Kinder- und Jugendhilfe
Andere Schreibweise: child and youth care (engl.)
(erstellt: März 2024)
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1. Kinder- und Jugendhilfe
1.1. Eigenart und Ziele der Kinder- und Jugendhilfe
Die Kinder- und Jugendhilfe richtet sich an junge Menschen (und deren Familien) besonders im Fall von Benachteiligung und Prekarität. Sie hat zum Ziel, Heranwachsende in ihren zentralen Entwicklungsaufgaben zu fördern und sie vor Gefahren zu schützen. Gesetzlich geregelt ist die Kinder- und Jugendhilfe im Sozialgesetzbuch (SGB) VIII. Seit den 90er Jahren ist das Jugendhilferecht als Leistungsrecht formuliert (Bernzen/Bruder, 2018, 133), d.h. dass der Einzelne ein Recht auf Erbringung staatlicher Leistungen hat und einfordern kann. Das Gesetz sieht eine Förderung durch öffentliche und freie Träger vor mit dem Ziel der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten (Bernzen/Bruder, 2018, 133). Als weitere Leitziele der Kinder- und Jugendhilfe sind zum einen die „Förderung der individuellen und sozialen Entwicklung junger Menschen“ als individuelle Maßnahmen, zum anderen „der Abbau und Vermeidung von Benachteiligungen“ sowie das „Schaffen und Erhalten von positiven Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie einer kinder- und familienfreundlichen Umwelt“ (BMFSFJ, 2023, o.S.) als strukturelle Maßnahmen zu nennen.
1.2. Handlungsfelder der besonderen Sorge für benachteiligte junge Menschen
Die Kinder- und Jugendhilfe umfasst nach dem Sozialgesetzbuch (SGB VIII) verschiedene Handlungsfelder: Dazu gehören folgende Leistungen:
- Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, Schulsozialarbeit und der erzieherische Kinder- und Jugendschutz (§§ 11-15 SGB VIII);
- Förderung der Erziehung in der Familie (§§ 16-21 SGB VIII);
- Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Kindertagespflege (§§ 22-26 SGB VIII);
- Hilfen zur Erziehung, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, Hilfen für junge Volljährige (§§ 27-41 SGB VIII).
Die Kinder- und Jugendhilfe schließt auch präventive Maßnahmen ein, also den Kinder- und Jugendschutz, sowie Interventionen, in denen es um das Wohl von Kindern und Jugendlichen geht. Die verschiedenen Formen der Jugendhilfe können von öffentlichen und freien Trägern geleistet werden und umfassen die Unterstützung von Heranwachsenden in ihrer Entwicklung sowie der Eltern und Erziehungsberechtigten in schweren Situationen. Letztere werden in diesem Beitrag nicht weiter berücksichtigt.
Die Jugendsozialarbeit, um eines der Felder mit Blick auf besonders benachteiligte Heranwachsende herauszugreifen, ist ein sozialpädagogisches Leistungsangebot nach § 13 SGB VIII mit dem Ziel, junge Menschen in prekären Lebenslagen und mit schwierigem sozialem Hintergrund, die in ihrer Entwicklung und Entfaltung beeinträchtigt sind, zu fördern und in ihrer Mitbestimmung zu stärken. Zu ihr gehören vor allem die Schulsozialarbeit, die Jugendberufshilfe und das Jugendwohnen. Die angebotenen sozialpädagogischen Hilfen fördern die „schulische und berufliche Ausbildung, Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre soziale Integration“ (§ 13 SGB VIII Jugendsozialarbeit). Diese Maßnahmen werden ergänzt durch besondere Ausbildungs- und Beschäftigungsangebote sowie die Bereitstellung von sozialpädagogisch begleiteten Wohnformen (§ 13 SGB VIII Jugendsozialarbeit). Die Formen der Jugendsozialarbeit sind vielfältig: Sie reichen von Beratung bis zur Betreuung in Einrichtungen des Jugendwohnens. Unter den sozialpädagogischen Organisationsformen, die vor allem benachteiligte junge Menschen in den Blick nehmen, kommt der offenen Jugendarbeit besondere Bedeutung zu, da sie nicht an eine Mitgliedschaft gebunden ist und frei zugängliche Angebote gestalten kann, die sozialräumlich angelegt sind und so einen Nahraum der Erreichbarkeit besonders für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten schaffen (Faulde, 2021).
