Deutsche Bibelgesellschaft

Pädagogik

Schlagworte: Erziehungswissenschaft

(erstellt: Januar 2015)

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1. Begriffsbestimmung

Nicht nur im alltäglichen Sprachgebrauch werden Pädagogik und Erziehungswissenschaft oftmals synonym verwendet. Historisch betrachtet sind die Begriffe doch gelegentlich different gebraucht worden. Der Begriff „Pädagogik“ leitet sich vom griechischen „pais agein", der „Führung des Knaben“ ab und hat somit traditionell einen starken Bezug auf die → Erziehung des Kindes. In diesem Sinne wird Pädagogik oftmals mit der erzieherischen Praxis und ihrer normativen Ausgestaltung in Verbindung gebracht. Der Begriff der „Erziehungswissenschaft“ wird dagegen mit einem breiteren Fokus assoziiert, da er den gesamten Lebenslauf mit allen seinen relevanten Entwicklungs- und Lernunterstützungsprozessen umfassen soll (Lenzen, 1994). „Erziehungswissenschaft“ wird daher häufig mit der empirischen (→ Empirie) Rekonstruktion der erzieherischen, sozialisatorischen, didaktischen etc. Praxis assoziiert. In der aktuellen Debatte kann mit den Begriffen der „Lernwissenschaft“ oder auch der „Bildungswissenschaft“ noch eine andere Fokussierung gemeint sein: Hierbei steht oftmals nicht der Erziehende und Lehrende, sondern der Sich-Bildende und Lernende im Mittelpunkt der theoretischen Reflexionen und praktischen Bemühungen. Festzuhalten bleibt, dass sich in der Gegenwart mit diesen unterschiedlichen Begrifflichkeiten in der Regel keine strukturellen, programmatischen oder methodischen Unterscheidungen verbinden lassen.

2. Entwicklung

Die Entwicklung der Pädagogik/Erziehungswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin beginnt in der → Aufklärung (Tenorth, 2004). Das bedeutet nicht, dass das Nachdenken über erzieherische Phänomene nicht schon in den Anfängen der Menschheit vor vier Millionen Jahren begonnen hätte; und es bedeutet auch nicht, dass die Reflexionen über Erziehung und → Bildung in den seit der Antike vorliegenden kulturellen Überlieferungen – vor allem in Schriften, aber auch in Bildern und Artefakten – heute obsolet geworden wären. Denn diese zeigen immer noch aktuelle Theorie- und Problemgehalte; doch werden Fragen nach den Gründen, Inhalten, Formen und Zielen der Erziehung und Bildung entweder in einem politischen (Platon, Aristoteles), einem rhetorischen (Quintilian, Cicero) oder auch in einem theologischen (→ Augustinus, Thomas von Aquin) Kontext abgehandelt (Böhm, 2004). Der über Jahrhunderte sehr dominante Zusammenhang von → Politik, → Theologie und Pädagogik zerbricht dann in der Aufklärung und die Pädagogik entwickelt sich als eine eigenständige Disziplin mit „einheimischen“ (Herbart) Begrifflichkeiten, Theorien und Modellen sowie Methodiken und Praktiken, indem sie einerseits die vorwissenschaftlichen Traditionen der Erziehungs- und Bildungslehren aufgreift und indem sie anderseits die epistemologischen Postulate der intersubjektiven Überprüfbarkeit aufnimmt. Hierbei sind die Fragen nach der Pädagogik als einer empirischen Disziplin, einer prinzipientheoretischen Reflexion und einer Theorie der Erziehung zunächst noch im Rahmen von → Philosophie und Theologie leitend. Es ist daher kein Zufall, dass der erste Beleg für den Begriff „Erziehungswissenschaft“ ins Jahr 1766 und der für den Begriff „Pädagogik“ ins Jahr 1771 fällt.

