Intertextualität
(erstellt: Februar 2018)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Intertextualitt.200262
1. Intertextualitätsbegriff
1.1. Bedeutung
Mit dem Konzept Intertextualität werden Texte in ihren Bezügen zu anderen Texten analysiert und kategorisiert. Der Terminus Intertextualität verdankt sich (post-)strukturalistischen Theorien in der Literatur- und Kulturwissenschaft der 1960er Jahre; seit Ende der 1980er Jahre gewinnt das Konzept auch zunehmend an Bedeutung in theologischen, insbesondere exegetischen Studien. Grundlegende Überzeugung des Intertextualitätsparadigmas ist es, dass jeder Text in intertextuellen Bezügen zu anderen Texten steht, wenn sich auch der Umfang sowie die Art und Weise dieser Bezugnahme sehr unterschiedlich gestalten. So entsteht zu jedem Text ‚im Zwischenraum mit anderen Texten‘ ein intertextuelles Sinnpotential, das kein Einzeltext für sich alleine genommen generieren kann.
1.2. Begriffsgeschichte
Der Begriff Intertextualität wurde geprägt von Julia Kristeva:
„Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen.“ (Kristeva, 1972, 346).
Kristevas Definition findet ihren theoretischen Rahmen klar in (post-)strukturalistischen und semiotischen Literatur- und Kulturtheorien der späten 1960er Jahre und verdankt diesem Kontext auch ihr Profil:
- Kristeva beschreibt Intertextualität als generelle Eigenschaft eines jeden Textes, ist also eher texttheoretisch als textanalytisch zu verstehen. Der Prozess der Produktion und Rezeption eines Textes ist immer nur in Beziehung zu anderen Texten vorstellbar. Intertextualität beschreibt damit ein Konstitutivum von Texten überhaupt, ist also ein Teilaspekt von Textualität.
- Jeder Text ist zugleich Schnittpunkt anderer Texte und selbst Intertext im ‚Mosaik der Zitate‘. Diese Position markiert einen deutlichen Gegenentwurf zum zeitgenössischen (französischen) Strukturalismus, der Texte als abgeschlossene Strukturen versteht und analysiert.
- Das Intertextualitätskonzept Kristevas grenzt sich ebenfalls bewusst von subjekttheoretischen Ansätzen ab. Weder empirische Autorinnen und Autoren bzw. Leserinnen und Leser noch Autor und Leser als texttheoretisches Konzept spielen in ihrem Entwurf eine Rolle. Sie treten zugunsten der Vorstellung eines (unpersönlichen) Sich-Überschneidens verschiedener Texte und Kulturen zurück.
- Kristeva wollte mit dem Intertextualitätskonzept eine Erweiterung der Literaturwissenschaft hin zu einer Theorie der Gesellschaft und Kultur anstoßen; ‚Text‘ ist bei ihr letztlich mit ‚Kultur‘ bzw. ‚Gesellschaft‘ identisch. Da der Begriff Intertextualität in der Literaturwissenschaft jedoch sehr schnell mit textanalytischem Interesse rezipiert wurde, verwendete Kristeva für ihr weites Konzept einige Jahre später den Begriff der ‚Transposition‘.
Kristevas Intertextualitätskonzept lässt sich forschungsgeschichtlich als Weiterentwicklung des Dialogizitätsbegriffs des russischen Literaturtheoretikers Michail Bachtin verstehen, das allerdings zunächst einmal die Vielstimmigkeit innerhalb eines einzelnen Textes beschreibt, also auf einer intratextuellen Ebene arbeitet. Zudem ist jeder Text, jedes Wort bei Bachtin immer nur als Äußerung eines Subjekts in einer konkreten Situation bzw. einem konkreten Kontext mit einer bestimmten Zielgruppe zu verstehen. Jedes Wort steht damit immer schon in einem Dialog mit Äußerungen anderer Subjekte in anderen Kontexten.
Der Intertextualitätsbegriff hat innerhalb weniger Jahre eine breite Rezeption in sehr unterschiedlichen theoretischen Kontexten in der Literaturwissenschaft erfahren. Die grundlegende Idee Kristevas der Verwobenheit eines jeden Textes mit anderen Texten wurde dabei in unterschiedlichen Konkretionsgraden textanalytisch reflektiert.