1.3. Kirchliche Kinder- und Jugendhilfe
Die kirchliche Jugendarbeit (→ Jugendarbeit, katholisch
Die Geschichte der Jugend(sozial)arbeit reicht ins 19. Jahrhundert zurück. Damals verstärkte sich durch das rasante Bevölkerungswachstum und die Zuwanderung in die Städte die soziale Not, besonders unter Kindern und Jugendlichen. Daher entstanden Initiativen, die jungen Menschen die Chance auf Versorgung, Ausbildung und Arbeit gewährleisten wollten (Gögercin, 1999, 22f.). In der Weimarer Republik löste die Idee der Fürsorge die bis dahin maßgeblichen Prinzipien der Sicherheit und Ordnung ab und es lässt sich mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz eine staatliche Verantwortungsübernahme nachweisen. Nach der Gleichschaltung der Jugendarbeit zur Zeit des Nationalsozialismus musste die Jugendfürsorge neu aufgebaut und entwickelt werden. Als ein geschichtlicher Meilenstein für die Entwicklung der Jugendsozialarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist die „Erste Konferenz Heimstatt“ zu nennen, die am 13.11.1947 in Köln stattfand. Zielgruppe waren in erster Linie eltern- und heimatlose junge Menschen, die an den Folgen der Weltkriege zu leiden hatten (Breuer, 2007, 17).
Neben der geschichtlichen und rechtlichen Entwicklung, die eine Einbindung kirchlicher und staatlicher Jugendhilfe ins Sozialsystem begründet, sind auch theologische Argumente tragfähig: Religiöse Institutionen und Träger haben eine politische Verantwortung, die aus der Theologie der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ mit ihrer positiven Verhältnisbestimmung von Religion und Gesellschaft, besonders der „Option für die Armen“ mit der Forderung nach genuin diakonischem Engagement und vor allem in der unbedingten Gottebendbildlichkeit (→ Gottebenbildlichkeit (AT)
Auf evangelischer Seite ist die Jugendarbeit (→ Jugendarbeit, evangelisch
Die Jugendhilfe in christlicher Trägerschaft ist so einerseits in ein grundlegendes, konfessionell geprägtes Pastoralverständnis eingebettet, andererseits füllt sie eine eigene Aufgabe im Bereich der Pädagogik aus, die besonders die religiöse Deutekompetenz menschlicher Erfahrungen in den Mittelpunkt stellt.
2. Religion in der Kinder- und Jugendhilfe
2.1. Lebensweltorientierung kirchlicher Kinder- und Jugendhilfe
Jugendhilfe ist kein Bildungsort (→ Lernorte religiöser Bildung
Die Lebensweltorientierung ist ein etabliertes Theoriekonzept der Sozialen Arbeit, das nach Faulde die Verortung von Religion im Leben junger Menschen besonders greifbar macht. Es „geht vom Alltag der Adressat*innen aus und deutet deren Handlungsmuster als subjektive Bewältigungsstrategien bei der Suche nach Veränderungen in den alltäglichen Lebensverhältnissen“ (Faulde, 2021). Faulde stellt heraus, dass mannigfache gesellschaftliche Widersprüche und Spannungen das Leben junger Menschen und ihren Alltag prägen und darin subjektiv bedeutsam sind (Faulde, 2021). Der Fokus des lebensweltorientierten Ansatzes richtet sich besonders auf individuelle Stärken, vorhandene Ressourcen und nicht realisierte Potenziale der Lebensbewältigung im Alltag.
Unter den Vorzeichen des „Aufwachsen[s] in der Risikogesellschaft“ (Keupp, 1994, 34) gewinnt neben dem Thema der Ausbildung die Frage der Berufswahlbegleitung an Bedeutung und korreliert mit einem (jugend)pastoralen Anliegen, junge Menschen ganzheitlich in der Klärung von Beruf und Berufung zu begleiten. Hier sind zentrale Faktoren die Frage nach Sinn, Spaß und Erfüllung sowie der Einbezug des sozialen Kontexts und möglicher Begleitpersonen, die prägend wirken (Karl, 2020).
