Diakonisches Lernen, evangelisch
(erstellt: Februar 2016)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Diakonisches_Lernen_evangelisch.100314
Der Artikel blickt zunächst in die Historie, um Vorläufer Diakonischen Lernens zu identifizieren (1), stellt dann die klassische Definition Diakonischen Lernens aus den 1990er-Jahren (2) und den folgenden Differenzierungsprozess (3) vor. Schließlich wird ein integraler Ansatz entfaltet (4).
1. Vorgeschichte Diakonischen Lernens
Auch wenn es in früheren Jahrhunderten noch kein „Diakonisches Lernen“ gab, verfolgte man in der christlichen → Erziehung
Zum einen ist die „
pädagogische Diakonie“ (Heimbrock, 1987, 428-438) zu nennen, die einen Teil der sozial-diakonischen Arbeit an bedürftigen Kindern und Jugendlichen darstellte. Hier wirkten sozialpädagogische Ziele, → Ausbildung
Im Bereich der allgemeinen →
Pädagogik
Für das heutige Diakonische Lernen sind die zwei genannten historischen Prinzipien bedeutsam: 1. Pädagogische Diakonie beziehungsweise diakonische Pädagogik zeigt, dass christlicher → Glaube
2. Klassische Definition „Diakonisches Lernen“
Der Begriff „Diakonisches Lernen“ wurde Ende des 20. Jahrhunderts geprägt. Diakonisches Lernen meint in dieser ersten Phase
das aus einem Praktikum und der anschließenden Reflexion bestehende soziale Praxislernen im christlichen Kontext. Diakonisches Lernen hat nicht nur den Anspruch, die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler und Schülerinnen im Hinblick auf Empathie, Prosozialität und Engagement zu fördern, sondern auch die → Schulkultur
Für das Aufkommen des Diakonischen Lernens waren zwei Entwicklungen bedeutsam, die fruchtbar zusammenwirkten: 1. Im
Schul- und Bildungswesen gab es die Wahrnehmung, dass in der Gesellschaft gravierende Veränderungen wie Individualisierung, Entsolidarisierung und Ökonomisierung wirksam sind (Schmidt, 2005, 423; Kuld/Gönnheimer, 2000, 7). Daraus folgte die entsprechende Entscheidung, soziales Lernen an der → Schule
Die konkrete Umsetzung Diakonischen Lernens erfolgte zunächst überwiegend in → kirchlichen Schulen
3. Differenzierungen
Nach der Gründungsphase (bis 2006, so Adam, 2008, 364) setzte eine Differenzierung ein. Für das Diakonische Lernen gibt es eine breite Palette an Konzepten sowie Lern- und Organisationsformen (Adam, 2006; Horstmann, 2011). Aus dem Pool der Lernformen sind fachbezogene oder -übergreifende diakonische Projekte, einmalige oder sich wiederholende Aktionen, Praktika und eigene Lernbereiche über mehrere Klassenstufen zu nennen. Die Konzeptionen Diakonischen Lernens zeigen bei aller Verwandtschaft in der Grundthematik auch eine große Bandbreite von Akzentsetzungen. Hier seien wichtige Ansätze und ihre Vertreter genannt.
H. Noormann, der einer der ersten war, die den Begriff verwendeten, betont, dass „Diakonisches Lernen“
etwas anderes sei als Lernen „über Diakonie“ (Noormann, 1998, 8). Diakonisches Lernen bedeute, dass Schülerinnen und Schüler über einen längeren beziehungsweise wiederholten Zeitraum praktische Arbeit in einer diakonischen Einrichtung leisten, diese Tätigkeit in Lerntagebüchern und Berichten dokumentieren und ihre Erlebnisse gemeinsam mit anderen im Unterricht reflektieren (Noormann, 2009, 54). „Diakonie lernen“ dagegen sei das im klassischen Unterricht angesiedelte, optional mit einem kurzen Besuch einer diakonischen Einrichtung erweiterte Lernen von Inhalten. Ziele seien dabei: Kenntnisse über Angebote der Diakonie vor Ort und allgemein erwerben, Diakonie als ein unverwechselbares Kennzeichen des christlichen Glaubens kennenlernen, verstehen, was Kirche gemäß ihrer Grundfunktionen ausmacht, und die Übereinstimmung von Idealen der Kirche und ihren Handlungen im Sinne einer Glaubwürdigkeitserfahrung wahrnehmen (Noormann, 2009, 54). Der tiefere Sinn des Diakonischen Lernens liege nicht in der „Werteerziehung“ zum Ausgleich gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, sondern darin, diakonische Erlebnisse „religionspädagogisch zu durchdringen in ihrem Verweischarakter […] für die Grundhaltung gegenüber dem Menschsein und seinen Beschädigungen im Licht der guten Nachricht von der Menschenfreundlichkeit Gottes“ (Noormann, 2009, 55). Diakonisches Lernen hat damit zu tun, sich auf fremde Lebenswirklichkeiten einzulassen und Anfragen an den eigenen Lebensstil zu riskieren. In Anlehnung an das Diktum → Bonhoeffers
H. Hanisch, ebenfalls ein früher Protagonist Diakonischen Lernens, teilt Noormanns Position, indem er Diakonisches Lernen in erster Linie als „Persönlichkeitslernen“ versteht und daraus folgert, dass das Ziel nicht darin besteht, Schüler „zum Nachdenken über Diakonie und diakonisches Handeln […] oder zu akademischen Erörterungen über Sinn und Zweck sozialer oder diakonischer Einrichtungen“ zu befähigen (Hanisch, 2006, 43f.).
