Deutsche Bibelgesellschaft

Abraham und Sara, bibeldidaktisch, Sekundarstufe

(erstellt: Januar 2015)

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1. Lebensweltlicher Zugang: Erzählen, wer man ist

Die Erzählungen der Genesis über die Erzeltern wollen gelesen werden als Erzählungen, in denen ein Volk seine eigene Identität über Erzählungen herleitet. Am deutlichsten wird dies in der Person des dritten Erzvaters Jakob (→ Jakob, bibeldidaktisch, Sekundarstufe), der nach dem Kampf mit dem Unbekannten am Jabbok in Israel (Gen 32,29) umbenannt wird. Doch auch mit dem ersten Erzelternpaar Abraham und Sara wird von der eigenen Herkunft, den Beziehungen zu anderen und zu Gott erzählt. Die Reflexion darüber, wie wir mit Erzählungen (→ Erzählen) individuelle und kollektive Identitäten konstruieren, eröffnet einen Raum, in dem sich Lebenserzählungen von Schülerinnen und Schülern heute und Erzählungen der Glaubenstradition begegnen können.

1.1. Die Bedeutung von Erzählungen für die Identitätsbildung

Wir erzählen, wer wir sind. In den Erzählungen entwerfen wir unsere eigene Identität, die sich aus Erfahrungen konstituiert. Auch wenn Identitätsbildung als lebenslanger Prozess zu verstehen ist, so hat die Identitätsbildung doch ihren klassischen Ort nach wie vor im Jugend- und jungen Erwachsenenalter (Cebulj, 2012, 64). Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe sehen sich also in besonderem Maße herausgefordert, erzählend zu erproben, wer sie sind. Das tun sie in exponierter Weise auf ihrer Facebookseite (Fuchs-Auer, 2013). Identität stellt dabei keine feste Entität dar, sondern ist prozessural. Sie ist gekennzeichnet von Brüchen und Diskontinuitäten, besteht im Fragment und ist grundsätzlich entwicklungsoffen. Die Herausbildung einer eigenen Identität ist Aufgabe des Subjekts, das allerdings auf Deutemuster, Symbole und andere Erzählungen, auf die es trifft, zurückgreifen kann. „Im Religionsunterricht gewinnen vor diesem Hintergrund Erinnern und Erzählen als identitätsbildende Kategorien konstitutive Bedeutung“ (Cebulj, 2012, 62).

1.2. Die Bildung religiöser Identität durch biblische Texte

Biblische Erzählungen dienen der Konstruktion von Identität, sowohl denen, die sie erzählten, in ihren pluralen ursprünglichen Erzählkontexten, als auch denen, die sie weitererzählen im Laufe der Jahrhunderte. Ihre Symbole und ihr Figureninventar haben das Potenzial, existenzbedeutsam und konstitutiv für die Entfaltung einer eigenen (religiösen) Identität zu werden. Indem sie die Schülerinnen und Schüler mit der je eigenen Wirklichkeit des Textes als „metaphorischem Möglichkeitsraum“ (Kumlehn, 2013, 54) konfrontieren, fordern sie zur probeweisen Perspektivübernahme von Wirklichkeitsdeutung heraus und provozieren in Bezug auf Handlungsoptionen der Figuren zur Positionierung. Die biblischen Figuren bieten in der Regel keine glatten Identifikationsfiguren, sondern erscheinen als durchaus ambivalente Charaktere, so auch das erste Erzelternpaar Abraham und Sara. Unter den Lebensbedingungen der Postmoderne, die gekennzeichnet ist von Individualisierung und → Pluralisierung, darunter eine Angebotsvielfalt, die Auswahl ermöglicht, aber auch erzwingt, erfahren die Jugendlichen in ihrem eigenen Leben Widersprüchlichkeiten, Entfremdungen und Unabgeschlossenheit. Diese können sie in den biblischen Charakteren spiegeln. Die Begegnung mit den biblischen Erzählungen verändert so die Narration der eigenen Identität. Als Narrationen einer bestimmten religiösen Tradition, die die Erzählungen im Laufe der Rezeptionsgeschichte auf ihre je eigene Weise gedeutet hat, ermöglicht die biblische Überlieferung, sich selbst in ein Verhältnis zu der religiösen Tradition zu setzen. Anders als andere Erzählungen, mit denen sich Jugendliche auseinandersetzen, um sich zu konstruieren, und aus denen Jugendliche ihre Identitätserzählungen speisen, erzählen die biblischen Narrationen im Modus einer gläubigen Wirklichkeitsdeutung. Schülerinnen und Schüler erhalten so die Möglichkeit, die Erzählungen ihrer eigenen Identität um die religiöse Frage zu erweitern.