2. Intertextualität in der Literaturwissenschaft
In der historischen Literaturwissenschaft wurden bereits vor Kristeva Text-Text-Relationen im Rahmen von Quellenkritik und Einflussforschung untersucht. Mit dem Intertextualitätskonzept werden diese allerdings in einen neuen theoretischen Rahmen gestellt. Besonders die Abkehr von einem für das Herstellen von Textrelationen maßgeblichen Autorsubjekt stellt dabei den deutlichsten Perspektivenwechsel dar. Da Kristevas Konzept sich jedoch auf alle Texte bezieht, ermöglicht es zunächst einmal nicht, gezielte Textanalysen zu konkreten intertextuellen Bezugnahmen einzelner Texte anzustellen bzw. stark intertextuell geprägte Texte von weniger intertextuellen Texten zu unterscheiden. Verschiedene literaturtheoretische Studien haben daher versucht, die weite Perspektive Kristevas mit einem methodisierbaren Konzept zu ergänzen bzw. zu spezifizieren, so dass eine Textanalyse konkreter Texte möglich wird. Anhand exemplarischer Entwürfe lassen sich wesentliche Felder der Diskussion veranschaulichen:
- Unterschiedliche Formen von Intertextualität beschreibt der französische Sprach- und Literaturwissenschaftler Gérard Genette (1983). Er verwendet als Sammelbegriff für intertextuelle Phänomene ‚Transtextualität‘ und unterscheidet dann Phänomene unterschiedlicher Bezugnahme (Intertextualität als Präsenz eines Textes in einem anderen, Paratextualität als Beschreibung für Begleittexte wie z.B. ein Vorwort, Metatextualität als die Reflexion der intertextuellen Bezugnahme in einem Text, Architextualität als Zuordnung eines Textes zu Genres und als Zentralbegriff Hypertextualität, der detailreich Analysekategorien für Text-Text-Relationen bereitstellt.
- Eine sehr differenzierte Systematik zur Beschreibung intertextueller Bezüge haben Ulrich Broich und Manfred Pfister (1985) vorgelegt. Neben der Einzeltext-Referenz und Systemreferenz unterscheiden sie zwischen ‚horizontaler‘ (zwischen Autorin und Autor sowie Rezipientin und Rezipient) und ‚vertikaler‘ (zwischen Text und Prätext) Dimension von Intertextualität. Darüber hinaus entwickeln sie quantitative (nach der Dichte und Häufigkeit intertextueller Verweise in einem gegebenen Text) und qualitative Kriterien zur Untersuchung intertextueller Bezüge: Referentialität (Wird ein Wort oder eine linguistische Struktur verwendet oder wird auf sie verwiesen?), Kommunikativität (Grad der Bewusstheit des intertextuellen Bezugs beim Autor wie beim Rezipienten sowie Deutlichkeit der Markierung im Text selbst), Autoreflexivität (Metakommunikative Reflexion über intertextuelle Bedingtheit im Text selbst), Strukturalität (syntagmatische Integration der Praetexte in den Text), Selektivität (unterschiedliche Grade in der Prägnanz intertextueller Verweisung) und Dialogizität (Spannung zwischen ursprünglichem und neuem Kontext eines Wortes/Satzes).
- Schon bei Broich/Pfister wird Intertextualität als Phänomen der Textrezeption beschrieben. Diese rezeptionsorientierte Perspektive nimmt auch Susanne Holthuis (1993) ein, die Intertextualität und Textualität nicht als Eigenschaft von Texten, sondern nur als Ergebnis einer Interaktion zwischen (Modell)Leser und Text in der Lektüre versteht. Ebenfalls innerhalb eines leserorientierten Modells begegnet Intertextualität bei Umberto Eco. Er geht wie Kristeva davon aus, dass kein Text ohne das Herstellen intertextueller Bezüge verstehbar ist. Jede Lektüre eines Textes verlangt vom Leser eine Aktualisierung der vorfindlichen sprachlichen Zeichen. So werden im Lektüreakt immer schon bereits durch die Zuordnung des Textes zu einer ‚Enzyklopädie‘ im Rahmen ‚intertextueller Szenographien‘ Verknüpfungen zwischen Texten hergestellt, die die Semantik und Pragmatik eines gegebenen Textes verändern (Eco, 1987).
- Die Textsignale, die eine intertextuelle Lektüre motivieren, also die Markierung von Intertextualität, sind Gegenstand verschiedener Untersuchungen. Die Studie von Jörg Helbig (1996) hat dabei auch unterschieden, wie und in welchem Grad intertextuelle Dispositionen eines Textes von bestimmten Leserinnen und Lesern als solche erkannt werden.
