Evangelische Unterweisung
(erstellt: Februar 2016)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Evangelische_Unterweisung.100122
1. Überblick
Das Konzept der Evangelischen Unterweisung bestimmte den evangelischen Religionsunterricht in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg bis weit in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein. Programmatisch wurde das Konzept von dem Religionspädagogen Helmuth Kittel 1947 in seiner Schrift „Vom Religionsunterricht zur Evangelischen Unterweisung“ entfaltet, seine Ursprünge liegen aber in der kulturkritischen Aufbruchsstimmung der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, die auch die protestantische Theologie und in ihrer Folge die → Religionspädagogik
Parallelen zur Evangelischen Unterweisung zeigen sich in dem katholischen Konzept des →
kerygmatischen Religionsunterrichts
2. Wort-Gottes-Theologie und Dialektische Religionspädagogik: die Wurzeln der Evangelischen Unterweisung
Der Römerbriefkommentar von Karl Barth in seiner zweiten Auflage (Barth, 1976) markiert den Beginn einer Neuausrichtung theologischen Denkens nach dem Ersten Weltkrieg, das in Absetzung von liberaler Theologie und kulturprotestantischen Traditionen des 19. Jahrhunderts → Theologie
Aufgabe der Theologie ist einzig ein sich selbst beschränkendes und gehorsames „Nach-Denken“ der Offenbarung Gottes, die quasi „senkrecht von oben“ in die Diesseitigkeit einschlägt und alles menschliche Tun radikal in Frage stellt.
Eine breite Strömung der → Religionspädagogik
Religionsunterricht steht in dieser Sicht in einer doppelten, unaufhebbaren Spannung. Schulpädagogisch und bildungstheoretisch ist er in seinem grundsätzlichen theologischen Protest gegen alle Bildungsbemühungen ein Fremdkörper an der Schule, muss sich aber gleichzeitig als Fach unter anderen Fächern an der → öffentlichen Schule
Ein weiterer bedeutender Vertreter dieser Phase der Evangelischen Unterweisung war Martin Rang, der in seinem Handbuch für den biblischen Unterricht (Rang, 1947), anknüpfend an Gerhard Bohne und unter dem Eindruck der Bekennenden Kirche, Religionsunterricht zugespitzt als „Kirche in der Schule“ beschreibt. Dieser Unterricht legitimiert sich im Grunde als nachgeholter Taufunterricht, der die getauften Schülerinnen und Schüler zu mündigen Gliedern ihrer Kirche bildet und erzieht. Mit seinem Lehrwerk für das Gymnasium (Rang, 1949) prägte Martin Rang nach dem Zweiten Weltkrieg Generationen evangelischer Schülerinnen und Schüler. Es wurde bis in die 1980er Jahre aufgelegt.
Ähnlich wie Martin Rang entfaltete Oskar Hammelsbeck, der während der NS-Zeit im Kontext der Bekennenden Kirche wirkte, Religionsunterricht als kirchliche Aufgabe. Er sah ihn aber nicht isoliert, sondern verknüpfte ihn mit anderen Feldern kirchlicher Bildungsarbeit, vom → Kindergottesdienst
3. Vom Religionsunterricht zur Evangelischen Unterweisung: die Implementierung des Konzepts
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Konzept der Evangelischen Unterweisung rasch auf allen Ebenen der Religionspädagogik implementiert: in der Unterrichtspraxis, in der Aus- und Fortbildung von Religionslehrerinnen und Religionslehrern und bei der Erstellung von → Lehrplänen
In seiner Schrift „Vom Religionsunterricht zur Evangelischen Unterweisung“ (Kittel, 1949) entwirft Helmuth Kittel programmatisch das Konzept der Evangelischen Unterweisung und greift dabei auf frühere Ansätze, namentlich auf den Gerhard Bohnes (s.o.), zurück. Ausgangspunkt seines religionspädagogischen Programms ist nun aber nicht so sehr eine allgemeine Kulturkritik, sondern die Dekonstruktion des Religionsbegriffs. Theoriegeschichtlich habe die Aufklärung den Begriff der Religion zu einem „Abstraktum“ werden lassen, das aber „unter der Hand zu einem Ersatz-Konkretum“ geworden sei. „An die Stelle Gottes als Inhalt eines konkreten Glaubens trat entweder ein religionsphilosophischer Begriff, wie z.B. ,das Absolute‘, oder ein religionspsychologisches Phänomen, wie z.B. ,das Gefühl der Unendlichkeit‘“ (Kittel, 1949, 7). Da sich der Religionsunterricht konstitutiv auf diesen von Helmuth Kittel als überkonfessionell und überchristlich apostrophierten liberalen Religionsbegriff beziehe, habe er selbst zu seiner Entchristlichung und letztlich auch zu seiner Instrumentalisierung durch die NS-Ideologie beigetragen. Diese Denkbewegung müsse nun umgekehrt und der Religionsunterricht wieder ausschließlich an dem konkreten und lebendigen Wort Gottes ausgerichtet werden. Schon die Bezeichnung „Religionsunterricht“ weise so gesehen in die falsche Richtung. „Evangelische Unterweisung, so heißt die uns gestellte Aufgabe – nie wieder RU!“ (Kittel, 1949, 10).
