns prägt oder beeinflusst. Nach Schleiermacher kann etwa das darstellende Handeln im Gottesdienst als eine Antwort auf diese Resonanzen gedeutet werden; es ist als Ausdruck der religiösen Identität zu differenzieren vom wirksamen Handeln, das im Sinne instrumentellen Handelns auf Reinigung und Wiederherstellung der Gemeinde zielt und zugleich im Sinne des kommunikativen Handelns auf den Dialog der Glaubenden angewiesen bleibt (Bogun, 1998). Die Dialektik von darstellendem und wirksamem Handeln liegt somit der Differenzierung von instrumentellem und kommunikativem Handeln voraus.

3. Handlungswissenschaftliche Konzepte Praktischer Theologie

Ausgehend von der dargebotenen Matrix des Handlungsbegriffs (Abb. 1) lassen sich handlungswissenschaftliche Konzepte idealtypisch als eher pragmatisch oder handlungstheoretisch charakterisieren, je nachdem ob sie einen instrumentellen oder kommunikativen Handlungsbegriff favorisieren.

Eine weitere Differenzierung ergibt sich – teils mit diesen Setzungen konvergierend – aus dem gewählten Gegenstandsbereich bzw. der praktisch-theologischen Konkretion dessen, was unter „Praxis“ verstanden wird: Enger gefasst sind das Konzepte, die sich auf die Praxis kirchlichen Handelns fokussieren (Daiber, 1977; Rahner, 1967), während handlungstheoretische Konzepte (Bäumler, 1974; Mette, 1979;1984) mit unterschiedlichen Akzentuierungen (Haslinger, 1997, 353) das gesellschaftliche Ganze im Auge haben und darin teils auch ideologiekritische Entwürfe bestätigen (→ Ideologiekritik; → Kritik). Helmut Peukert (1984, 76f.) begründet diese Ausweitung des Gegenstandsbereichs mit seinem theologischen Gegenstand, „der Selbstmitteilung Gottes im Sohn im Horizont einer universalen Solidarität im Geist“: Praktische Theologie habe sich dementsprechend universell so zu engagieren, dass „sie die bedrängenden Probleme menschlicher Praxis insgesamt im Blick hat“. Demgegenüber würden sowohl orientierungswissenschaftliche Entwürfe, die auf das Verstehen kirchlicher Kommunikation zielen (Schröder, 2001, 109-113), ebenso wie anwendungswissenschaftliche Konzepte, die eine pragmatische Optimierung überschaubarer Situationen im Auge haben (Schröder, 2001, 103-109), diese Forderung mit dem Argument zurückweisen, der Blick aufs Ganze verhindere die Wahrnehmung der je besonderen Situation. Darin besteht schließlich auch ein zentraler Kritikpunkt aus der Warte wahrnehmungswissenschaftlicher Ansätze, die den Blick aufs Ganze mit dem Sich-Einlassen auf die je konkrete Situation hermeneutisch zu verbinden suchen (Schröder, 2001, 119-124).

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Der Blick auf die Matrix zeigt in der Diagonalen von der Wahrnehmungs- zur Orientierungswissenschaft eine Akzentuierung des Sehens, in der Diagonalen von der Anwendungswissenschaft zur Ideologiekritik eine Akzentuierung des Urteilens. Allen Entwürfen gemeinsam ist der induktive Bezug auf Praxis im weitesten Sinne (Mette, 1979, 191), weshalb sie sich mit Aspekten der Praktischen Theologie als ‚Handlungswissenschaft‘ identifizieren können; das gilt allerdings nicht „hinsichtlich des methodischen Repertoires und des Modus der Theoriebildung“ (Schröder, 2001, 117).

Gleichzeitig sollten die Verortungen in der Matrix in Abb. 2 nicht überbewertet werden; sie haben eher eine heuristisch-systematisierende Funktion, als dass sie die Komplexität der Theoriebildung abzubilden geeignet wären. Sicher jedoch plausibilisiert sie die lange Zeit unterhinterfragte (Schröer, 1972; Meyer-Blanck/Grethlein, 1999, 46-56) und in der katholischen Religionspädagogik noch immer zu konstatierende Dominanz des Konzepts (Porzelt, 2009, 128-131) sowie die Tendenz in der evangelischen Religionspädagogik, das handlungswissenschaftliche Paradigma multiperspektivisch zu integrieren (Schröder, 2012, 270f.;425-429).

Sind mit allen Ausführungen bis zu diesem Punkt zunächst wichtige wissenschaftstheoretisch-abstrakte Setzungen markiert, gilt es im Folgenden, an prominenten Beispielen Operationalisierungen bzw. Konkretisierungen des handlungswissenschaftlichen Paradigmas vorzustellen. Damit wird sozusagen die methodologische Seite der Religionspädagogik als Handlungswissenschaft beleuchtet.

3.1. Der Dreischritt von Sehen – Urteilen – Handeln

Das auf den belgischen Priester Joseph Cardijn zurückgehende (Klein, 2005, 64-77), von Johannes XXIII. erstmals von Seiten des Lehramtes in der Enzyklika „Mater et magistra“ (Artikel 236) angewandte und wohl bis heute prominenteste „Grundmuster“ (Englert, 2008, 32) des handlungswissenschaftlichen Paradigmas ist der Dreischritt aus „Sehen – Urteilen – Handeln“. Besonders unterfüttert durch den handlungstheoretischen Horizont finden sich in der Sozialethik (z.B. Wiemeyer, 2015) wie auch der Religionspädagogik (z.B. Grümme, 2014; Gärtner, 2015) weiterhin aktuelle Umsetzungen dieser Denk- und Arbeitsfigur sowie erweiternde Bearbeitungen – beispielsweise Reinhold Boschkis (2007) religionspädagogischen „Vierschritt“, der dem „Sehen“ noch den Schritt „Orientieren“ vorordnet. So sollen im Sinne der phänomenologischen „Einklammerung“ eigene Vorurteile und Orientierungen wahrgenommen und reflektiert werden. Durch diese Ergänzung wird die Bedeutung wissenschaftstheoretischer Reflexionen unterstrichen.

