Politische Religionspädagogik
(erstellt: Februar 2016)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Politische_Religionspdagogik.100114
Eine politische Religionspädagogik oder eine politische Dimension der → Religionspädagogik
1. Bedarf einer politischen Religionspädagogik
Der Bedarf, über die politischen Dimensionen der Religionspädagogik neu nachzudenken, legt sich aus vielerlei Gründen nahe. In einem ersten Zugang kann das Politische mit Hannah Arendt (Arendt, 1993, 105) als umfassender Weltbezug des Menschen verstanden werden. In diesem weiten Verständnis des Politischen umgreift das Politische jegliches Sein und Handeln des Menschen. Aber auch in einem enger gefassten Verständnis des Politischen (s.u.) existieren Gründe, über eine Politische Religionspädagogik nachzudenken: Religiöse Bildungsprozesse (→ Bildung, religiöse
Ein deutlicher Bedarf, über die politische Bedeutung nachzudenken, ist in den vergangenen Jahren zudem durch die Veränderungen entstanden, die in der Politikwissenschaft unter dem Begriff der Governance-Debatte gefasst werden (Benz/Dose, 2010) und die das Politikverständnis dahingehend weiten, dass es sich nicht ausschließlich auf staatlich-institutionelles Handeln erstreckt. Damit sind die bedeutsamen Veränderungen von Staatlichkeit in den letzten drei Jahrzehnten angesprochen, und die damit einhergehenden veränderten Politikprozesse, die im Ergebnis eine starke gesellschaftliche Mitwirkung und neue Kooperationsformen mit sich bringen. Das Fortschreiten gesellschaftlicher Emanzipation und die Ausbildung polyzentrischer Gesellschaften führen innerhalb der Politikwissenschaft zu der weitgehenden Einigkeit, dass klassische Governance-Strukturen, die auf staatstheoretische Konzepte wie die klare Trennung zwischen Staat und Gesellschaft und eine monopolartige Verfügung hoheitlicher Machtmittel des Staates gegenüber wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren setzen, inzwischen in demokratischen Systemen wie der Bundesrepublik durch so genannte Governance-Arrangements abgelöst worden sind. Solche Governance-Arrangements verstehen die Herausbildung von Mitsouveränitäten gesellschaftlicher Akteure im Kontext einer nicht-etatistischen Steuerung gesellschaftlicher Problementwicklungen und Problemlösungen als Ausdruck sowohl gesellschaftlicher Modernisierung als auch innergesellschaftlichen Strukturwandels und gesteigerter Selbststeuerungspotenziale gesellschaftlicher Subsysteme in der Zivilgesellschaft. Damit rückt der Dritte Sektor beziehungsweise die Zivilgesellschaft als organisierter Raum, bestehend aus nicht-staatlichen und nicht-ökonomischen Organisationen und Bewegungen, die zwischen der Privatsphäre des Einzelnen und der Öffentlichkeit des demokratischen politischen Systems vermitteln, in den Vordergrund und wird als Raum der politischen Auseinandersetzung verstanden. Die heutigen Governance- Arrangements binden zivilgesellschaftliche Akteure teilweise auch strukturell in die politischen Gestaltungs- und Problemlösungsprozesse mit ein, was einen deutlichen Anstieg an z.B. internationalen Organisationen und sogenannten nicht-staatlichen Organisationen wie Nichtregierungsorganisationen mit politischem Einfluss, die dem sogenannten Dritten Sektor oder der Zivilgesellschaft zugerechnet werden, mit sich bringt. Als nicht-staatliche und intermediäre, zwischen der Privatsphäre und dem staatlichen Bereich angesiedelte Organisationen sind auch die Kirchen Teil dieser zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit, die ihre Ideen und normativen Vorstellungen wie z.B. Vorstellungen von → Gemeinwohl
2. Forschungsstand
Historisch wurde der → Katechismusunterricht
In den siebziger und achtziger Jahren wird die Diskussion um die politische Dimension der Religionspädagogik insbesondere von Personen wie Folkert Rickers (1973) von Seiten der Religionspädagogik und von Wolfgang Sander (1980; 1985) aus politikdidaktischer Sicht bestimmt. In der Politikdidaktik steht vor allem die Frage nach der Politischen Bildung als Unterrichtsprinzip und/oder eigenständiges Unterrichtsfach im Vordergrund. Für die Religionspädagogik steht insbesondere die Reflexion auf die Verwirklichung einer politischen Dimension im Zusammenhang von religiöser Bildung, insbesondere im Religionsunterricht als öffentlichem und rechtlich abgesichertem Raum im Zentrum. Die Diskussion innerhalb der Religionspädagogik bewegt sich in etwa zeitgleich mit der in der Politikwissenschaft, denn auch erst in den siebziger Jahren wurden dort (verbunden mit den Namen G. Fischer, W. Hilligen, R. Schmiederer, B. Sutor) die konzeptionellen Instrumentarien einer modernen gesellschafts- und → ideologiekritischen