Für die prädisziplinäre Etablierung der Pädagogik als Wissenschaft stehen paradigmatisch drei Autoren: Ernst Christian Trapp (1745-1818), der 1780 mit seinem Werk „Versuch einer Pädagogik“ den Entwurf einer empirischen, auf Beobachtung und Experiment gestützten Erziehungswissenschaft vorlegt, die aufgrund der reflektierten Datenbasis hermeneutische (→ Hermeneutik) und methodische Hinweise für die Praxis ableiten will; → Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834), der vor allem in seinen „Vorlesungen“ einen bis heute gültigen Grundriss pädagogischer Fragen und Perspektiven in einer dialektischen Perspektive aufgeworfen hat; und schließlich Johann Friedrich Herbart (1776-1841), der mit diversen Schriften, u.a. auch mit seinen „Vorlesungen“, die Pädagogik als Disziplin zwischen der praktischen (ethischen) Philosophie, die die normativen pädagogischen Vorgaben entwerfen und der Psychologie, die die Grundlagen für die praktische Umsetzung liefern sollte, etablieren möchte. Zu erwähnen ist auch die 1779 realisierte Einrichtung einer ersten ordentlichen Universitätsprofessur für Pädagogik an der Universität Halle, die das Ziel verfolgte, eine einheitliche universitäre Lehrerbildung zu entwickeln; nicht zufällig war der erste Lehrstuhlinhaber Trapp, der allerdings nach Streitigkeiten mit der theologischen Fakultät, in der die Pädagogik angesiedelt war, die Universität schon 1783 wieder verließ.

Im 19. Jahrhundert hat sich dann die Pädagogik vor allem in verschiedenen Praxisfeldern institutionalisiert, was mit der Durchsetzung der → Schulpflicht (1864 besuchten bereits 85% aller schulpflichtigen Kinder die Elementarschule), der Einrichtung von Kindergärten (Fröbel) und Armen- und Fürsorgeanstalten (Wichern und Kolping), der Etablierung der dualen Berufsausbildung nach 1879 sowie mit Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen für Jugendliche (evangelische und katholische Jugendverbände; → BDKJ, kath. Jugendverbände; → Jugendarbeit, evangelisch; → Jugendarbeit, katholisch) und Erwachsene (Volksbildung, Volkshochschule) einherging (Grunert, 2006). Die damit verbundene Expansion von pädagogischem – theoretischem wie praktischem – Wissen führte zur Herausbildung einer Vielfalt von pädagogischen, zunächst nicht akademischen Berufen.

Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin setzt sich dann im Zuge der akademischen Ausbildung der Volksschullehrerschaft während der Weimarer Republik durch. Dieser Institutionalisierungsprozess wurde flankiert durch die Einführung einer einheitlichen vierjährigen Grundschule (1919), den Ausbau des Berufs- und Fachschulwesens nach 1920 und der Entwicklung eines kommunalen und von freien Trägern organisierten Systems der Jugendpflege und -fürsorge sowie die Etablierung der → Erwachsenenbildung durch Volkshochschulen. Dieser Institutionalisierungsprozess wird begleitet von Debatten um die Autonomie der Pädagogik, um die Bestimmung pädagogischen Wissens, die Entwicklung methodenorientierter Paradigmata und die Konkurrenz verschiedener Wissensformen. Auch deshalb dauerte die Entwicklung eines spezifischen erziehungswissenschaftlichen Ausbildungsprofils noch bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, wurden doch bis dahin notwendige Studieninhalte auch von verwandten Disziplinen wie Philosophie, Theologie, Soziologie oder Volkskunde (→ Ethnografie) angeboten.

Institutionsgeschichtlich beginnt daher die eigentliche Erfolgsgeschichte der Pädagogik erst in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts: 1964 wird die „Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“ gegründet; es kommt zu einer Akademisierung der Lehrerausbildung für Grund-, Haupt- und Sonderschulen sowie nach dem 1957 eingeführten wissenschaftlichen Magisterstudiengang zur Einrichtung verschiedener praxisbezogener Diplomstudiengänge (z.B. Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung, Sonderpädagogik) ab dem Jahr 1969. Die Erziehungswissenschaft zählt heute zahlenmäßig zu den zehn stärksten Universitätsfächern in Deutschland; wobei quantitativ die Teildisziplinen Sozialpädagogik, Kinder- und Jugendarbeit sowie Erwachsenenbildung am stärksten ins Gewicht fallen. In Zukunft werden wohl vor allem die Gesundheitserziehung, die → Altenbildung und die Inklusionspädagogik (→ Inklusion) noch eine größere Rolle spielen.