Im Kern arbeitet eine am „Sehen – Urteilen – Handeln“ ausgerichtete Religionspädagogik, indem sie vom möglichst vorurteilsfrei und empirisch-wissenschaftlich zu bewährenden ‚Orientieren‘ und ‚Sehen‘, über den am Maßstab des Evangeliums und seiner Botschaft der Anerkennung aller Menschen durch den liebenden Blick Gottes auszurichtenden ‚Urteilen‘ voranschreitet zu diesem Urteil entsprechenden Veränderungen vorfindlicher Praxis durch ‚Handeln‘ (Mette, 1989; Klein, 2005, 64-77; Laumer, 2015, 126-132). Dieser Drei- bzw. Vierschritt ist jedoch nicht ausschließlich linear zu vollziehen, sondern versteht sich „als eine vielfach verwobene, zyklische Grundfigur wissenschaftstheoretischen Denkens“ (Heger, 2017, 195). Gerade in der somit ansichtig gewordenen „zwanglosen Plausibilität“ (Englert, 1995, 166) sowie der in vielerlei Hinsicht gegebenen Variabilität des Modells liegt sein Erfolgsrezept – auch über den Horizont des handlungswissenschaftlichen Paradigmas hinaus (Heger, 2017, 487f.).

3.2. Daiber: Operationalisierung durch pragmatische Beschränkung sowie „empirisch-kritische Methode“

In die „zunehmend konfusere“ (Meyer-Blanck/Grethlein, 1999, 52), hier von vorneherein durch Systematisierungen kanalisierte Diskussion um die Konturierung der Praktischen Theologie als Handlungswissenschaft in den 1970er-Jahren brachte Karl-Fritz Daiber mit seinem Ansatz (Mette, 1979, 193f.; Heyl, 1994, 210-213) vor allem zwei entscheidende Präzisierungen ein: Zum einen steuerte er der zusehends zu konstatierenden Weitung im Verständnis von Praxis aus pragmatischen Gründen entgegen und bestimmte „Praxis von Gemeinden und Kirchen im jeweiligen Zusammenhang gesellschaftlicher Praxis“ (Daiber, 1977, 142) als Gegenstand Praktischer Theologie. Zum anderen sah er die Disziplin als Handlungswissenschaft als eine gleichermaßen mit empirischen wie kritischen Methoden arbeitende Wissenschaft (Daiber, 1977, 23). Schröder (2001, 114-116) differenziert Daibers wissenschaftstheoretische Grundlegung der Praktischen Theologie – auch im Gespräch mit anderen Ansätzen – mittels fünf Prinzipien:

  1. 1.Empirisch-kritische Theoriebildung zur Beschreibung kirchlicher Praxis und ihrer möglichen Entwicklung: Handlungsziele definieren und Realisierungsschritte andeuten (versus rein funktionale Effizienzsteigerung etwa bei Karl-Wilhelm Dahm);
  2. 2.Eingrenzung der zu reflektierenden Praxis auf kirchliche und theologische Berufe angesichts begrenzter Arbeitskapazität (versus Entgrenzung der Praktischen Theologie als kritische Theorie religiös vermittelter Praxis in der Gesellschaft bei Gert Otto; → Ideologiekritik);
  3. 3.Konzentration auf Handlungssituationen und die in ihnen notwendigen Entscheidungen (versus auf bloße Kenntnis von Grundsätzen fokussierende Ansätze wie etwa dem orientierungswissenschaftlichen von Dietrich Rössler);
  4. 4.Interdisziplinarität zur möglichst umfassenden Beschreibung der Wirkfaktoren in der beobachteten Handlungssituation (im Bewusstsein der Verknüpfungsprobleme und der begrenzten Rezeptionsmöglichkeiten);
  5. 5.Im Prozess ihrer Reflexion zu erhebende relevante Kriterien für die Beurteilung der Handlungssituation (weder dogmatisch zu deduzieren noch sozialwissenschaftlich zu rezipieren).

Deutlich wird hier der für die Orientierungswissenschaften typische Fokus auf das verstehende „Sehen“ kirchlicher Praxis, wobei unter (1.) auch das Handeln anvisiert und unter (5.) das Urteilen zentral ist; darin hebt sich der Ansatz Daibers als handlungswissenschaftlicher Ansatz heraus.

3.3. Zerfaß: Das Regelkreismodell als Operationalisierung des Dreischritts am Beispiel des Religionsunterrichts

Analog zu Karl-Fritz Daiber war es auch Rolf Zerfaßʼ Anliegen, die handlungswissenschaftliche Grundlegung der Praktischen Theologie weiter zu fundieren (Lienkamp, 2014). Im Unterschied zu seinem evangelischen Kollegen ging es dem ehemaligen katholischen Würzburger Pastoraltheologen jedoch weniger um eine Fokussierung seiner Disziplin auf „klerikale, kirchliche, christliche oder religiös vermittelte Praxis“ (Zerfaß, 1974, 165), sondern darum, ein operationalisierendes Modell für pastoraltheologische Forschung und Arbeit zu formulieren – das von ihm so genannte „Regelkreismodell“ (Zerfaß, 1974, 166-170), das er als „Lernspirale“ (Zerfaß, 1976, 100) verstanden wissen wollte. Dieser formale bzw. methodologische Akzent erlaubt es, dieses Modell nicht nur im Kontext der Gemeinde bzw. Kirche, sondern im Folgenden auch auf den öffentlichen Ort des Religionsunterrichts an der Schule zu beziehen und es damit in seinem Grundanliegen darzustellen (Brieden, 2005, 68-79).