Die Diskussion um die politische Dimension der Religionspädagogik wurde mit zwei Beiträgen von H. Missalla im Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe von 1986 zum Thema „Politischer Bildung“ und zu „Friedenserziehung“ aufgenommen. → Gerechtigkeit
Die Auseinandersetzung mit der Religionspädagogik wurde allerdings seit den achtziger Jahren von Seiten der Politikdidaktik nicht weitergeführt und auch in der Religionspädagogik verebbte seit den späten achtziger Jahren die Auseinandersetzung um eine politische Religionspädagogik beziehungsweise eine politische Dimensionierung in der Religionspädagogik mit der starken Konzentration innerhalb der Religionspädagogik und vor allem der Religionsdidaktik auf das Individuum und sein religiöses Erleben. Mit der Konzentration auf die Kompensation schwindender religiöser Sozialisation und dem dadurch gesehenen Bedarf nach stärkerer Glaubensvermittlung und klar gefasster → religiöser Identität
Erst in jüngerer Zeit wächst das Bewusstsein innerhalb der Religionspädagogik für die politische Dimension erneut, von katholischer Seite legte B. Grümme (2009) eine Monographie zum Verhältnis von Religionsunterricht und politischer Bildung vor, in der er → bildungstheoretisch
3. Begründungen einer politischen Religionspädagogik
Wie bereits erwähnt hat sich der Bedarf, über eine politische Dimension in der Religionspädagogik nachzudenken, deutlich erhöht; wesentliche theologische Begründungen dafür wurden allerdings bereits in den früh vorgelegten Schriften gegeben. Dabei wurde und wird nach wie vor zum einen auf die biblische Tradition, das öffentliche, gesellschaftsverändernde jesuanische Handeln und die Praxis der Nachfolge Jesu verwiesen, die sich nicht individuell existentialistisch verkürzen lässt, und die die Nächstenliebe als politische Verantwortung implizierend und motivierend versteht (Filthaut, 1965, 17f.). Mit Bezug auf die → christlich-eschatologische Hoffnungsperspektive
Letztlich ist es allen Ansätzen darum zu tun, die politische Verantwortungsübernahme für den einzelnen, die (Welt-)Gesellschaft und die Schöpfung aus dem christlichen Glauben heraus zu begründen und deutlich zu machen, dass diese nicht in die Beliebigkeit des oder der Einzelnen gestellt ist, sondern gerade wegen ihrer Gegründetheit im Glauben eine unabdingbare christliche Haltung ist, die auf Handeln zielt. Entscheidend ist dabei, dass es nicht um eine Politisierung des Glaubens geht, sondern um die politische Signatur christlichen Glaubens, die alle Lebensbereiche durchzieht und nur darin ihre ideologiekritische und gesellschaftskritische Kraft entfalten kann (Grümme, 2009, 56).
4. Politische Religionspädagogik
Geht es um eine nähere Bestimmung des Politischen in der Religionspädagogik, so ist erstens von einem Begriff des Politischen auszugehen, wie er gegenwärtig im Kontext der Transformationsprozesse des Regierens und der Entwicklung des Dritten Sektors beziehungsweise der Zivilgesellschaft in der Regel vorausgesetzt wird, und die – so Thomas Meyer – „Gesamtheit der Aktivitäten zur Vorbereitung und zur Herstellung gesamtgesellschaftlich verbindlicher und/oder am Gemeinwohl orientierter und der ganzen Gesellschaft zugutekommenden Entscheidungen“ umfasst (Meyer, 2010, 37).
Zweitens ist zu unterscheiden zwischen einer Religionspädagogik, die in (von ihr konzeptionierten und verantworteten) religiösen Bildungsprozessen politische Bildung zum Gegenstand macht und einer politischen Religionspädagogik, die analog zur Politischen Theologie das Politische zum Ausgangs- und Reflexionshorizont hat, es dementsprechend als ein durchgängiges Handlungs- und Reflexionsprinzip ihrer selbst versteht und in diesem Sinne Religionspädagogik immer im Horizont des Politischen treibt. Letzteres bedeutet nicht eine Politisierung der Religionspädagogik und der von ihr verantworteten und initiierten Bildungsprozesse, sondern kann im Sinne der bereits genannten Einschreibung der politischen Signatur christlichen Glaubens verstanden werden, aus der heraus sie ihre Gegenstände und Themen, so etwa die Konzeptionierung, Initiierung und Durchführung religiöser Bildungsprozesse, gestaltet und reflektiert. Erstreckt sich diese Sensibilität für das Politische in ersterer Variante vornehmlich auf die explizit politisch aufgeladenen Themen in religiösen Bildungsprozessen, so eröffnet letztere die Perspektive einer Wahrnehmung des Politischen in allen Themenbereichen, auch dort, wo es lediglich implizit und eher indirekt oder gar unfreiwillig durch seine herausdefinierte Abwesenheit vorhanden ist. Dadurch ist es auch möglich, den disziplininternen Reflexionsprozessen und blinden Flecken hinsichtlich der politischen Relevanz religionspädagogischer Konzepte auf die Spur zu kommen.
