Akademie, evangelisch
(erstellt: Februar 2019)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Akademie_evangelisch.200562
1. Kirchliche Investition in die politische Kultur
Die Evangelischen Akademien in Deutschland (→ Akademien, katholische
Die Themenkonjunkturen spiegeln in den nun 70 Jahren dieser Arbeit die Geschichte Nachkriegsdeutschlands und ihre Einbindung in die internationale Entwicklung bis heute. Dabei lassen sich bei aller Kontinuität und Überschneidung mancher Themenstränge vier unterscheidbare Phasen erkennen.
1.1. Einüben in die demokratische Gesellschaft
Bis in die frühen 1960er Jahre waren die Evangelischen Akademien wertkonservativ geprägt. Viele ihrer Gründerpersönlichkeiten können dem Habitus nach großbürgerlichen und deutsch-nationalen Milieus zugerechnet werden. Der Prozess der Herausbildung demokratischen Bewusstseins setzte sich in der Breite der → Gesellschaft
1.2. Paradigmenwechsel
1967 trat Rudi Dutschke in Loccum und dann 1968 in Bad Boll im Dialog mit Ernst Bloch auf. Die Studentenbewegung war in den Evangelischen Akademien angekommen. Das trug ihnen auf konservativer Seite nun das Attribut linker Kaderschmieden ein. Mit der inhaltlichen Vielfältigkeit der Tagungsprogramme hatte es wenig zu tun. Der Orientierungswechsel aber führte vom eher konservativ-restaurativen zu einem stärker progressiv-liberalen → Habitus
Auch in und zwischen den Akademien lösten das internationale ökumenische Engagement, die Positionierung für die Entspannungspolitik und das Eintreten für eine basisorientierte Demokratisierung kontroverse Diskussionen aus. Dabei ging es auch um das Selbstverständnis als Alleinstellungsmerkmal. Die Einen betonten die Rolle Evangelischer Akademien als Faktor in öffentlichen Auseinandersetzungen. Die Anderen hielten an der Vorstellung eines neutralen Forums fest.
Die Landschaft der Akteure hatte sich seit Beginn der 1950er Jahre längst durch weitere Träger wie katholische (→ Akademie, katholisch
1.3. Partei nehmen im Diskurs
Der Paradigmenwechsel in den 1970er Jahren hatte in den 1980ern eine Neukonsolidierung des Akademiekonzeptes zur Folge. Neben die Parteinahme für das ökumenische Engagement im 1983 vom ÖRK ausgerufenen Konziliaren Prozess für Frieden, → Gerechtigkeit
Nach dem Fall der Mauer fanden in den Evangelischen Akademien von 1989 bis 1991 ca. 200 Tagungen zum Prozess der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten statt. Schon seit Mitte der 1980er Jahre waren entlang der Friedensdiskussion intensive Kontakte besonders zur Sowjetunion, Ungarn, der Tschechoslowakei, Polen und der DDR aufgebaut worden. 1991 schlossen sich die Evangelischen Akademien Ost und West in Meißen zu dem heutigen Verband zusammen. Die beiden bis dahin getrennten Akademien in Berlin-West und -Ost vereinigten sich wieder zu einer Evangelischen Akademie.
1.4. Globalisierung und Vernetzung
Jenseits der Bipolarität änderten sich in den 1990er Jahren die Akzentsetzungen im Themenspektrum erneut. Auf dem nationalen wie internationalen Feld zog die Entwicklung und zunehmende Bedeutung der Zivilgesellschaft viel Aufmerksamkeit auf sich. Nichtregierungsorganisationen beeinflussten das Agenda-Setting großer UN-Konferenzen zu Umwelt und Entwicklung, Klima, Bevölkerung und Sozialstandards. Die Auswirkungen der marktliberalen Globalisierung auf die Sozial- und Bildungssysteme, die Transformation multinationaler Unternehmen, die Entwicklung des globalen Finanzsystems mit den daraus folgenden politischen und ökonomischen Deregulierungs- und Privatisierungsprozessen gehörten zu den wichtigen Tagungsthemen.