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Im Zentrum des Regelkreises stehen zwei Größen; zunächst die Größe, die zu regeln ist: In dem gewählten Beispiel ist der Religionsunterricht diese Regelgröße bzw. die Konkretion der „(religiösen) Praxis“, um die es der Religionspädagogik geht. Genauso wichtig ist die Führungsgröße, die den Maßstab vorgibt, nach dem geregelt wird: Auf diesen Maßstab müsste sich eine Gruppe theoretisch festlegen; z.B. könnte es das korrelationsdidaktische Ziel (→ Korrelationsdidaktik) sein, im Unterricht Leben und Glauben aufeinander zu beziehen. Dieser durch die Führungsgröße bestimmte Sollwert (Korrelationen werden sichtbar bzw. angebahnt) – bzw. in Zerfaßʼ Diktion die „Praxis 2“, also die modulierte Praxis – muss nun mit dem Istwert (etwa: Es mangelt an Berührungspunkten zwischen Glauben und Leben) der Regelgröße (konkret beobachteter Religionsunterricht) verglichen werden. Diese Aufgabe übernimmt die Vergleichsstelle, das könnte im Beispiel die empirische Unterrichtsforschung im Zusammenspiel mit der religionsdidaktischen Theoriebildung sein. Wird durch den Vergleich eine Regeldifferenz zwischen dem vorgegebenen Sollwert und dem durch den Fühler – im Beispiel könnten das Produkte von Schülerinnen und Schülern, Lernstandserhebungen, Testergebnisse oder (bei wissenschaftlicher Begleitung) auch Unterrichtstranskripte und Videoaufnahmen sein – übermittelten Istwert festgestellt, muss der Regler regelnd eingreifen. Im Beispiel wäre das die Lehrperson, die den Unterricht in Zusammenarbeit mit allen an ihm teilnehmenden Personen unter Berücksichtigung der Vergleichsstelle steuert. Der Regler ‚handelt‘, indem er eine Stellgröße (Impulse aller Art im Unterricht) auf ein Stellglied überträgt, das auf die Regelgröße einwirkt, um den Istwert wieder an den Sollwert anzugleichen. Im Beispiel wäre der Theorie-Praxis-Zusammenhang des Lehrens und Lernens ein solches Stellglied, das durch die am Unterricht teilnehmenden Personen unter Anleitung der Lehrkraft in Gang gesetzt wird. Die Regelstrecke ist der raumzeitliche Prozess, in dem die Regelgröße dem Sollwert angepasst wird, im Religionsunterricht wird sie über Rückkopplungseffekte (Antworten von Schülerinnen und Schülern, Testergebnisse etc.) ermittelt und kann individuell bei jedem Lernenden sehr unterschiedlich sein. Während die Stellglieder die Regelgröße von innen her verändern, werden von außen kommende Beeinflussungen als Störgröße bezeichnet: Im Beispiel könnten das Fehler der Lehrperson, individuelle Motivationsprobleme der Schülerinnen und Schüler, Gruppenprozesse etc. sein. Generell ist es also das Ziel, durch bewusste Modulierungen, die auf theoretisch (Theologie, Pädagogik, Didaktik etc.) gewonnenen Kriterien basieren, von einer (empirisch) realisierten „Praxis 1“ hinzuwirken auf eine modulierte und gegebenenfalls verbesserte „Praxis 2“ – im Bewusstsein, dass auch diese Praxis Teil eines unendlichen Entwicklungsprozesses ist.

Das Beispiel lässt nun nicht nur die Grundzüge des Zerfaßʼschen Regelkreismodells erkennen, sondern zugleich insinuieren, wie es durch das Regelkreismodell gelingen könnte, den Dreischritt aus „Sehen – Urteilen – Handeln“ zu operationalisieren: Regelgröße, Istwert und Regeldifferenz sind zusammen mit dem Fühler und den Störgrößen die Medien der Situationswahrnehmung im komplexen Steuerungsprozess (Sehen). Durch die Führungsgröße, den Sollwert und die Vergleichsstelle werden zusammen mit der Regelstrecke Daten zur Beurteilung der Situation erfasst (Urteilen). Nun ist es die Aufgabe des Reglers, durch Stellgrößen auf die Stellglieder einzuwirken, um den Istwert dem Sollwert anzupassen (Handeln). Deutlich wird auch, dass der kybernetische Prozess immer nur künstlich beendet werden kann (etwa durch die Vergabe von Abschlusszeugnissen): Mit dem Abiturzeugnis wird etwa ein momentaner Istwert dokumentiert, der gleichzeitig wenig über die persönliche Entwicklung des oder der Einzelnen aussagt, der oder die sich auch künftig neuen ‚Sollwerten‘ zu stellen hat.