2.2. Religiöse, interreligiöse und interkulturelle Kompetenz in der Sozialen Arbeit
Die explizite Frage nach Religiosität ist auch in einer säkularen und religionspluralen Gesellschaft relevant, wenn situationsbezogene Deutekompetenzen und Ritualkompetenzen gefragt sind. Sinnfragen, aber auch existentielle Strategien der Krisenbewältigung können religiös gestaltet werden. Daher ist die Kontingenzoffenheit, aber auch die Vermittlung von Kontingenzbewältigung eine Aufgabe, die auch in der Jugendhilfe einen Ort hat.
In einigen Bereichen der Jugendhilfe sind Religion und Religiosität von sich aus stärker präsent. So findet Religion in der Sozialen Arbeit Aufmerksamkeit durch verstärkte Einwanderung (Freise, 2016). Besonders junge Menschen mit Migrationshintergrund bringen eine religiöse Sozialisation mit – seien sie christlich oder muslimisch oder anderen Glaubens. Für junge Menschen, die ihre Heimat verlassen, kann der Glaube eine Ressource darstellen, er kann aber auch angesichts traumatischer Erfahrungen hinterfragt werden. Solche Fragen verlangen eine adäquate Begleitung. Zudem bedarf es nach Freise einer interkulturellen Sach- und Deutekompetenz auf Seiten der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, um Phänomene und Erfahrungen der Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu verstehen und einzuordnen. Darüber hinaus wirkt Jugendsozialarbeit als interreligiöser Lernort, wo junge Menschen verschiedener Glaubenstraditionen zusammenkommen. Eine besondere Herausforderung in diesem Kontext ist die Fundamentalismusprävention, also auch das Missbrauchs- und Gefahrenpotenzial von Religion zu kennen und zu vermitteln.
2.3. Prinzipien religionssensiblen Arbeitens
Die Religiosität junger Menschen „besteht aus Fragmenten, die situations- und biografiespezifisch zu betrachten sind, setzt sich aus Glaubenskonzepten unterschiedlichen Ursprungs zusammen, entwickelt sich permanent weiter und ist eng verknüpft mit der Sozialisation, der persönlichen Lebenssituation sowie der Entwicklung der eigenen Identität“ (Gabriel, 2021, 1353). In den Handlungsfeldern der Jugendhilfe kommt es daher darauf an, diese Fragmente produktiv im Sinne der Integration und Identitätsleistung aufzugreifen. Ein Ansatz, der sich in den letzten Jahren bewährt und weiterentwickelt hat, ist das Konzept der „Religionssensiblen Erziehung und Bildung“ (Lechner/Gabriel, 2009) (→ Bildung, religionssensible
Claudia Mayer entwickelte die Theorie der Religionssensibilität in ihrer Dissertation zur Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit weiter (Mayer, 2024). Sie verankert ihren Religionsbegriff vor allem am Religionsverständnis von Detlev Pollack, erweitert um den Aspekt der Sinnfrage. Ihr Anliegen ist es, den Begriff der Sensibilität näher zu erschließen. Dieser ist verstanden als „Modus des Umgangs“ mit Religion und Religiosität. In der Differenzierung von „sensibel sein für“ und „sensibel umgehen mit“ wird ein doppeltes Moment sichtbar, das für Pädagogik und Bildungsprozesse relevant ist (Mayer, 2024, Seitenangabe wird nachgereicht).
Das Konzept der Religionssensibilität als eine mögliche religionsbezogene Theorie in der Jugendhilfe erschließt Signaturen, um mit dem Phänomen von Religiosität im Erleben junger Menschen respektvoll, subjektorientiert umgehen zu können. Es bietet für die Zukunft weitere Anknüpfungsmöglichkeiten für den Forschungs- und Praxisdiskurs.
Literaturverzeichnis
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