3. Wissenschaftsmodelle

Trotz der von Trapp – aber auch von Herbart – schon früh vorgesehenen empirischen Ausrichtung der Erziehungswissenschaft blieb diese bin in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein, das heißt fast 200 Jahre lang, eine hermeneutische Disziplin (vgl. im Folgenden Wulf, 1983; Benner, 2001; König/Zedler, 1998). Die sog. Geisteswissenschaftliche Pädagogik nahm ihren Ausgangspunkt in Schleiermacher und Wilhelm Dilthey; zu deren Hauptvertretern lassen sich in der ersten Generation Herman Nohl (1879-1960), Max Frischeisen-Köhler (1880-1923), Theodor Litt (1880-1962), Eduard Spranger (1882-1963) und in der zweiten Generation Wilhelm Flitner (1889-1990), Elisabeth Blochmann (1892-1972), Erich Weniger (1894-1961), Georg Geissler (1902-1980) und Otto Friedrich Bollnow (1903-1991) neben vielen anderen rechnen. Ihnen ging es vor allem um das Verstehen der Erziehungswirklichkeit, d.h. um eine Erfahrungs- und Praxiswissenschaft, die eine Theorie von der Praxis für die Praxis entwickeln will. Dafür verwendete die geisteswissenschaftliche Pädagogik nicht nur philosophische, sondern auch hermeneutische, phänomenologische und dialektische Methoden.

Daneben und bis ins 20. Jahrhundert etablierte sich – im Anschluss an die vorwissenschaftliche Tradition und an Herbart – die normative Pädagogik. Ihr ging es um die Aufstellung und Begründung von Werten und Normen für pädagogisches Denken und Handeln. Versuche einer solchen → Wertepädagogik finden sich nicht selten in christlich ausgerichteten Konzepten der Pädagogik; sie finden sich in den Grundwertedebatten der siebziger Jahre (Mut zur Erziehung), in den pädagogischen Reaktionen auf die neorassistischen Übergriffe nach der Wende (→ Rassismus) oder auch in den Debatten um die vermeintliche Disziplinarmut der Gegenwart (Bueb). Dabei geht es angesichts von sozialen und politischen Krisen fast immer um normative Selbstvergewisserungen, die der Pädagogik wieder Orientierung und Fundierung verleihen und dann zur pädagogischen Überwindung der Krisen führen sollen. Wichtige Positionen einer normativen Pädagogik finden sich in wertphilosophischen und -pädagogischen Konzepten bei Wilhelm Rein (1847-1929), Georg Kerschensteiner (1854-1932), Max Scheler (1874-1928), Nicolai Hartmann (1882-1950), Ludwig Kerstiens (1924-2011) und Hermann Giesecke (1932-2021).

Die empirische Erziehungswissenschaft wird in einer ersten Phase zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Ernst Meumann (1862-1915), Wilhelm August Lay (1862-1926), Aloys Fischer (1882-1937) sowie Peter (1884-1952) und Else Petersen (1891-1968) bedeutsam. Hierbei folgt man in der Fokussierung auf Experimente, Beobachtungen und Statistiken noch stark dem Vorbild der Naturwissenschaften. In der zweiten Phase, die Mitte der sechziger Jahre als „empirische Wende“ (Roth) sich zu entwickeln beginnt, sind es die wissenschaftlichen Methoden der Psychologie und der Soziologie wie → Interviews, Audio- und → Videoaufzeichnungen sowie Feldforschung, die die kritisierte mangelnde Rationalität der normativen und geisteswissenschaftlichen Pädagogik überwinden möchten. Die mittlerweile durch die PISA-Entwicklung zum beinahe beherrschenden Modell in der Pädagogik avancierte empirische Forschung setzt sich zum Ziel, pädagogische Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, dabei wertfrei zu verfahren sowie prognostische Aussagen über Methoden zu machen, die die angestrebten Ziele erreichbar machen. Die empirische Erziehungswissenschaft verwendet dabei zunächst vor allem Methoden der quantitativen Forschung, bezieht aber zunehmend – vermittelt über die Sozial- und Kulturwissenschaften – auch qualitative Zugänge mit ein. Für diese zweite Phase sind Ansätze von Heinrich Roth (1906-1983), Wolfgang Brezinka (geb. 1928), Helmut Heid (geb. 1934), Jürgen Baumert (geb. 1941), Ralf Bohnsack (geb. 1948) und Barbara Friebertshäuer (geb. 1957) von Bedeutung.