3.4. Mette: Praktische Theologie als explizite theologische Theorie kommunikativen Handelns

Während die exemplarisch vorgestellten Ansätze vor allem auf konkretes praktisch-theologisches bzw. kirchliches Handeln sowie deren Konstituierung und Optimierung zielen, fokussiert Norbert Mette bei seinen Überlegungen um die Praktische Theologie als Handlungswissenschaft zunächst auf die grundsätzliche Frage, „was christliche Praxis ist und welche Struktur sie notwendig hat“ (Mette, 1979, 194), und versteht dabei nur solche Ansätze als handlungswissenschaftlich im engeren Sinn, die auf der Handlungstheorie beruhen (Mette, 1978, 320f.).

Zur Klärung dieser eng mit der Theorie-Praxis-Diskussion verbundenen Frage nach religiöser Praxis rekurriert Mette u.a. auf Johann Baptist Metzʼ „praktische Fundamentaltheologie“ (1977;1978; Mette, 2004, 373), welche die gesellschaftliche Verwobenheit sowie die Notwendigkeit der Kontextualisierung der gesamten Theologie herausstellt (Mette, 1999, 553). Damit zählen Metzʼ Überlegungen zu jenen systematisch-theologischen Ansätzen, „die neuerdings den praktischen Grundzug allen Theologietreibens“ (Mette, 1984, 60) akzentuieren und von daher für eine praktisch-theologische Grundlagenreflexion besonders ertragreich erscheinen. In besonderem Maß gilt dies auch für die wissenschaftstheoretischen Arbeiten Helmut Peukerts (Arens, 2000; Haslinger, 1999, 107-111).

In Anlehnung an den Pädagogen und Theologen, der maßgeblich Jürgen Habermasʼ Theorie kommunikativen Handelns (Peukert, 1988, 252-310) und damit die kommunikative Dimension des Handlungsbegriffes (Kapitel 2) für seine Theoriebildung in Anschlag bringt, wird Praxis als Chiffre dafür verstanden, dass sich das Subjekt im Jetzt und Hier sowie im Zusammenhang mit Welt und Gesellschaft handelnd konstituiert und seine Umwelt gestaltet (Mette, 1984, 72). Das gelte zudem auch für den christlichen Glauben, der ebenfalls eine Praxis im „konkreten kommunikativen Handeln“ darstelle (Metz, 1977, 66) und damit von vorneherein Teil allgemeiner menschlicher Praxis sei (Klein, 2005, 71). Handlungstheoretisch betrachtet hängen demnach sowohl Theorie und Praxis als auch Glaube und Handeln eng zusammen (Mette, 2002, 145). In den ethischen Grundprämissen der „unbedingten Intersubjektivität“ sowie der „universalen Solidarität“ (Haslinger, 2015, 280f.) sieht Peukert dabei die entscheidenden Bedingungen zum gelingenden Miteinander von Menschen, aber auch Wissenschaften inmitten des so entstehenden komplexen Handlungszusammenhangs.

In diesem kommt dem christlichen Glauben eine entscheidende Rolle zu: Erst durch die Botschaft der Auferstehung und der in der Existenz Gottes gründenden Hoffnung, dass der Tod den anderen sowie die Opfer der Geschichte nicht vernichtet sein lässt, gelingt es, die ethische Prämisse der universalen Solidarität ohne Aporie und in der ihr innewohnenden Radikalität zu (be-)denken (Peukert, 1984, 75f.;2002, 60f.). Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass Mette die Praktische Theologie nicht (nur) als Rezipientin anderer Handlungswissenschaften versteht. Die Praktische Theologie könne und müsse vielmehr die allgemeine Handlungstheorie „auf die von ihr vernachlässigten theologischen Grenzprobleme aufmerksam“ machen (Mette, 1979, 196). Somit ist sie „explizite Theorie kommunikativen Handelns“ (Mette, 1978, 345), die „in unserer konkreten Gesellschaft unter zerreißenden, aporetischen Erfahrungen eine Identität ermöglichen will, die sich der unbedingten Zuwendung Gottes an die Handlungspartner verdankt, einer Zuwendung, die im Handeln für den anderen jeweils schon immer vorausgesetzt und praktisch realisiert werden muss“ (Peukert, 1984, 76).

Mit dieser zunächst grundlagentheoretischen Verortung Praktischer Theologie verbinden sich zugleich konkrete, auch für die Praxis relevante Ziele bzw. Optionen. Nach Herbert Haslinger (1999, 109f.) – auch in Korrespondenz zu Mette (1978, 344-358;2002, 146f.;2005, 39f.) – so zum Beispiel: 1. universale Solidarität, 2. Subjektsein des Menschen, 3. Veränderung schaffende Kritik, 4. Erinnerung an die Opfer der Geschichte, 5. Vermittlung der Erfahrung der befreienden Wirklichkeit sowie der unbedingten Zuwendung Gottes, 6. Orthopraxis, 7. Herrschaftsfreiheit, 8. Selbstkritik.

Mit Rudolf Englert lässt sich schließlich dieser langen Deduktionskette ein religionspädagogisches Glied hinzufügen: Religionspädagogik verstehe sich in diesem Explikationszusammenhang einerseits grundlegend „als die interdisziplinäre Reflexion und Orientierung christlich-kirchlicher Lern- und Bildungsprozesse in dem Interesse, in ihnen jene Weise kommunikativen Handelns zur Geltung zu bringen, der jede explizite christlich-kirchliche Praxis ihrem normativen Gehalt nach zu entsprechen hätte“ (Englert, 1985, 73). Andererseits lässt sich dadurch – analog zu Haslingers Optionen für die Praktische Theologie – u.a. mit der Selbstbegrenzung des Subjektes, einem Vertrauen nicht alles leisten zu müssen, dem aus christlichem Glauben resultierenden produktiven Utopiegehalt sowie dem göttlichen Zuspruch im Scheitern (Mette, 2004, 373f.) der aus den handlungstheoretischen Vergewisserungen resultierende Auftrag für eine subjektorientierte religiöse Bildung(stheorie) ausbuchstabieren (Heger, 2017, 200f.).