Die friedensorientierte Tagungsarbeit verschob sich von globaler Rüstungs- und Sicherheitspolitik zu Ansätzen von Krisenprävention und Konfliktbearbeitung bei innerstaatlichen Konflikten in Afrika, Asien und auf dem Balkan und der Osterweiterung der Europäischen Union. Als Gegenreaktion auf den global vorausgesagten Clash of Civilisations engagierten sich Evangelische Akademien im interkulturellen (→ Lernen, interkulturelles
Der fortschreitende methodische Säkularismus positivistischer Wissenschaft insgesamt verlangte nach der Thematisierung der mit ihm verbundenen theologischen, ethischen, sozialen und juristischen Problemstellungen. Die trendsetzenden Entwicklungen fanden in der Tagungsarbeit daher zunehmend Raum für ihre kritisch-interdisziplinäre Reflexion. Der in der dritten Phase durch antagonistisch polarisierte Positionen gekennzeichnete Diskurs wandelte sich in der vierten zu einer gezielten problemorientierten Vernetzung der am öffentlichen Diskurs beteiligten Gruppen von Akteuren zwischen Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft.
2. Evangelische Akademien als Lernorte
Die Akademien arbeiten in eigenen Tagungshäusern oder belegen die Tagungsstätten ihrer Landeskirchen. Berlin und jüngst Frankfurt haben sich auch als Stadtakademien etabliert. Die Identifizierung mit einem Haus als Ort mit Retraite-Charakter als geschütztem Reflexionsraum hatte schon hohen Stellenwert in der Konzeption der Gründergeneration.
Dies sollte für die Teilnehmenden an den meist mehrtägigen Veranstaltungen erfahrbar werden. Gottesdienste und Andachten sowie Meditationsangebote gehören zum Tagungsprogramm. Der „Dritte Ort“ (Anhelm, 1988, 39f.) sollte sich von gewohnter Alltagspraxis unterscheiden und gerade deshalb ungewohnte und versöhnliche Verhaltensdispositionen zulassen. Stichworte wie „Bekehrung der Strukturen“ (Müller, 1973), Einübung in konfrontierendes Denken und neuartige Denkprozesse verwiesen auf die potentielle kommunikative Kraft des angezielten Dialogs. Dafür stand als Symbol für die Akademiearbeit das Bild der Brücke.
Die Ausgestaltung dieses Anspruchs bedurfte eines spezifischen methodischen Arrangements. Es konzentrierte sich auf das Instrument der moderierten Tagung mit Vorträgen, Podien und Plenumsdiskussionen. Die Inhalte und Akteure (Teilnehmende/Referentinnen und Referenten/spezifische Zielgruppen) veränderten sich jedoch mit den sich wandelnden politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontexten. Akademiearbeit hatte sich auch methodisch neuen Herausforderungen und Erwartungen anzupassen. Am Lernort Evangelische Akademie blieb die Tagung zwar weiterhin das zentrale Instrument. Aber viele andere Formate wie zeitlich befristete Projektarbeit, Tagesveranstaltungen, Hintergrundgespräche und Ausschreibungen kamen hinzu.
2.1. Dialog als Lernerfahrung
Der Dialog als Weg zur Verständigung erwies sich in der ersten Phase der Akademiearbeit als das selbstverständliche Lernkonzept. Nach der Nazi-Diktatur bedurfte dies keiner besonderen Begründung. Gemeint war das freie und offene Gespräch. Hanns Lilje fand dafür 1952 den oft zitierten Satz: „Hier kann jeder alles sagen“. Wie die Tagungsprotokolle aus dieser Zeit zeigen, dominierten dabei allerdings die Vorträge. Doch die wiedergewonnene Erfahrung der Offenheit für kontroverse Positionierungen reichte aus, um diese Form des Lernens als Einübung in die Demokratie zu verstehen.
In der zweiten Phase wurde dieses Selbstverständnis in Frage gestellt. Der Paradigmenwechsel zu einer kritischen Grundhaltung gegenüber restaurativen Verhaltensmustern und der Mentalität des Wiederaufbaus sowie das auch selbstkritische Eintreten gegen Rassismus und Kolonialismus beförderten eine in der Sache entschiedene und auf breitere Partizipation ausgerichtete Lernkultur. Podiumsgespräche und Arbeitsgruppen lösten die Dominanz eher frontaler Arrangements ab. Lernen wurde als ein an sich kritischer Prozess begriffen, der sich aus der Artikulation der Teilnehmenden heraus entwickeln müsse.