Als viertes wichtiges Modell kann die Kritische Erziehungswissenschaft gelten (→ Kritik; → Ideologiekritik): als Gegenpol zur geisteswissenschaftlichen Pädagogik – der man vorwirft, sich nicht für soziale und politische Rahmenbedingungen interessiert zu haben (was dazu geführt haben soll, dass sie dem Nationalsozialismus keinen entscheidenden Widerstand leisten konnte) – und als Gegenpol zur empirischen Erziehungswissenschaft – die man bezichtigt, den pädagogischen Gegenstand zu verfehlen, weil sie Subjekte „verdingliche“ und weil sie einer pädagogisch nicht sinnvollen, da dem Vorbild der Technik entstammenden Steuerungslogik folgen würde. Hintergründe für diese Perspektive der Erziehungswissenschaft bilden die Vertreter der Kritischen Theorie: Max Horkheimer (1895-1973), Theodor W. Adorno (1903-1969) und Jürgen Habermas (geb. 1929), die Wissenschaft als Veränderung der Gesellschaft in Richtung einer → Emanzipation von überflüssigen Herrschaftsverhältnissen für alle verstehen. Aufgegriffen wird diese Position von Klaus Mollenhauer (1928-1996), Herwig Blankertz (1927-1983), Wolfgang Klafki (1927-2016) und Andreas Gruschka (geb. 1950). Diese übernehmen das emanzipatorische Erkenntnis- und Praxisinteresse und versuchen in der Verbindung von hermeneutischen und empirischen Analysen etwa Schulentwicklungen (Gesamtschule) voranzutreiben, Geschlechterstrukturen (→ Gender) zu hinterfragen, oder ganz allgemein: den hehren pädagogischen Anspruch mit der faktischen Realität im pädagogischen Alltag zu konfrontieren.

Neben und nach diesen vier oftmals als zentral benannten Hauptrichtungen der Erziehungswissenschaft lassen sich noch eine Fülle von anderen Richtungen finden, die Aspekte der hier genannten Perspektiven aufgreifen, doch je nach Ansatz auch andere Fokussierungen vornehmen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seinen genannt: feministische, materialistische, phänomenologische, postmoderne, praxeologische, psychoanalytische, systemtheoretische und transzendentalkritische Ansätze.

4. Struktur

Man kann die Allgemeine Pädagogik als die Teildisziplin in den Erziehungswissenschaften verstehen, die als ihre Basis- oder Grunddisziplin fungiert, weil sie pädagogische Grundbegriffe klärt, deren Zusammenhänge mit den pädagogischen Feldern aufzeigt und kritisch die vorliegenden Konzepte rekonstruiert und auf deren Grenzen und Möglichkeiten hinweist (vgl. Benner, 1991). Dabei kann sie methodisch stärker begrifflich-explikativ (Systematische Pädagogik), historisch-hermeneutisch (Historische Pädagogik) oder kulturell-vergleichend (Vergleichende Pädagogik) verfahren und sie kann inhaltlich stärker philosophisch, anthropologisch, ethisch oder bildungstheoretisch fokussiert sein. Demgegenüber steht ein Verständnis von allgemeiner Erziehungswissenschaft, das diese als gleichwertige Teildisziplin versteht, die für die weiteren Subdisziplinen (s. im Folgenden) interessantes theoretisches, historisches, methodisches etc. Wissen zur Verfügung stellt.