3.5. Zur Kritik an handlungswissenschaftlichen Konzepten Praktischer Theologie

3.5.1. Zu kritischen Momenten einer handlungstheoretischen Grundierung

Freilich ergeben sich bezogen auf die Handlungstheorie auch nicht zu leugnende Probleme bzw. Anfragen. So muss eine handlungstheoretisch fundierte Religionspädagogik Rechenschaft u.a. darüber ablegen, ob …

  1. 1.… durch den starken Bezug auf die (Sozial-)Philosophie nicht „die normative Axiomatik des eigenen Faches in wesentlichen Teilen“ ausgelagert wird (Bucher, 2010, 29);
  2. 2.… der utopische Überschuss des aufgeladenen Praxisbegriffs die reale Praxis nicht doch sublim unter das Diktat einer eigentlich vorrangigen, christlich-normativen Vision stellt und sie dadurch entwertet (Englert, 1985, 74f.; Haslinger, 1999, 112);
  3. 3.… das durch die Theorie kommunikativen Handelns eingespielte Ideal einer universalen Kommunikationsgemeinschaft und damit einer absolut gleichrangigen Intersubjektivität – besonders in Kontexten (religiöser) Lern- und Bildungsprozesse – nicht in Wirklichkeit eine irreale Utopie darstellt (Laumer, 2015, 138; Englert, 1985, 76);
  4. 4.… die Universaltheorie des kommunikativen Handelns bzw. die von ihr ausgehende „lange Deduktionskette“ (Heger, 2017, 221) bis hinein in den religionspädagogischen Kernbereich tatsächlich in der Lage ist, die Ansprüche und auch die Eigenlogik des Handlungsbereiches christlicher Bildung und Erziehung umfänglich abzubilden (Englert, 1985).

3.5.2. Zur Kritik an den kybernetischen Versuchen der Handlungssteuerung

In Bezug auf die kybernetischen Modelle stellt sich hingegen die zentrale Frage, wie durch Theoriebildung (etwa die Theorie kommunikativen Handelns) ein „gemeinsamer Boden“ von Gegenwartsanalyse („Istbefund“) und Zielbestimmung („Sollbestand“) gewonnen werden kann (Zerfaß, 1974, 168f.); konkretisiert auf den Religionsunterricht zeigen sich vier Fragenkomplexe:

1. Bezogen auf die Handlungsziele: Wie können die zu diskutierenden Ziele einer Religionsdidaktik angesichts religiöser → Pluralisierung und Enttraditionalisierung etwa mit der Führungsgröße ‚Korrelationsdidaktik‘ und dem ‚Istbefund‘ des empirisch beobachteten Religionsunterrichts vermittelt werden (Englert/Kämmerling/Hennecke, 2014)?

2. Bezogen auf das Vertrauen in den Handlungssinn: Inwiefern beruht der Imperativ, zu einem gemeinsamen Boden zu kommen, zugleich auf der Prämisse, „dass ein gemeinsamer Boden da ist oder – anders gesagt – dass Bedürfnis bzw. Interesse [der Stellglieder: Lehrender und Lernender] und Norm [Glaube und Leben im Unterricht aufeinander zu beziehen] zumindest prinzipiell versöhnbar sind“ (Feiter, 2002, 97)?

3. Bezogen auf die Handlungsverantwortung: Ist dieser gemeinsame Boden wirklich eine Theorie kommunikativen Handelns oder liegt nicht eher die Last der Verantwortung auf den Lehrpersonen, die kraft ihres Amtes Regler und Vergleichsstelle (mit ihren subjektiven Theorien) zugleich sind und auch noch die richtigen bzw. zumindest aussagekräftige ‚Fühler‘ einsetzen müssen?

In diesem Sinne kritisiert Manfred Josuttis (1974,11) grundsätzlich, Zerfaß beachte nicht die „Transformationsimplikationen“ der Verknüpfung von empirischen Ergebnissen (Fühler), hypothetischen Konstruktionen (Stellgrößen) und theologischen Reflexionen (Vergleichsstelle, Regler).

Eine zweite grundsätzliche Kritik benennt die Übertragung eines Modells, das die Lebensfunktionen von Organismen erklärt, auf Sozialsysteme, die ganz anders funktionieren (Affolderbach, 1975).

In der Tat lässt das Regelkreismodell seine Herkunft aus der sich instrumentell verstehenden Kybernetik nicht verleugnen und wäre deshalb mit Norbert Mette (1978, 321) eher als praxeologisches denn als handlungswissenschaftliches Modell zu verstehen; als ein Modell „technisch-strategischen Handelns“, das eher am anwendungsorientierten empirisch-analytischen Wissenschaftsparadigma des kritischen Rationalismus orientiert ist als am tiefer ansetzenden emanzipatorischen Wissenschaftsparadigma der Kritischen Theorie, aus dem die Theorie kommunikativen Handelns (Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel) erwachsen ist (→ Ideologiekritik; Lämmermann, 1991, 66-69)

4. Bezogen auf die Freiheit der handelnden Personen: Wie sind individuelle Motivationsprobleme der Schülerinnen und Schüler, unkalkulierbare Gruppenprozesse und Fehler der Lehrperson nicht allein strategisch-instrumentell als abzuregelnde ‚Störgrößen‘ zu betrachten, sondern zugleich und vor Allem als Ausfluss der zu bejahenden Freiheit aller am Unterrichtsprozess Beteiligten?