2.2. Diskurs als Konfliktbearbeitung
Dies fand sich in der dritten Phase im Diskursbegriff wieder. Er spitzte den offenen Dialog auf zielorientierte argumentative Auseinandersetzungen über Richtungsentscheidungen zu. In und zwischen den Akademien blieb dieser Ansatz zunächst umstritten. Die Einen sahen darin eine thematische Verengung des Dialogangebots, die Anderen angesichts von Großdemonstrationen und Polizeieinsätzen die angemessenere Bearbeitung der Konflikte durch zivilgesellschaftliche Partizipation. Sprechverbote für Generäle begleiteten die ersten diskursiven Vermittlungsversuche ebenso wie der demonstrative Boykott durch Friedens- und Ökologiegruppen. Dennoch gewannen diskursive Arrangements auch durch ihre Übertragung auf weitere Themenfelder wie den interkulturell-religiösen Dialog (Evangelische Akademien in Deutschland, 2006) (→ Lernen, interkulturelles
In der vierten Phase erwiesen sich die bipolaren Konstellationen zweier Extreme mit vermittelnden moderateren Positionierungen dazwischen jedoch kaum noch als tragfähig. Der Dualismus des West-Ost-Konfliktes bestimmte nicht länger die Denk- und die Handlungsmuster. Multipolares Vernetzen problemrelevanter Gruppen von Akteuren trat an die Stelle des bipolaren Bauens von Brücken. Die Aktivitäten der Akademien setzten auf möglichst präzise Definitionen von Sachproblemen und versuchten, die daran beteiligten Akteure (Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Politik, Fachdisziplinen und Wissenschaft) auf den je spezifischen Handlungsfeldern um Problemlösungsoptionen herum in kommunikativen Arrangements aufeinander hin zu orientieren. Die multipolaren neuen Problembeschreibungen spiegelten sich in multilateralen Konstellationen der Akteure und multivarianten Veranstaltungsformen.
Mit den gegenwärtig zunehmenden Entwicklungstrends zu überwunden geglaubten nationalistischen und populistischen Verhaltensmustern, zu autokratischen Regimen und quasi-religiöser Aufladung geopolitischer, sozialer und ökonomischer Konflikte, aber ebenso zu selbstreferenziellen autonomen, von Algorithmen gesteuerten digitalen Systemen trifft der Diskursansatz erneut auf noch kaum bearbeitete Herausforderungen. Die Ambivalenzen dieser Trends enthalten totalitäre Züge, stellen bisher für konsensfähig gehaltene zivile Grundüberzeugungen infrage und kündigen gezielt Prinzipien einer pluralistisch-demokratischen Kultur auf. Es bedarf keiner prophetischen Gabe, um darin die nächste Bewährungsprobe für eine dialogische und diskursive Lernkultur zu entdecken.
3. Weltverantwortung, Religionspädagogik und Bildung
Evangelische Akademien sind institutionelle Gründungen aus dem Geist der Weltverantwortung von öffentlicher Theologie und Kirche. Mit dieser Rückbindung verstanden sich die Akademien als eine neue Art des Erwachsenenkatechumenats in gesamtgesellschaftlich missionarischer (→ Mission, christliche
Dieser Anspruch enthält ein spezifisches Bildungsverständnis (→ Bildung
Das bestimmt auch das gewachsene Verhältnis zur → Religionspädagogik
Peter L. Berger hat intermediäre Institutionen zur Bearbeitung normativer Konflikte, soweit sie sich von zivilen Tugenden leiten lassen, in drei Typen unterschieden. Der imperiale Typus nutzt Recht, Gesetz und Sanktionen. Der pragmatische Typus sorgt für Interessenausgleich z.B. zwischen Tarifparteien oder durch Mediation. Dem dritten, dem dialogischen Typus rechnet Berger konzeptionell die Arbeit der Evangelischen Akademien zu. Gegenüber den anderen beiden ist er speziell durch die Suche nach dem ideenbildenden Kompromiss gekennzeichnet. Auf dieser ideenbildenden Ebene sieht Berger eine der wenigen Möglichkeiten für Vermittlungsprozesse als Vehikel für neue Erkenntnisse über menschliche Lebensbedingungen (Berger, 1997, 601-608). Aus theologischer Perspektive könnte hinzugefügt werden: Wo sich solche ideenbildenden Kompromisse herausarbeiten lassen, sollte dies in der Freiheit des Evangeliums auch als Möglichkeit zur verantwortlichen Gestaltung der Welt in öffentlichen Diskursen wahrnehmbar gemacht werden.
Literaturverzeichnis
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