Kerygmatischer Religionsunterricht
(erstellt: Februar 2016)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Kerygmatischer_Religionsunterricht.100121
1. Begriffsbestimmung
Kerygmatischer Religionsunterricht ist der Fachbegriff eines Reformansatzes für den → katholischen Religionsunterricht
2. Bildungsgeschichtliche und theologische Wurzeln des Kerygmatischen Religionsunterrichts
Schon in den Jahren der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geht ein untergründiges Beben durch die politischen und kulturellen, künstlerischen und bildungsorientierten Fundamente in Mitteleuropa. Friedrich Nietzsches Werben für eine „Philosophie des Lebens“ im Verzicht auf die klassischen Bildungsziele und Thomas Manns Dekadenzgeschichte des bürgerlichen Weltbildes in „Buddenbrooks“ (1901) machen dieses Beben hörbar und greifbar. Auch Rainer Maria Rilke erkennt mit vielen anderen Geistern im Ersten Weltkrieg einen Epochenbruch, der die christlich-abendländischen Einheiten von Humanität und Kultur, von Kunst und Religion auflöst. Franz Kafka leidet an der unerreichbaren Gottesferne im Leben und in der Kunst. Wassily Kandinsky und Arnold Schönberg suchen in der Abstraktion der Malerei und in der Zwölftontechnik der Musik nach neuen Formen der bildnerischen und musikalischen Darstellung. Prägend für alle Bereiche des Lebens ist in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts der Jugendstil, der sich ausdrücklich als gesamteuropäische Kunstrichtung versteht und eine neue Natur- und Lebensnähe im Alltag der Kunst anstrebt.
Um die Jahrhundertwende streben auch viele soziale Reformbewegungen neue Ziele in der Politik und im Bildungswesen, in der Jugendkultur und in den christlichen Kirchen an. Vor allem in den verschiedenen Schulformen und in der Unterrichtspraxis breiten sich neue Reformideen aus; sie werden gerne unter den Sammelnamen „
Reformpädagogik“ oder „Pädagogische Reformbewegung“ zusammengefasst. Auch der schulische Religionsunterricht wird für die evangelische und katholische Kirche ein ausdrückliches Aktionsfeld der Reformen, sowohl in der thematischen Ausrichtung als auch in der didaktisch-methodischen Gestaltung. Bald sind zwei Tendenzen bei evangelischen und katholischen Religionslehrerinnen und Religionslehrern zu erkennen: die einen streben eher eine didaktisch-methodische Reform des schulischen Religionsunterrichts an und die anderen setzen eher auf eine „material-kerygmatische“ Erneuerung – breitenwirksam unterstützt von Friedrich Wilhelm Foerster. Denn in beiden konfessionell orientierten Religionsunterrichtsformen herrscht um die Jahrhundertwende ein Unterricht nach dem Formalstufen-Prinzip der Herbartianer, so werden die Schüler von Johann Friedrich Herbart genannt. Sie erkennen in der Moralität das höchste Ziel der Erziehung und entwickeln darum einen „erziehenden Unterricht“, der in vier Stufen organisiert ist (Zeigen des thematischen Schwerpunktes, Verknüpfen mit schon Bekanntem, Lehren und Vertiefen und endlich das „Philosophieren“ über das Thema), und der die Freiheit und den Gemeinschaftssinn stärken soll. Während Herbart selber insgesamt einen darstellenden, analytischen und synthetischen Unterricht anstrebt, pressen ihn seine Schüler (besonders Tuiskon Ziller und Friedrich Wilhelm Dörpfeld u.a.) in ein starres Methodenkonzept. Im katholischen Katechismusunterricht (→ Katechismus/Katechismusunterricht
Ein weiterer Reformimpuls kommt aus der von
Johann Heinrich Pestalozzi inspirierten „Arbeitsschulbewegung“ mit ihrem Vordenker Georg Kerschensteiner. Sein Ziel ist es, die herkömmliche „Lernschule“ in eine „Arbeitsschule“ umzuformen: ausgerichtet auf die geistige Selbsttätigkeit der Schülerinnen und Schüler und ihre gegenseitige Wertschätzung. Franz Xaver Eggersdorfer greift Kerschensteiner auf und favorisiert eine „Religionspädagogik der Tat“, angereichert durch Elemente des Erlebnis- und Arbeitsunterrichts. Trotz scharfer Kritik („Materialismus“-Vorwurf) wird die „Münchener Methode“, auch gerne „formalkatechetische Erneuerung“ genannt (mit ihren fünf Formalstufen: Vorbereitung, Darbietung, Erklärung, Zusammenschau, Anwendung), von der Mehrheit der Katechetinnen und Katecheten sowohl für den Katechismus- als auch für den Bibelunterricht gerne aufgenommen. Kräftig treibt Joseph Göttler diese reformkatechetische Orientierung an. Zugleich erweitert Göttler den herkömmlichen Katechetik-Begriff hin zur Religionspädagogik, die allerdings bald eine größere Nähe zur philosophischen Pädagogik als zur Theologie hat. Damit scheitern alle weiteren Versuche, → Theologie
Ein vergleichender Blick in das sich wandelnde Theorie-Praxis-Konzept der evangelischen Religionspädagogik seit der Jahrhundertwende fördert interessante Parallelen und Unterschiede zutage. Gegen den allgemein herrschenden Einfluss der liberalen Theologie mit ihrem ethischen Übergewicht (Albrecht Ritschl) stellt sich Richard Kabisch; er greift den Religionsbegriff Friedrich Schleiermachers wieder auf, um so die angefochtene Lehrbarkeit der Religion sicherzustellen: durch ein gutes Gleichgewicht von Erlebnis und Erkenntnis – begründet durch Erzählen mit ausdrücklicher Nähe zu den Lebensgeschichten der Schülerinnen und Schüler. Überdies wandern bald offen und versteckt Ideen der Reformpädagogik in den evangelischen Religionsunterricht ein – kräftig gefördert durch Otto Eberhard.