- Magdolna Orosz (1987) legt schließlich eine Studie zur „Intertextualität in der Textanalyse“ vor, in der sie ein konkretes textanalytisches Instrumentarium für eine intertextuelle Syntagmatik, Semantik und Pragmatik entwickelt.
Während Kristeva sowohl vom Autor (der Verweise auf andere Texte in sein Werk integriert) und vom Leser (der diese Verweise erkennt und intendierte Bezüge herstellt) zugunsten eines Prozesses der unendlichen Semiose abrückt, findet man in den verschiedenen Intertextualitätsansätzen der Folgejahre durchaus starke Leserkonzepte wieder. Der kurze Überblick über intertextuelle Studien in der Literaturwissenschaft zeigt die enorme Bandbreite der Diskussion in den letzten Jahrzehnten. Das Spektrum erweitert sich noch einmal, wenn man neben Text-Text-Relationen (Intertextualität) auch noch Verknüpfungen zwischen Texten und anderen Medien (Intermedialität) berücksichtigt.
3. Intertextualität in der Bibelwissenschaft
Die neu- und alttestamentlichen Texte sind vielfach geprägt von intertextuellen Bezügen. Diese werden zum Teil programmatisch einer Schrift vorangestellt (z.B. die Genealogie des Matthäus als narrative Abbreviatur alttestamentlicher Erzählzusammenhänge oder der Johannesprolog mit einem expliziten, wörtlichen Bezug zu Gen 1
Einige Entwürfe zur biblischen bzw. kanonischen Theologie aus den 1970er- und 1980er-Jahren greifen bereits Impulse der Intertextualitätsdebatte auf (Hübner, 1995). Aber erst Ende der 1980er Jahre wurden die ersten umfangreicheren exegetischen Arbeiten publiziert, die versuchten, Textbeziehungen im Rahmen der Intertextualitätstheorie zu beschreiben. Genannt seien an dieser Stelle vor allem die Titel von Richard Hays (1989) und der Sammelband von Draisma (1989). Der Schwerpunkt der grundlegenden Studie von Hays liegt auf den Beziehungen paulinischer Briefe zu alttestamentlichen Prätexten. An einigen Stellen wird zwar eine bestimmte Lesergruppe in den Blick genommen, mit der Fokussierung auf Paulus als Autor liegt jedoch eine deutliche Konzentration auf die Produktionsbedingungen der Texte vor. Auch Hays entwickelt – ähnlich wie viele Ansätze in den Literaturwissenschaften – Kriterien zur Untersuchung intertextueller Bezüge:
- Availability: Liegt eine vermutete Quelle für ein intertextuelles Echo dem Autor und/oder den Erstleserinnen und Erstlesern vor?
- Volume: Dieses Kriterium fragt in erster Linie nach dem Grad expliziter Wiederholung von Wörtern oder Satzteilen.
- Recurrence: Wie oft spielt Paulus an anderen Stellen seiner Briefe auf denselben alttestamentlichen Text an?
- Thematic Coherence: Wie gut passt die angespielte Stelle in den Zusammenhang der paulinischen Argumentation?
- Historical Plausibility: Hätte Paulus den durch die Anspielung herbeigeführten Bedeutungswandel intendieren können?
- History of Interpretation: Haben andere (professionelle oder laienhafte) Leser diesen Schriftbezug entdeckt?
- Satisfaction: Ergibt die vorgeschlagene Lesart einen zufrieden stellenden Sinn?
Hays ist es mit seiner Monographie gelungen, intertextuelle Fragestellungen international für die Exegese fruchtbar zu machen. Die von Hays vorgeschlagenen Tests bzw. Kriterien bieten eine Möglichkeit, über die starre Klassifikation ‚quantitativ‘ und ‚qualitativ‘ hinaus, die Bezüge biblischer Texte zu analysieren und nehmen historisch plausible Produktions- und Rezeptionsbedingungen in den Blick. Hays hat zudem die hermeneutische Bedeutung intertextueller Bezüge (Echos, Allusionen) über reine Quellenkritik und Zitatenforschung hinaus betont.