Evangelische Unterweisung als „Unterweisung im rechten Umgang mit dem Evangelium“ (Kittel, 1949, 10) ist in Helmuth Kittels Sicht ein profiliert christlicher Unterricht, der sich der lutherischen Tradition folgend
materialiter an der Bibel als dem Wort Gottes, dem Gesangbuch als „Gebetbuch der evangelischen Gemeinde“ (Kittel, 1949, 12) und dem → Katechismus
Schultheoretisch betrachtet ist die Evangelische Unterweisung wie bei Gerhard Bohne ein Fremdkörper im System. Ihre Funktion in der Schule ist – modern gesprochen – die → Ideologiekritik
Auch weitere religionspädagogische Bestimmungen sind bei Helmuth Kittel kirchlicher Dogmatik entlehnt. So etwa, wenn er die „Heiligung“ der Schülerinnen und Schüler als letzten Zielhorizont Evangelischer Unterweisung herausstellt. Heiligung ist reformatorischer Einsicht folgend ein allein durch Gottes Geist gewirktes Geschehen, dem im Unterricht Raum gegeben werden muss. Im gemeinsamen Hören auf Gottes Wort erkennen →
Schülerinnen und Schüler
Helmuth Kittels Programm einer Evangelischen Unterweisung wurde von anderen Religionspädagogen und Religionspädagoginnen der Nachkriegszeit aufgegriffen und variiert. Kurt Frör orientierte das Konzept der Evangelischen Unterweisung in seinem Werk „Erziehung und Kerygma“ (Frör, 1952) an der lutherischen Lehre von den zwei Regimenten Gottes und konnte so die Erziehung als rein weltliches Geschehen von der kerygmatischen Dimension, die sich in christlicher Belehrung, Erziehung und Seelsorge vollzog, begrifflich differenzieren. Somit war, über Helmuth Kittel hinausgehend, die Basis für ein Gespräch auf Augenhöhe zwischen → Allgemeiner Pädagogik
Oft vergessen in der Geschichtsschreibung, im Übrigen auch von Helmuth Kittel nicht erwähnt, wird eine Frau, die nach dem Zweiten Weltkrieg wesentliche Impulse zur Ausgestaltung des Konzepts der Evangelischen Unterweisung gab: Ilse Peters. Sie war seit 1929 die erste Professorin für Religionspädagogik in Deutschland, wurde aber aufgrund der NS-Rassengesetze 1933 aus dem Amt entlassen. Sie arbeitete während der NS-Diktatur in der Schulkammer der Bekennenden Kirche an dem didaktischen Konzept eines „kircheneigenen Religionsunterrichts“, der die Jugendlichen gegen die hereinbrechende NS-Ideologie rüsten sollte (Reents, 1997, 53-79). Auf der Grundlage dieser Arbeit entwickelte sie mit anderen seit 1946 einen → Lehrplan
4. Evangelische Unterweisung und ihr Ertrag für die Religionspädagogik
Die Evangelische Unterweisung ist kein einheitliches Konzept, auch wenn die Programmschrift Helmuth Kittels dies nahezulegen scheint. Zum einen ist sie über einen längeren Zeitraum entstanden, wurde immer wieder überarbeitet und weiterentwickelt, gerade auch angesichts gesellschaftlicher und politischer Veränderungen. Zum anderen sind die Vertreterinnen und Vertreter der Evangelischen Unterweisung pädagogisch wie theologisch durchaus unterschiedlich geprägt. Während sich für
Ilse Peters, Oskar Hammelsbeck und Gerhard Bohne noch am ehesten der Einfluss Barth‘scher Theologie nachweisen lässt, ist die geistige Heimat Helmuth Kittels und Kurt Frörs eher die lutherische Tradition (Rickers, 1995, 83-90). Entgegen der pauschalen Kritik am Empiriedefizit (→
Positiv erinnert die Evangelische Unterweisung in all ihren Nuancen die Religionspädagogik daran, dass die
Beziehung zum gelebten Glauben für den schulischen Religionsunterricht konstitutiv ist und dass gerade in diesem Bezug das ideologiekritische Potenzial (→ Methoden der Ideologiekritik
Hingegen hat die in der Evangelischen Unterweisung angelegte Isolierung des Religionsunterrichts in der Schule, der zunehmend auch den Anschluss an die methodisch-didaktische Entwicklung der Schulpädagogik verlor, wesentlich zum Bedeutungsverlust des Faches beigetragen, was in den 1960er Jahren neue Konzepte erforderlich machte, die den Fokus mehr auf Schülerorientierung und eine schulpädagogische Begründung des Religionsunterrichts legten.
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