Gottesdienst, evangelisch
(erstellt: Februar 2016)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Gottesdienst_evangelisch_.100102
1. Evangelischer Gottesdienst – ein pluriformes Geschehen
1.1. Begriffliche Annäherung
Wer
Gottesdienst sagt, hat oft eine genaue Vorstellung von dem, was gemeint ist, meist der Gottesdienst am Sonntagvormittag. Vor allem in binnenkirchlichen Milieus firmiert dieser als „Hauptgottesdienst“, dem gegenüber andere Gottesdienste einem „zweiten Programm“ (Friedrichs, 2005) zugeordnet werden. Sichtbar ist jedoch insgesamt ein in den letzten Jahren gestiegenes Interesse, solch „andere Gottesdienste“ als anregende Alternativen zu profilieren (Arnold, 2012). Diese Entwicklung trägt auch den empirischen Befunden Rechnung, dass für die Mehrzahl der Evangelischen vor allem „Gottesdienste an Übergängen im Lebenslauf“ (Kasualpraxis: Wagner-Rau, 2008) sowie „Festtagsgottesdienste“ (z.B. Heiligabend) attraktiv sind (Grethlein, 2012, 401). Gleichwohl bleibt die statistische Erfassung von Gottesdiensten in der EKD überwiegend auf sogenannte „Zählsonntage“ fokussiert (EKD, 2014, 15). Diese liturgietheoretische und kirchensoziologische „Engführung“ (Saß, 2010, 22f.) führt dazu, dass die beachtliche Menge von → Schulgottesdiensten
1.2. Historische Aspekte
Evangelischer Gottesdienst lässt sich nicht anhand von spezifischen Ordnungen, festgelegten Zeiten, klar bestimmten Orten oder handelnden Personen definieren, sondern ist ein kommunikatives Geschehen (Meyer-Blanck, 2011, 25). Diese allgemeine, dialogische Bestimmung von Gottesdienst, die Meyer-Blanck in Auseinandersetzung mit → Schleiermachers
Luthers theologische Impulse zum Gottesdienst sind nun nur im Horizont seiner Konflikte mit der römischen Kirche zu verstehen (Grethlein, 2001, 89f.). Bereits 1523 benennt er scharf „drey grosse mißbreuch“ den Gottesdienst betreffend: die fehlende Auslegung biblischer Lesungen, die Bezugnahme auf Heiligenlegenden und die Praxis, für Geld Messen lesen zu lassen, wodurch liturgisches Handeln als „eyn werck“ missverstanden würde (Weimarer Ausgabe 12, 35, 10-18). Aus diesem Grund rückt Luther theologisch den Christusbezug ins Zentrum und fordert nachdrücklich den Gottesdienst als von Gott geschenktes „beneficium“ (Wohltat), nicht als von Menschen gemachtes „sacrificium“ (Opfer) zu begreifen (Meyer-Blanck, 2011, 159). Sein Gottesdienstverständnis ist wesentlich angeregt durch seine Rechtfertigungslehre: „Von daher gewinnt Luthers Gottesdienstverständnis große Weite, weil Glauben selbst zum Gottesdienst wird [...]. Die biblische Vorstellung vom Gottesdienst im Alltag, wie sie sich in
Röm 12,1
1.3. Praktisch-theologische Impulse
Diese Entwicklung ist in den letzten Jahren in der Praktischen Theologie produktiv bearbeitet worden, indem die ästhetische Dimension des Gottesdienstes betont wurde (Meyer-Blanck, 2011, 343-387). Wichtige Impulse zu dieser Neubesinnung auf die
Form des Gottesdienstes stammen aus liturgischen Bewegungen wie etwa der Berneuchener Anfang der 1920er Jahre sowie der Reflexion des Verhältnisses von Kunst und Religion bzw. ästhetischer und religiöser → Erfahrung
2. Evangelische Gottesdienste
2.1. „Normalfall“ Sonntagsgottesdienst
Jeden Sonntag besuchen ca. eine Million Menschen einen evangelischen Gottesdienst. Diese hohe, absolute Zahl von Gottesdienstteilnehmenden kann durchaus positiv gedeutet werden (Meyer-Blanck, 2011, 237f.). Dem gegenüber stehen aber empirische, für Veränderungen der Zeitwahrnehmung spätmoderner Gesellschaften achtsame Befunde. Ihnen ist eine erhebliche Differenz gegenwartskultureller Gestaltungsfragen des Sonntages samt der Entwicklung von „Wochenenddramaturgien“ (Ebertz, 2008) zum auf wöchentliche Partizipation angelegten Sonntagsgottesdienst zu entnehmen. Offenbar kollidiert die am Wochenrhythmus orientierte Feier mit der Lebenspraxis vieler Menschen. Der sonntägliche Gottesdienst ist in eigentümlicher Weise zwischen erheblichen normativen Erwartungen binnenkirchlicher Milieus und gleichzeitiger Marginalisierung seitens der Mehrzahl der Evangelischen situiert. Auch die Rede vom Sonntagsgottesdienst als Mitte der
→ Gemeinde
2.2. Gottesdienste in der Konfirmandenzeit
In kaum einem anderen kirchlichen Handlungsfeld kommt die Spannung zwischen Sonntagsgottesdienst und alternativen Feierformen so deutlich zum Ausdruck wie in der Konfirmandenzeit (→
Konfirmandenunterricht/Konfirmandinnenarbeit
2.3. Schulgottesdienste
Überlegungen zur Feier von Gottesdiensten im Kontext der öffentlichen Schule (→
Schulgottesdienst
3. Ausblick
Die Pluriformität evangelischer Gottesdienste im Horizont eines reformatorisch weiten Gottesdienstverständnisses erweist sich als folgenreich. Solch Nachdenken über Gottesdienst in evangelischer Perspektive drängt zudem auch auf religionspädagogische Klärungen. Dazu gehört zunächst einmal die Frage, wie sich religiöse Bildung an den Lernorten →
Familie
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