Wie in der Literaturwissenschaft wurde auch in der Exegese das Intertextualitätsparadigma in sehr unterschiedlichen Facetten aufgegriffen, wie einige Beispiele zeigen:
- Einige exegetische Studien greifen direkt Ansätze aus der Literaturwissenschaft auf. Eine Anwendung des Ansatzes von Broich/Pfister findet sich u.a. in alttestamentlichen Studien von Marianne Grohmann (Grohmann, 2000). Wie Grohmann zieht zudem Daniel Boyarin (1994) Verbindungslinien zwischen Intertextualität und jüdischer (Midrasch-)Hermeneutik.
- Georg Steins (1999) sowie Thomas Hieke/Tobias Nicklas (2003) erarbeiten mit expliziten Rückgriffen auf Intertextualitäts- bzw. Dialogizitätskonzepte das Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre. Der biblische Kanon dient dabei als Interpretationsraum, der ursprünglich selbstständige Einzelschriften als Leseanweisung in einen neuen intertextuellen Kontext stellt. Diese Studien innerhalb des biblischen Kanons sind als Spezialfall solcher intertextueller Ansätze zu sehen, die rezeptions- bzw. wirkungsgeschichtliche Fragestellungen vor dem Hintergrund der Intertextualitätsforschung neu formulieren.
- Im Bereich der Paulusexegese haben Richard B. Hays (2005) und Michael Schneider (2011) mit explizitem Rückgriff auf Intertextualitätskonzepte die grundlegend narrative Substruktur der vordergründig argumentativen paulinischen Texte betont.
- Steve Moyise hat aufgrund der unterschiedlichsten Intertextualitäts-Ansätze innerhalb der Exegese versucht, verschiedene Kategorien intertextueller Studien zu unterscheiden. Ebenfalls eine Kategorisierung intertextueller exegetischer Studien, aber auch eine grundlegende hermeneutische Reflexion und Einbettung in ein Gesamtkonzept einer zeichentheoretisch fundierten Exegese bietet Stefan Alkier. Er beschreibt zunächst einmal produktionsorientierte Ansätze, die intertextuelle Bezüge auf Basis von konkreten Zitaten, Anspielen oder narrativen Abbreviaturen untersuchen. Daneben fasst Alkier rezeptionsorientierte Ansätze zusammen, die solche intertextuellen Bezugnahmen untersuchen, die in bestimmten Rezeptionskontexten tatsächlich oder wahrscheinlich hergestellt wurden. Während exegetische Arbeiten von den meisten Autorinnen und Autoren in diese produktions- und rezeptionsorientierten intertextuellen Lektüren eingeteilt werden, verweist Alkier noch auf eine weitere Form der ‚generativen Intertextualität‘ als „ein prinzipiell unbegrenztes performatives Verfahren“ (Alkier, 2016) der Herstellung intertextueller Bezüge jenseits produktions- oder rezeptionsorientierter Intertextualität. Alkiers Konzept zur biblischen Intertextualitätsforschung bietet die Möglichkeit, verschiedene konkrete Arbeiten an (biblischen) Texten aufeinander zu beziehen und in einem Gesamtzusammenhang zu verorten.
4. Intertextualität in der Religionspädagogik
Intertextuelle Ansätze haben ihren ersten Ort innerhalb der Literatur- und Kulturwissenschaft und wurden innerhalb der Theologie vor allem in den exegetischen Disziplinen rezipiert. In dem Maße wie die Intertextualitätsforschung in die Bibelhermeneutik aufgenommen wurde, hat sie aber auch Bedeutung für bibeldidaktische Entwürfe (→ Bibeldidaktik, Grundfragen
Schließlich bietet das Intertextualitätsparadigma in seiner weiten Form (‚generative Intertextualität‘ nach Alkier) an der Grenze zu Intermedialität Kategorien zur Wahrnehmung und Analyse (pop)kultureller Phänomene in der Religionspädagogik. Darauf hat Manfred L. Pirner hingewiesen, der in einem weiten – von Semiotik und Cultural Studies geprägten – Intertextualitätskonzept einen theoretischen Rahmen für die theologische Wahrnehmung popkultureller Phänomene (Pirner, 2009, besonders 203f.) sieht.
Literaturverzeichnis
Ein ausführliches Literaturverzeichnis findet man für die Literaturwissenschaften in Berndt/Tonger-Erk (2013) und für Theologie/Bibelwissenschaften in Schneider (2011).
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- Steins, Georg, Die „Bindung Isaaks“ im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre, Freiburg i. Br. 1999.
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