1.3. Das Verhältnis von Narration und Realität

Wer sich selbst erzählt, macht zwangsläufig immer auch die Erfahrung, dass er oder sie im Erzählen Wirklichkeit nicht in ihrer Faktizität abbildet, sondern dass in der Erzählung selbst Wirklichkeit und Wahrheit liegen. Wir erzählen, was wir erinnern und wie wir uns erinnern (Lindner/Kabus, 2013). Wir erzählen immer nur stückhaft. Und wir erzählen auch davon, wie wir gerne wären, weil wir realen Erfahrungen ausweichen wollen. So nutzen viele Jugendliche ihre Facebookseite, um sich eine Identität zu schaffen, die von einer empirischen Realität abweicht, gleichzeitig aber auf reale „Profilzwänge“ reagiert. Erzählungen distanzieren vom Leben, sie sind aber rückgebunden an tatsächliche Erfahrungen, indem sie diese (um-)deuten oder auch verschweigen. In der Reflexion über diesen Deutungsprozess im Erzählen, der zugleich Wahrheit bedeutet und Zeichen der Zeit zur Sprache bringt, eröffnet sich auch ein hermeneutischer Zugriff auf die biblischen Texte, der diesen als Erzählungen angemessen ist. Dem möglichen Unverständnis der Schülerinnen und Schüler, die Korrektheit, Plausibilität und Relevanz der biblischen Überlieferungen in Frage stellen könnten (Zimmermann/Zimmermann, 2005, 73-75), kann begegnet werden, indem auf die biblischen Texte als Erzählungen zugegriffen wird. Wie die Narrationen zur Konstruktion der eigenen Identität wollen die biblischen Erzählungen nicht historische Tatsachen beschreiben, sondern haben die pragmatische (Lebens-)Wahrheit im Blick (Zimmermann/Zimmermann, 2005, 83). Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe bringen die kognitiven Fähigkeiten mit, den Verstehensprozess selbst zu reflektieren. Das Verstehen der Erzählung dient der Konstruktion der eigenen Identität als Bereicherung und Infragestellung und ermöglicht, Wege eigener Identitätskonstruktionen kritisch zu beleuchten.

1.4. Konstruktion kollektiver Identitäten durch Narrationen

Erzählungen haben nicht nur Bedeutung für das Individuum, sondern konstituieren auch kollektive Identitäten. Die Erzählung in all ihren unterschiedlichen Erscheinungsweisen kann als grundlegender Modus „der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit“ (Keupp, 1999, 161) verstanden werden. Wer dasselbe Buch gelesen, denselben Film gesehen hat oder dieselbe Musik hört, gehört zu einer Community. Das gilt auch für die Erzähltraditionen von Völkern und Religionen. Im Erzvater Abraham und in der Erzmutter Sara exemplifiziert sich in besonderer Weise die Konstruktion von Volks- und Religionsidentitäten. Als Erzeltern repräsentieren sie in ihrem ursprünglichen Erzählkontext das Volk Israel in Abgrenzung von den Nachbarvölkern. Abraham gilt als Stammvater der drei „abrahamitischen Religionen“. Auf die Stammmutter Sara berufen sich vor allem christliche Theologinnen der ersten Welt, während afroamerikanische Frauen und Frauen in der islamischen Tradition sich mit Hagar identifizieren. Allerdings ist hier zu beachten, dass die muslimische Tradition sich dagegen wehrt, Menschen zu „verehren“, indem sie als „Vorbilder“ gesehen werden (Coskun, 2007, 299). Konstruktion von narrativer Identität erfolgt kulturspezifisch. Als soziale Konstruktion von Wirklichkeit haben Erzählungen immer eine politische Komponente. Schon für den Entstehungskontext der biblischen Erzählungen lässt sich fragen, wer welche Erzählung wann mit welchem Ziel erzählt hat (Kumlehn, 2013, 56). Auch das Weiter-Erzählen verfolgt bestimmte Absichten. Nicht zuletzt wird der Nahost-Konflikt bestimmt von Traditionen und Mythen, die sich in der Rezeption der biblischen Erzählungen um Sara und Abraham ergeben (Vieweger, 2011, 61-107).