Der Erste Weltkrieg und seine Folgen erschüttern die evangelischen Kirchen besonders tiefgreifend, denn die herkömmliche Einheit von „Thron und Altar“ löst sich in der Weimarer Republik auf. Darum wird ein neuer Geist auch für die → Religionspädagogik
3. Kerygmatische Erneuerung – Kerygmatischer Religionsunterricht
Viele unterschiedliche kulturelle und kirchliche Einflüsse bewirken die sogenannte
Kerygmatische Erneuerung. Die großen Reformbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts leben unter dem Eindruck des allgemeinen Kulturbruchs in den Jahren der NS-Diktatur und den Katastrophen des Zweiten Weltkriegs rasch neu auf und mühen sich um eine geistig-geistliche Erneuerung (Bibel- und Ökumene-Bewegung, Jugend- und Liturgiebewegung, Katholische Aktion). Diese Bewegungen in den nachfolgenden Jahrzehnten herablassend als restaurativ zu etikettieren, zeugt von spärlicher Geschichtskenntnis. Auch die katholische Religionspädagogik/Katechetik sucht nach Erneuerungsimpulsen, denn der herkömmliche Katechismusunterricht droht im Traktieren des Einheitskatechismus nach den fünf Formalstufen zu erstarren. Darum machen sich die beiden Oratorianer Klemens Tilmann und Franz Schreibmayr 1935 im Auftrag der Fuldaer Bischofskonferenz an eine Katechismus-Neufassung. Nach zwanzigjähriger Vorbereitungszeit erscheint 1955 der „Katechismus der Bistümer Deutschlands“, der sogenannte „Grüne Katechismus“ als → Religionsbuch
- präsentische Theologie: der Gott Israels, der Gott → Jesu Christi
ist immer ein Gott der Geschichte durch seinen schöpferischen Geist – gestern wie heute und morgen, und zwar als Gott der Menschen in ihrer je eigenen Heilsgeschichte; sie antworten ihm in ihrer Gottesverherrlichung; - christologische Konzentration: Jesus Christus, sein Leben und Wirken und sein Kerygma vom herankommenden Reich Gottes bilden das Zentrum der Glaubensverkündigung unter den Bedingungen der Schule; diese Reich-Gottes-Konzentration ist von thematischer und didaktischer Bedeutung, weil sie die vielen Einzelstücke des Glaubens um die Christus-Mitte im alltäglichen Leben bündelt;
- anthropologische Orientierung: die → Schülerinnen und Schüler
bilden die personale Mitte des Unterrichts, näherhin die Persönlichkeitsentwicklung der Jugend aus den Chancen des Glaubens; - soteriologische Ausrichtung: das umfassende Heil als Lebenssinn, als Lebensglück, als Lebensbegleitung in die Vollendung ist das Ziel dieses Unterrichts; diese anthropologische Wende konkretisiert sich hier in einer soteriologischen Ausrichtung – sowohl des Religions- als auch des Bibelunterrichts.
4. Nachwirkungen der kerygmatischen Erneuerung
Die allgemeine Resonanz auf den Grünen Katechismus und die ihn begleitende materialkerygmatische Literatur ist durchweg sehr positiv bei der Lehrerschaft und weit darüber hinaus. So folgt auch der von der Deutschen Bischofskonferenz veranlasste „
Rahmenplan für die Glaubensunterweisung“ (1967) für alle Diözesen den Vorstellungen der Materialkerygmatik. Ähnliches ist auch von dem „Arbeitsbuch für Glaubensunterweisung ‚glauben – leben – handeln‘“ (1969) zu sagen, das sich zwar in der Form von allen Katechismen der Vorzeit löst, inhaltlich aber die materialkerygmatische Linie weiterverfolgt (teilweise inspiriert von den Entwürfen zum sogenannten „Holländischen Katechismus“, 1969). Aber zunehmend fragen kritische Stimmen nach dem Sinn einer solchen glaubens- und kirchentheologisch geprägten → Katechese
Literaturverzeichnis
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- Grethlein, Christian, Religionspädagogik, Berlin 1998.
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- Jungmann, Josef A. SJ, Die Frohbotschaft und unsere Glaubensverkündigung, Regensburg 1936.
- Kropač, Ulrich, Religionspädagogik und Offenbarung. Anfänge einer wissenschaftlichen Religionspädagogik im Spannungsfeld von pädagogischer Innovation und offenbarungstheologischer Position, Münster 2006.
- Schilling, Hans, Grundlagen der Religionspädagogik. Zum Verhältnis von Theologie und Erziehungswissenschaft, Düsseldorf 1970.
- Simon, Werner, Im Horizont der Geschichte. Religionspädagogische Studien zur Geschichte der religiösen Bildung und Erziehung, Münster 2001.
- Weyer-Menkhoff, Stephan, Wozu wird christliche Religion unterrichtet? Ein Diskurs zur Notwendigkeit ästhetischer Vermittlung, Münster 1999.
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