Allerdings ist zu beachten, dass der ‚Regelkreis‘ kein Modell der Praxis selbst ist, sondern lediglich auf der methodischen Ebene ein Modell für den wissenschaftlichen Umgang mit der Praxis zur Verfügung stellt. Dementsprechend kann dieses Modell nur im Vollzug wissenschaftlichen Forschens und Lehrens durch reflektierte Evaluationen der wissenschaftlichen Praxis falsifiziert oder verifiziert werden. Dazu, darauf weist Martin Wichmann (1999) eindringlich hin, sind fünf Ebenen von praktisch-theologisch relevanten Theorie-Praxis-Reflexionen sorgsam zu differenzieren und aufeinander zu beziehen (Brieden, 2005, 75-79).

4. Ebenen handlungswissenschaftlicher Theorie-Praxis-Reflexion

Wichmann unterscheidet fünf soziologische Ebenen mit jeweils eigenständiger Theorie-Praxis-Problematik entsprechend der folgenden Tabelle (nach Wichmann, 1999, 226):

Handlungswissenschaft

Daraus ergeben sich zwei Dimensionen von Theorie-Praxis-Problemen (Wichmann, 1999, 226-237): Außer den ebenenimmanenten Theorie-Praxis-Problemen (horizontale, immanente Dimension) identifiziert Wichmann ebenenübergreifende Problemstellungen insofern, als die jeweils obere(n) Ebene(n) für die untere(n) Ebene(n) jene Praxis darstellen, die sie theoretisch durchdringen möchte(n) (vertikale, übergreifende Dimension): „Sowohl Gemeindeselbstverständnis und Gemeindepraxis“ (Ebene ‚Organisation‘), „Kirchenlehre und Kirchenpraxis“ (Ebene ‚Institution‘), „als auch die wissenschaftstheoretische Grundlegung der Theologie“ (Ebene ‚theoretische Wissenschaft‘) „sowie die Frage nach Praxisrelevanz und Praxisbezug der wissenschaftlichen Theologie (Ebene ‚praktische Wissenschaft‘) gehören zu den Standardthemen Praktischer Theologie“. Die Moraltheologie, die sich traditionell den Problemen auf der Ebene der ‚Person‘ widmet, hat sich vor der Einführung der Praktischen Theologie als ‚praktische Theologie‘ verstanden (Wichmann, 1999, 225;232f.).

Während innerhalb der immanenten Dimension die Subjekte, die zwischen Theorie und Praxis vermitteln, auch die von dem Theorie-Praxis-Problem Betroffenen sind, wird innerhalb der übergreifenden Dimension Theorie und Praxis verschiedenen Subjekten zugeordnet. „Das führt zu Strukturkonflikten, die nur oberflächlich betrachtet Theorie-Praxis-Fragen darstellen. Tatsächlich wird bei diesen Konflikten zwischen den Ebenen über Theorien verhandelt“ (Wichmann, 1999, 229). Genau gesehen liegen also nur innerhalb der immanenten Dimension ‚echte‘ Theorie-Praxis-Probleme vor, die nach der Frage zu beantworten sind: „In welchem Verhältnis stehen Theorie und Praxis?“, während die Probleme der übergreifenden Dimension theoretisch zu bearbeiten sind, entsprechend der Fragestellung: „In welchem Verhältnis stehen die verschiedenen Ebenen zueinander?“ Die verschiedenen Ebenen sind dabei immer als ein Gesamtzusammenhang zu betrachten, in dem sich auf je spezifische Weise die Polarität von Theorie und Praxis ausdrückt.

Deshalb ist es nach Wichmann unzulässig, die beiden Problemdimensionen auch noch miteinander zu verschränken, indem man „die ‚Theorie‘ der einen Ebene (...) kritisch mit der ‚Praxis‘ einer anderen Ebene“ vergleicht, „etwa wenn das Verhalten eines einzelnen Christen ‚der‘ Lehre der Kirche gegenübergestellt wird, oder wenn wissenschaftlich-theologische Theorie mit der Praxis einzelner Organisationen konfrontiert wird, usw.“ (Wichmann, 1999, 231). Aus den Beispielen folgt: Insofern die Ebenen Person und Organisation die ‚Praxis‘ der Kirche sind, muss es der Kirche als Institution darum gehen, den „einzelnen Christen“ bei der Wahrnehmung und Lösung seiner Theorie-Praxis-Probleme zu unterstützen, ohne durch ihre eigene Theorie („Lehre“) diese Lösung bereits vorzugeben. Und insofern sich wissenschaftlich-theologische Theorie mit den Theorie-Praxis-Differenzen aller anderen Ebenen auseinandersetzt, kann sie sich nicht unmittelbar auf die „Praxis einzelner Organisationen“ beziehen, sondern muss deren jeweils komplexen Problemzusammenhang wahrnehmen und berücksichtigen.