F. Bargheer weitet Diakonisches Lernen zu einem Synonym
positiver gesellschaftlicher Veränderungen aus. Diakonisches Lernen ist demnach „zu verstehen als Änderung von Denkgewohnheiten und als Entwicklung der Fähigkeit, psycho-soziale Umwelten lebensdienlich und menschengerecht zu gestalten. → Subjekte
Viel beachtet ist der von H. Hanisch, H. Toaspern und C. Gramzow vertretene Ansatz, Diakonisches Lernen als
situiertes Lernen innerhalb einer Praxis-Gemeinschaft zu verstehen (Hanisch, 2006, 48-53; Toaspern, 2007, 69-72; Gramzow, 2010, 61-66). Das aus dem Amerikanischen stammende „situated learning“ bezieht sich auf die beruflich-betriebliche Ausbildung, beispielsweise von Schneidern oder Hebammen. Der Lehrling beobachtet, fragt und arbeitet in ausgewählten Bereichen mit. Er erlangt eine bedingte Teilhabe („legitimate peripheral participation“) in der Dienstgemeinschaft („community of practice“), um sich auf eine spätere Vollmitgliedschaft darin vorzubereiten (Lave/Wenger, 1991). Das Modell ist nicht vollständig auf unsere deutschen Verhältnisse in der Schule übertragbar, denn Schülerinnen und Schüler kommen als Gäste oder Praktikantinnen und Praktikanten an die Lernorte und nicht als Mitarbeiter in einem für mehrere Jahre rechtlich bindenden Arbeits- und Ausbildungsverhältnis oder sogar als künftiger fester Mitarbeiter. Dennoch lassen sich aus ihm wichtige Erkenntnisse gewinnen. Situiertes Lernen bedeutet, dass „das Lernen stets in einer bestimmten Kultur erfolgt, in die der → Lernende
H. Toaspern begreift Diakonisches Lernen vor allem vom Ausüben der Nächstenliebe her. Diakonisches Lernen ist der „Anteil von diakonischer Bildung, der sich auf das Kennenlernen und Einüben von Nächstenliebe als sozial verantwortliches Handeln bezieht“ (Toaspern, 2007, 22). Die besonderen Lernbedingungen sind es, die den Anstoß zur Persönlichkeitsentwicklung geben. „Diakonisches Lernen stellt für die Förderung der Identitätsentwicklung, den Erwerb sozialer Fähigkeiten und die Übernahme sozialer → Verantwortung
W. Boës sieht es im Anschluss an H. Schmidt als notwendig an, begriffsmäßig den Überschritt vom „diakonischen Lernen“ zur „diakonischen Bildung“ zu vollziehen, um deutlich zu machen, dass Bildung über funktionales Lernen hinausgeht (Boës, 2013, 32). Bildung im christlichen Sinn soll abzielen auf eine „Kultur des Mitgefühls, der Barmherzigkeit und der Hilfsbereitschaft“ (Kirchenamt der EKD, 2003, 63). Als Strukturelemente diakonisch-sozialer Bildungsprozesse ergeben sich nach H. Schmidt und R. Zitt: „1. Analyse der Kontexte, Räume und Rahmenbedingungen, 2. Verarbeitung der Erfahrungen in subjektiver Perspektive, 3. Konfrontation mit Erfahrungen und Bewertungen anderer, 4. Information über Strukturen und Systeme, 5. Reflexion unter normativen Gesichtspunkten (z.B. → Menschenwürde
Diakonisches Lernen lässt sich also in einen Bildungsbegriff einbetten, der nicht nur die Selbstbildung als Eigenaufgabe und -leistung, sondern das Momentum des „Widerfahrnisses“ (Nipkow, 2007, 78-89; ferner Toaspern, 2007, 20; Boës, 2013, 34) stark macht. Man kann im Sinne H. Roths betonen, dass Diakonisches Lernen auf Basis „originaler Begegnungen“ (Roth, 1969, 109-117) am → Lernort