Darüber hinaus beziehen sich die Subdisziplinen der Pädagogik auf relativ gut abgegrenzte und etablierte Arbeitsfelder. Auf den Lebenslauf bezogen lassen sich unterscheiden: die Pädagogik der frühen Kindheit, die Kinder- und Jugendarbeit, die Schulpädagogik, die Erwachsenen- und Altenbildung und bezogen auf spezifische Problemlagen und Praxisfelder: die Sozialpädagogik, die Sonder- und Heilpädagogik, die Berufs- und Wirtschaftspädagogik oder die → Religionspädagogik (s.u.). Unterhalb dieser Subdisziplinen lassen sich dann die diversen Praxisfelder benennen, die sich wiederum nicht stringent mit diesen Subdisziplinen verbinden lassen, etwa Gesundheitsbildung, → Friedenserziehung, Management Education, → Bildung für Nachhaltigkeit, die Interkulturelle Erziehungswissenschaft (→ Interkulturalität/Ethnische Vielfalt/Minderheiten/Migration) oder auch die → Medien- und → Kulturpädagogik (vgl. Krüger/Rauschenbach, 1997).

Angesichts der Entgrenzung der Erziehungswissenschaft in alle Lebensbereiche und der Ausweitung der Pädagogik auf den gesamten Lebenslauf und angesichts der damit verbundenen praktischen Problematiken einer Allzuständigkeit (Allmacht) und Überforderung (Ohnmacht) der Pädagogik sowie der theoretischen Schwierigkeiten eines nicht mehr möglich erscheinenden allgemeinen inhaltlichen Grundgedankengangs und einer durch die modernen Epistemologien erzwungenen reflexiven Komplexitätssteigerung sieht sich die Erziehungswissenschaft mit folgenden Aufgaben konfrontiert: in allen Teildisziplinen begriffliche mit empirischer Forschung wechselseitig zu verschränken, die jeweils einschlägigen und bedeutsamen Diskurse der Nachbardisziplinen mit einzubeziehen (das gilt für das Modernisierungstheorem der Soziologie ebenso wie für die Errungenschaften der Hirnforschung), Forschungsthemen und -problematiken gemeinsam intra- und interdisziplinär zu bearbeiten (→ Wissenschaftstheorie) und sich zudem einer nationalen wie internationalen Vergleichs- und Evaluationskultur zu stellen (vgl. Krüger, 1996).

Je nach Teildisziplin und Fragestellung werden dabei unterschiedliche Fokussierungen und methodische Zugänge eine Rolle spielen, von denen hier einige genannt werden sollen: die Möglichkeiten des Erziehens, Bildens und Lernens in einer Reflexion der Grundlagen, die Frage nach den das pädagogische Denken und Handeln leitenden Menschenbildern in einem anthropologischen Zugang, die Perspektive der institutionellen Lernunterstützung in einer organisatorischen Fragestellung, die Frage nach In- und Outputprozessen in Bildungssystemen in evaluativen Hinsichten oder auch das Wahrnehmen und Einschätzen von pädagogischen Sachverhalten in einer phänomenalen Einstellung.

5. Aktuelle Problemlagen

Die aktuellen Problemlagen der Erziehungswissenschaft sind um das Thema Gerechtigkeit im Umgang mit → Heterogenität und Differenz zentriert. So stehen die sich an die empirischen Studien (vor allem an TIMSS und PISA; → Bildungsstudien) anschließenden Debatten im Kontext der Frage nach struktureller Chancengleichheit bzw. nach Bildungsbenachteiligung. Und die sich an die UN-Behindertenkonvention von 2006, die Deutschland im Jahre 2008 ratifiziert hat, anschließenden Diskussionen stehen im Kontext von Inklusion (→ Inklusion), d.h. vor allem Inklusion als gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen und als Überwindung von Diskriminierungen aller Risikogruppen in der Schule.