Beziehen wir das Modell Wichmanns nun auf den Religionsunterricht (Brieden, 2005, 53-58): Die Ebene der ‚Person‘ ist konstituiert durch alle am Unterrichtsprozess beteiligten Personen. Dass persönliche Theorie-Praxis-Probleme der Beteiligten (die Widersprüche zwischen dem, was sie reden, und dem, was sie tun), Folgen für die gesamte Lerngruppe haben, liegt auf der Hand. Die Ebene der ‚sozialen Gruppe‘ gliedert sich zunächst in die ‚Organisationen‘ der Kursgruppe und der Schulgemeinschaft mit ihren spezifischen Profilen; dann aber auch in Schule als gesellschaftliche ‚Institution‘, die in der Spannung zwischen ihrem Auftrag zur umfassenden Bildung der jungen Generation (‚Theorie‘) und der Verwirklichung dieses Bildungsanspruchs (‚Praxis‘) steht. Diese Realisierung bemisst sich konkret daran, wie die schulpolitische Aufgabe erfüllt wird, die einzelnen Schulen bei der Lösung ihrer Theorie-Praxis-Probleme zu unterstützen, indem dafür geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden: funktionelle Schulgebäude, gut ausgebildete Lehrpersonen in hinreichender Zahl, für regionale Gestaltungsmöglichkeiten offene Richtlinien und Lehrpläne etc.

Insofern der Religionsunterricht nach den Grundsätzen der Kirchen erteilt wird, spielt auch diese ‚Institution‘ eine Rolle: Sie erteilt die kirchliche Lehrerlaubnis (missio canonica, vocatio) und wirkt an den Lehrplänen mit, die sich auf kirchliche Grundlagenpläne stützen; an Schulen, die eng mit Pfarreien zusammenarbeiten, sind solche ‚Organisationen‘ ebenfalls involviert. Die Theologie ist die zentrale Bezugswissenschaft für den Religionsunterricht; von der Ebene der theoretischen Wissenschaft aus sollen die Inhalte des Religionsunterrichts den Standard dieser Wissenschaft teilen, die Methoden sollen diese Inhalte vermitteln helfen und die Unterrichtsziele sollen der christlichen Weltanschauung entsprechen; von der Ebene der praktischen Wissenschaft aus werden die Inhalte sowohl ausgewählt als auch (beispielsweise entwicklungspsychologisch) legitimiert, Methoden werden sowohl entwickelt als auch evaluiert und allgemeine Unterrichtsziele werden an Modellen diskutiert und später sowohl in Lehrplänen festgelegt, an deren Formulierung die Praktische Theologie beteiligt ist, als auch in Religionsbüchern konkretisiert, die zumeist in der Zusammenarbeit von Religionslehrern (‚Praktikerinnen‘) und praktisch-theologischen Wissenschaftlerinnen (‚Theoretikern‘) entstehen.

5. Folgerungen für die Religionspädagogik

5.1. Bewusstsein der eigenen Selbstvorgängigkeit und Selbstreferentialität

Die Religionspädagogik muss sich als Handlungswissenschaft, die den Bezug von Theorie und Praxis zum Ausdruck bringt, ihrer Selbstvorgängigkeit und Selbstreferentialität als zwei Momenten ihrer Selbstverdopplung bewusst werden, was Reinhard Feiter (2002, 58-60) für die Praktische Theologie insgesamt einfordert. Weil die Praxis, auf die Religionspädagogik sich bezieht, „schon sinngerichtet ist und bestimmten Regeln folgt“, verdoppelt sich die Praktische Theologie als Theorie der Praxis selbst, denn eine Theorie der Praxis liegt immer schon vor, z.B.: „Studentinnen und Studenten der Religionspädagogik wissen schon, was Religionsunterricht ist, wenn sie in eine Religionspädagogikvorlesung kommen“. Dieses erste Moment der „Selbstvorgängigkeit“ bedingt zum einen, dass die Religionspädagogik „Mitspielerin [ist] in einem Spiel, dessen Spielregeln sie nicht bestimmt“, und zum anderen, dass sie sich „auch stets in einem gewissen Sinne [entgeht]: Sie kommt ‚zu spät‘ und holt diese ‚Verspätung‘ nie mehr auf“. Das zweite Moment der Selbstverdoppelung ist das der „Selbstüberschreitung“ oder „Selbstreferentialität“, das Wichmann als Theorie-Praxis-Problem der fünften Ebene charakterisierte. Die Religionspädagogik bezieht sich nicht nur auf die Praxis der über ihr liegenden Ebenen, sondern ist selbst auch eine Praxis, die sie selbstkritisch theoretisch zu analysieren hat. Sie muss die Kriterien ihrer Analyse aus ihrer eigenen Reflexion der Praxis auf den anderen Ebenen gewinnen und dann auch auf sich selbst anwenden können (Daiber).

5.2. Produktiv-kritisches Weiterdenken handlungswissenschaftlicher Theoriebausteine

Neben dieser Selbstvergewisserung der Religionspädagogik als Wissenschaft lassen sich im skizzierten handlungswissenschaftlichen Theoriehorizont nicht wenige Theoriebausteine ausmachen, deren produktiv-kritisches Weiterdenken im Jetzt und Hier ein unausgeschöpftes Potenzial zeitigt:

So sind beispielsweise die Schätze des Regelkreismodells und der hilfreichen Differenzierungen Wichmanns in der religionspädagogischen Forschungspraxis noch nicht gehoben, während sich der zugänglichere Dreischritt von Sehen, Urteilen und Handeln weiter größerer Beliebtheit erfreut (z.B. Grümme, 2014; Gärtner, 2015). Hier könnten religionspädagogische Forschungsprojekte eine größere Tiefenschärfe gewinnen, wenn Sie die methodischen Hilfsmittel des Regelkreismodells nutzten, eine soziologisch genauere Einschätzung der von ihr beobachteten Ebenen von Theorie-Praxis-Problemen vornähmen sowie die beiden Dimensionen verschränkenden Fragestellungen wahrnähmen und vermieden. Nur so ist Subsidiarität als zentrales sozialethisches Prinzip auch religionspädagogisch zu realisieren.