Zunehmend wird eine Beschränkung des Diakonischen Lernens auf das „Praktische“ als konzeptionell unbefriedigend angesehen. R. Merkel begrüßt den Erfolg Diakonischen Lernens, sieht aber drei Schwierigkeiten: Erstens fehlten entsprechende Handlungsroutinen, zweitens sei der Lernerfolg im Sinne religiöser Kompetenzförderung schwer bestimmbar und drittens herrsche Unklarheit darüber, wie die Praxiserfahrungen didaktisch fruchtbar gemacht werden sollen (Merkel, 2009, 85). Diakonisches Lernen sei dem Kern nach zwar ein „Handeln in Begegnung“, zugleich müsse man im schulischen Kontext nach theoretischen Verknüpfungen fragen. Er fordert deshalb: „Persönlichkeitsbildendes Praxislernen und schulischer Religionsunterricht, die zwei Beine des diakonischen Lernens, können allein nicht stehen“ (Merkel, 2009, 85). Für Merkel ergeben sich notwendig drei Phasen, die zu durchlaufen sind:
Anbahnung, Praktikum und Reflexion. In der Anbahnungsphase sollen die Schüler die → „(religiös-)ethische
Auch U. Witten unterstreicht mit ihrem Ansatz „Diakonisches Lernen an Biographien“ (→ Biografisches Lernen
Ähnlich betont J. Kramer in seinem Ansatz „Diakonie inszenieren“, dass Diakonisches Lernen nicht auf Praxislernen verengt werden dürfe (Kramer, 2015, 12). Im Gespräch mit den Einsichten der → performativen Religionspädagogik
Schließlich ist darauf zu verweisen, dass das in kirchlichen Schulen (→ Schule, konfessionell
Zusammenfassung: Der Diskurs des Diakonischen Lernens erlebte dahingehend eine Weiterentwicklung, dass Diakonisches Lernen nicht mehr nur als ein christliches Sozialpraktikum mit anschließender Reflexion angesehen wurde, das das Ziel verfolgt, Prosozialität zu fördern.
4. Diakonisches Lernen – ein integraler Ansatz
„Diakonisches Lernen ist erlebnis- und wissensorientierte soziale Bildung in christlicher Perspektive“ (Fricke/Dorner, 2015, 15). Das pädagogische Konzept von Fricke und Dorner folgt auf mehrfache Weise einem „integralen“ Ansatz:
1. Diakonisches Lernen beruht gleichermaßen auf zwei Orten. Der Unterricht findet zunächst im
Klassenzimmer statt und wird dann am außerschulischen Lernort fortgesetzt. Dort ist nicht mehr die → Lehrkraft
3. Sehen, urteilen und handeln durchdringen einander: Im Klassenunterricht findet eine Phase der kognitiven und affektiven Annäherung und Wahrnehmung statt. Das Handeln bildet in der Praxisphase den Schwerpunkt, allerdings begleitet vom Wahrnehmen vor Ort. Die dritte Phase führt zurück zu neuer Wahrnehmung und verändertem Urteilsvermögen (Fricke/Dorner, 2015, 79).
4. Das Verständnis von Diakonie beschränkt sich dabei nicht auf die Institution. „Diakonie“ steht für eine große und vielfältige Welt, die mit den elementaren Aspekten des Menschseins zu tun hat, mit seinen Befindlichkeiten, Bedürfnissen und Beziehungen (Fricke/Dorner, 2015, 24-43). Zu dieser Welt hat jeder Mensch durch seine eigenen Existenzfragen und -erfahrungen Zugang. Im Unterricht wird dieser Welt ganzheitlich nachgespürt (Buck, 2015).
5. Diakonisches Lernen ist von seinem Selbstverständnis her nicht auf kirchliche Schulen beschränkt, sondern es ist so anschlussfähig, dass es an allen allgemeinbildenden Schulen praktiziert werden kann. Auch Schülerinnen und Schüler anderer Religionen sowie → Konfessionslose
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
- Die zwei Orte des Diakonischen Lernens (2015). Aus: Fricke/Dorner, 2015, S. 15. © Mirchael Fricke/Martin Dorner
- Die zwei Beine des Diakonischen Lernens (2015). Aus: Fricke/Dorner, 2015, S. 15. © Michael Fricke/Martin Dorner
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