Nicht nur von Gutachtern der OECD, sondern auch von der EU und einer ganzen Reihe von deutschen Erziehungswissenschaftlern ist hervorgehoben worden, dass es für die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in Europa und speziell in Deutschland nicht nur bedeutsam sei, dass sie effektiv und effizient zu funktionieren hätten, sondern auch, dass sie die Chancengleichheit (→ Bildungsgerechtigkeit) gewährleisten müssen, damit sich die sozialen Benachteiligungen im Bildungssystem nicht noch vergrößern. Damit die allgemeinen und beruflichen Systeme der Bildung die erforderliche Qualität erreichen, die zur Schaffung von mehr Wachstum, mehr Beschäftigung und mehr sozialer Kohäsion beiträgt, gelte es daher, diese Systeme u.a. auch gerechter zu gestalten.

War es in den sechziger Jahren das sprichwörtlich gewordene „katholische Arbeitermädchen vom Lande“, das aufgrund seiner Konfession, seiner Schicht, seines Geschlechts und seiner Wohnlage zu den Bildungsbenachteiligten gehörte, so muss man heute von einer anderen negativen Bildungsfigur ausgehen: dem „Arbeiterjungen mit Migrationshintergrund aus der Stadt“. Die Bildungsbenachteiligungen in sozialer, ökonomischer und kultureller Hinsicht gelten als Begrenzungen von Chancengleichheit (→ Intersektionalität). Über die Idee der Bildungschancengleichheit in Form von Startchancen, aber vor allem in Form von Aufstiegs- und Wettbewerbsmöglichkeiten wird wiederum das Selektionsrisiko erhöht und zugleich legitimiert. Das moderne Bildungssystem baut also nicht nur Ungleichheiten ab, sondern reproduziert gleichzeitig Ungleichheiten, indem es einerseits an der Fiktion einer gleichen Ausgangssituation für alle festhält und indem es andererseits diejenigen Schülerinnen und Schüler begünstigt, die dem spezifisch bürgerlichen Habitus der Schule entsprechen (vgl. Liebau/Zirfas, 2008).

Auch die Thematik der Inklusion ist im Kern eine Gerechtigkeitsthematik. Mit ihr wird auf die grundlegende Gleichheit von Rechten für Menschen mit Behinderungen hingewiesen, die in ihrer Würde und Selbstbestimmung unbedingt anzuerkennen sind. Der Artikel 24, der die inklusive, qualitativ hochwertige Bildung für Menschen mit Behinderungen fordert, impliziert ein Umdenken in der deutschen Pädagogik, denn mit dem Recht auf Inklusion, d.h. eine differenzierte, individuelle, diskriminierungsfreie Bildung für alle, wird die derzeit immer noch gängige Praxis der diversen Sonderschulen radikal in Frage gestellt. Diese Perspektive stellt vor allem die Schulen vor große finanzielle, strukturelle und personelle Probleme; aber auch die Universitäten sind in ihren Professionalisierungsbestrebungen in dieser Thematik angesprochen. Zu konstatieren ist, dass der Diskurs der Inklusion z.Zt. noch stark auf die schulischen Strukturen und Programmatiken abhebt, wenn etwa Inklusion als soziale Wertgrundlage, Schulentwicklungskonzept oder als Transformationsmedium einer Veränderung der → Schulkultur, d.h. als Verbesserung des Zugangs zur Schule für alle, als Förderung und Verbesserung der Akzeptanz aller, als Maximierung und Optimierung der Teilhabe am Unterricht und am Schulleben sowie als Fokussierung der Entwicklungs- und Leistungsfähigkeit verstanden wird. Aus dem Blick gerät dabei, dass Inklusion auch eine habituelle Veränderung aller Beteiligten impliziert, d.h. eine Veränderung der Wahrnehmung, des Urteils, der Bewertung und des Handelns in Schüler-, Lehrer- und Elternschaft (vgl. Felder, 2012).