Ein ebenfalls bleibendes und stets wach zu haltendes Vermächtnis handlungswissenschaftlicher Reflexion stellt ein weit gefasster Begriff von Handeln dar – u.a. als antwortendes Handeln (Kapitel 2). Ein solcher erlaubt es, nicht allein kognitive Entwicklungen und ihre Repräsentationen in Handlungsvollzügen theoretisch zu verfolgen, sondern religionspädagogisch die Aufgabe anzugehen, tiefer liegende Veränderungen von Einstellungen und Haltungen zu beobachten, zu beurteilen und anzuregen. Dabei könnte die „Praktische Pneumatologie“ von Michael Böhnke (2017) zu einer zentralen systematischen Grundlage werden, erlaubt sie es doch, „Gottes Geist im Handeln der Menschen“ nicht nur in jenen Handlungsvollzügen aufzuweisen, die von sich her eine Geistbestimmtheit behaupten und die immer auch ideologiekritisch zu beurteilen sein werden, sondern die Personalität des Geistes als eine „dem Handeln und Verhalten immanente adverbiale Bestimmtheit“ wahrzunehmen (Böhnke, 2017, 181f.).

5.3. Religionspädagogik als anwendungsorientierte Handlungswissenschaft

War es nach einer Zeit der Bevormundung der anderen theologischen Disziplinen durch ihre ‚Königsdisziplin‘ der Dogmatik nötig gewesen, sich von einem der Religionspädagogik zugetragenen Verständnis als bloße Anwendung der systematisch erhobenen Glaubenswahrheiten auf die Niederungen schulischer oder katechetischer Praxis abzuwenden – und dazu leistete ihr Selbstverständnis als Handlungswissenschaft einen wertvollen Beitrag (Heger, 2017, 101-136;186-189) –, kann die Religionspädagogik heute selbstbewusst ihre Aufgabe angehen, etwa in ihrem Zweig der Fachdidaktik für den katholischen, evangelischen oder kooperativen Religionsunterricht, Modellierungen von theoretischen Ergebnissen der anderen theologischen Disziplinen im Blick auf die Wertevorstellungen (Gennerich, 2010) oder religionspsychologischen Entwicklungen bei Kindern und Jugendlichen (Reis, 2009) vorzunehmen. Sofern sie die „Anwendung von Theorie, d.h. von theologischen Kenntnissen und Kunstregeln, auf Praxis“ reflektiert (Schröder, 2001, 108), ist sie Anwendungswissenschaft in einem positiven, nicht abwertenden Sinne (Heger, 2017, 224) und wird als solche gerade von den Lehrerinnen und Lehrern als Dienstleisterin (etwa zur elementarisierenden Transformation komplexer theologischer Konstrukte oder zur Begleitung in Praxisphasen) (→ Elementarisierung) auch angefragt (Woppowa/Caruso, 2017). Dabei geht es nicht nur um die Anwendung theologischer, sondern auch pädagogischer Kenntnisse und Kunstregeln, z.B. im Blick auf die Diagnose von Lernprozessen (Reis/Schwarzkopf, 2015).

5.4. Von der Mono- hin zur kritisch-reflektierten Multiperspektivität Öffentlicher Religionspädagogik

All diese Optionen sollen jedoch ihrerseits wiederum nicht einem einseitigen Verständnis der Religionspädagogik als Handlungswissenschaft das Wort reden. Angesichts der angeklungenen Chancen und Grenzen dieser religionspädagogischen Perspektive sowie komplexer zu bearbeitender Probleme in Gesellschaft, Kirche, Religionsunterricht etc. (Heger, 2015, 89) darf es nämlich weniger die Frage sein, ob die Religionspädagogik gerade als Handlungswissenschaft in der Lage ist, sich den Zeichen der Zeit zu stellen und die Zukunft (religiöser Bildung) (→ Bildung, religiöse) positiv zu gestalten; zumal ein flächendeckender Konsens unter Religionspädagoginnen und Religionspädagogen weder wahrscheinlich noch erstrebenswert scheint (Ziebertz, 1999, 155;121). Vielmehr ist danach zu fragen, wie die Religionspädagogik handlungswissenschaftliche sowie ideologiekritische, orientierungswissenschaftliche und andere Momente ihrer Theorie(geschichte) (Abb. 2) im Sinne einer kritisch-reflektierten Multiperspektivität dazu fruchtbar machen kann (Heger, 2017, 570-581). Denn wichtiger als die Herausbildung einer kohärenten Theorie muss es sein, dass religionspädagogische Theoriebausteine zum einen im Horizont der Botschaft des liebenden Gottes stehen (Schüßler, 2015, 100) und um dieser Willen zum anderen auch in der Lage sind, positiv auf das Leben der Menschen in der Praxis (religiöser Bildungsprozesse) einzuwirken – eine nur scheinbar triviale und simple Vision, welche die wohl verstandene Diskussion um das Theorie-Praxis-Problem in der Transparenz einer „Öffentlichen Religionspädagogik“ (Grümme, 2015; Blasberg-Kuhnke/Könemann, 2015) wach zu halten im Stande ist.

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Abbildungsverzeichnis

  • Matrix des Handlungsbegriffs © Norbert Brieden
  • Matrix zu (handlungswissenschaftlichen) Entwürfen Praktischer Theologie © Norbert Brieden
  • Handlungswissenschaftliches Regelkreismodell Praktischer Theologie nach Rolf Zerfaß © Johannes Heger
  • „Fünf soziologische Ebenen des Theorie-Praxis-Problems“ (Wichmann, 1999, 226) © Norbert Brieden

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