Zu differenzieren ist drittens zwischen der Religionspädagogik als wissenschaftlicher Disziplin, deren Gegenstand die Reflexion religiöser Bildungsprozesse ist, und diesen Bildungsprozessen an den verschiedenen Lernorten selbst. So bezieht sich die Rede von einer politischen Religionspädagogik auf Mehreres: auf die Reflexion ihrer eigenen → wissenschaftstheoretischen Verortung
Spricht man nun nicht nur von der politischen Dimension religiöser Bildung, sondern von politischer Religionspädagogik, bietet sich über die soeben skizzierte explizite Einschreibung einer politischen Signatur in das Verständnis der eigenen wissenschaftstheoretischen Grundlegung sowie des eigenen Selbstverständnisses als theologische Disziplin hinaus die Möglichkeit, den binnenorientierten Blick auf die eigene Verortung als wissenschaftliche Disziplin sowie auf konkrete religiöse Bildungsprozesse auf die Einbeziehung der öffentlichen, zivilgesellschaftlichen Rolle und Aufgabe der Religionspädagogik hin zu weiten. Eine Dimension, die bislang viel zu wenig wahrgenommen wird, wie etwa auch Friedrich Schweitzer ausführt (Schweitzer, 2004). Schweitzer weist im Rekurs auf Friedrich Schleiermacher darauf hin, dass Religionspädagogik weiterhin auch als Projekt der Aufklärung zu verstehen ist und damit konstitutiv auf Öffentlichkeit, somit auch auf die Zivilgesellschaft, bezogen ist. Konstitutiv in die Zivilgesellschaft eingebunden ist die Religionspädagogik in einer dreifachen Weise: Erstens ist sie über die von ihr inhaltlich konzeptionierten und initiierten Bildungsprozesse eingebunden, die nicht nur zu individuellen und gemeinschaftlichen Orientierungen in Lebens- und Weltverhältnissen beitragen, sondern auch darauf abzielen, Wirklichkeit erschließende Differenz- und Deutungskompetenz zu vermitteln und so auch die Teilhabe und Gestaltung gegenwärtiger Welt und Gesellschaft zu ermöglichen (Schlag, 2010a, 545; 2013; Könemann, 2011, 77f.). Dies geschieht dadurch, dass die politische Dimension bereits jedweder Gestaltung religiöser Bildungsprozesse inhärent ist, zugleich aber religiöse Bildung auch explizit zur politischen Bildung beiträgt, indem sie „im Modus der Situations- und Traditionserschließung“ (Schlag, 2010a, 545) entsprechende Bildungskompetenzen fördert und so zu einer Bildung von Demokratiefähigkeit und zur einer Bildung in der Demokratie beiträgt. Zweitens ist sie über die Personen in die Zivilgesellschaft eingebunden, die an den so gestalteten religiösen Bildungsprozessen teilnehmen beziehungsweise teilgenommen haben und dort ihre Fähigkeit zur Partizipation an den die Gesellschaft betreffenden Angelegenheiten und zur Verantwortungsübernahme (weiter-)entwickeln konnten (Könemann, 2008; 2012). Drittens ist die Religionspädagogik über ihre wissenschaftlichen Akteure und über die Kirchen als Akteure in der Zivilgesellschaft in diese selbst eingebunden: Als wissenschaftliche Disziplin ist sie selbst zwar kein Teil von Kirche im klassischen Sinn, aber durch die religiösen Bildungsprozesse, insbesondere im öffentlichen Schulwesen, wie über die Möglichkeit der Kirchen, eigene Bildungseinrichtungen zu gründen und zu führen, ist sie mit der Kirche verbunden und steht in wechselseitigem Austausch mit ihr. Darüber hinaus hat die Religionspädagogik am politischen Bildungsauftrag der Kirchen teil, insofern sie als Reflexion auf religiöse Bildung auch auf das politische Bildungshandeln der Kirchen reflektiert, die wiederum als intermediäre Organisationen ein Interesse daran haben, via ihrer Akteure sich mit ihren religiösen und bildungspolitischen Überzeugungen in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen (Könemann, 2008; 2012).
In dieser Verortung in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit trifft sich Religionspädagogik in ihren Anliegen mit der in der Tradition der politischen Theologie wie auch der Theologie der Befreiung stehenden „öffentlichen Theologie“, der es um „die Reflexion von Fragen öffentlicher Bedeutung im Lichte theologischer Traditionen“ zu tun ist (Bedford-Strohm, 2008, 345). Geleitet sind beide dabei von einer politischen Sensibilität für Fragen des → Gemeinwohls
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