6. Bezüge zur Religionspädagogik

Versteht man unter → Religionspädagogik eine Teildisziplin der Pädagogik, die Fragen nach den Voraussetzungen, Zielen, Formen und Inhalten religiöser Erziehung und Bildung (→ Bildung, religiöse) zu klären versucht, dann erscheinen Theologie und Erziehungswissenschaft gleichermaßen als wichtige Bezugshorizonte. Der Beitrag der Erziehungswissenschaft zur Religionspädagogik lässt sich natürlich je nach wissenschaftlicher und praktisch-institutioneller Perspektive sehr unterschiedlich formulieren (vgl. Schweitzer, 2003). So können hier nur einige wichtige Funktionen der Erziehungswissenschaft für die Religionspädagogik genannt werden: Diese wird nicht umhin kommen, sich mit den empirischen Erkenntnissen etwa der quantitativen (schulischen) Leistungserhebungen, der qualitativen Biografieforschung (→ Biografieforschung) oder auch der rezeptionsorientierten Evaluationsforschung auseinandersetzen zu müssen (analytische Funktion). Auch die pädagogisch-historische sowie die wissenschaftstheoretische Forschung sind für sie von Belang, denn diese thematisieren nicht nur die Entwicklungen der Disziplin, sondern auch ihre unterschiedlichen Konzeptionen und Missverständnisse (hermeneutische Funktion). Blickt man auf die vergleichende, interkulturelle oder auch internationale erziehungswissenschaftliche Forschung, so werden die kulturellen Rahmenbedingungen der Religionspädagogik deutlich, die von den sozialen Voraussetzungen über die didaktischen Konzepte (→ Didaktische Modelle) bis hin zu den Erziehungszielen reichen; und in diesem Vergleich ergeben sich ggf. neue eigene Entwicklungsmöglichkeiten (komparativ-entwickelnde Funktion). In Bezug auf normative Fragen und im Wissen um → Religions- und Gewissensfreiheit fordert die Erziehungswissenschaft von der Religionspädagogik eine theoretische wie praktische Orientierung an den für sie konstitutiven Werten etwa der Menschenwürde, der Selbstbestimmung, der Bildsamkeit oder der → Demokratie (kritische Funktion). Und schließlich kann die Religionspädagogik auch über ihre eigenen Modelle hinaus auf die erziehungswissenschaftlichen Forschungen zurückgreifen, um ihr Denken und Handeln zu begründen (legitimatorische Funktion).

Literaturverzeichnis

  • Andresen, Sabine/Hunner-Kreisel, Christine/Fries, Stefan, Erziehung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013.
  • Benner, Dietrich, Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft, Weinheim/Basel 4. Aufl. 2001.
  • Benner, Dietrich, Allgemeine Pädagogik, Weinheim/München 3. Aufl. 1991.
  • Böhm, Winfried, Pädagogik, in: Benner, Dietrich/Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.), Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Weinheim/Basel 2004, 750-782.
  • Felder, Franziska, Inklusion und Gerechtigkeit. Das Recht behinderter Menschen auf Teilhabe, Frankfurt a. M. 2012.
  • Grunert, Cathleen, Erziehungswissenschaft – Pädagogik, in: Krüger, Heinz-Hermann/Grunert, Cathleen (Hg.), Wörterbuch Erziehungswissenschaft, Opladen/Farmington Hills 2. Aufl. 2006, 152-157.
  • König, Eckhard/Zedler, Peter, Theorien der Erziehungswissenschaft, Weinheim 1998.
  • Krüger, Heinz-Hermann, Erziehungswissenschaft und ihre Teildisziplinen, in: Krüger, Heinz-Hermann/Helsper, Werner (Hg.), Einführung in Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft, Opladen 2. Aufl. 1996, 303-318.
  • Krüger, Heinz-Herrmann/Rauschenbach, Thomas (Hg.), Einführung in die Arbeitsfelder der Erziehungswissenschaft, Opladen 2. Aufl. 1997.
  • Lenzen, Dieter (Hg.), Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 1994.
  • Liebau, Eckart/Zirfas, Jörg (Hg.), Ungerechtigkeit der Bildung – Bildung der Ungerechtigkeit, Opladen 2008.
  • Schweitzer, Friedrich, Pädagogik und Religion. Eine Einführung, Stuttgart 2003.
  • Tenorth, Heinz-Elmar, Erziehungswissenschaft, in: Tenorth, Heinz-Elmar/Benner, Dietrich (Hg.), Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Weinheim/Basel 2004, 341-382.
  • Wulf, Christoph, Theorien und Konzepte der Erziehungswissenschaft, Weinheim/München 3. Aufl. 1983.

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