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1.5. Der kritisch-konstruktive Dialog von Lebenswelt und biblischem Text als Anleitung zu Mündigkeit

Am Beispiel der Erzählungen um die Erzeltern Abraham und Sara kann Erzählen allgemein als Grundform individueller und kollektiver Identitätsbildung und spezifisch als Grundform jüdisch-christlicher Traditionsbildung in den Blick genommen werden. Dabei ist in Analogie und Differenz zu klären, wie sich identitätsbezogenes lebensweltliches und biblisches Erzählen in ein kritisch-konstruktives Verhältnis setzen lassen (Kumlehn, 2013, 55). Schülerinnen und Schüler erhalten so nicht nur Angebote, ihre eigene (religiöse) Identität (→ Identität, religiöse) zu konstruieren, sondern auch auf der Metaebene über Konstruktion von individueller und kollektiver Identität zu reflektieren und individuelle und kollektive Erzählungen in ihrer Interessengeleitetheit zu entlarven. Insofern kommt diese Art des Zugriffs auf die Texte einer Anleitung zu Mündigkeit und Emanzipation gleich.

2. Bibeltheologische Klärungen: Erzählungen, die Identität konstruieren

Werden Erzählungen begriffen als Verfahren, mit dem Identitäten konstruiert werden, können auch die biblischen Texte daraufhin befragt werden, inwiefern sie diachron und synchron identitätsbildend sind. Bibeltheologisch zu klären ist, welchen Beitrag die Erzählungen in ihren Entstehungskontexten für Israel leisteten, wie in ihnen Identität über eine Gottesbeziehung bestimmt wird und wie sie die Identität derer bestimmen, für die die Erzählungen Teil von heiligen Texten sind.

2.1. Die Erzählungen von Abraham und Sara in Gen 11,27-25,11

Im Kontext der Genesis erscheinen Abram und Sarai als erstes Erzelternpaar in der Toledot Terachs. Mit Abram und Sarai beginnt nach der Urgeschichte (Gen 1-11) die Volksgeschichte Israels (ab Gen 12), die als Familiengeschichte erzählt wird. Abram und Sarai wandern beide aus ihrer Heimat Ur in Chaldäa aus, zunächst nach Haran. Mit den göttlichen Verheißungen an Abram, JHWH werde aus ihm ein großes Volk machen, er werde ein Segen für alle Geschlechter der Erde sein und seinen Nachkommen werde er das Land geben, wird damit ein Spannungs- und Erzählbogen eröffnet, der im Grunde erst mit der Volkswerdung in Ägypten (Ex 1,7) und der Landnahme unter Josua (Jos 13,7) geschlossen wird. Dem stehen zunächst die Unfruchtbarkeit Sarais (Gen 11,30) und die Tatsache, dass das Land ja bereits durch die Kanaaniter besiedelt ist (Gen 12,6) und sich Abram und seine Familie dort als Fremde aufhalten, entgegen.

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Die Verheißung der Nachkommenschaft wird von Abram durch die zweimalige Preisgabe seiner Frau an einen fremden Herrscher gefährdet. Wegen einer Hungersnot zieht die Sippe nach Ägypten, wo Abram seine „sehr schöne“ Frau als seine Schwester ausgibt, um die eigene Haut zu retten (Gen 12,10-20). Die Perspektive Sarais kommt nicht in den Blick. Sie bleibt stumm, während über sie verfügt wird. Später wiederholt sich das Szenario in Gerar (Gen 20,1-18): Dieses Mal ist es der König Abimelech von Gerar, dem Abram seine Frau überlässt. Doch im Traum erscheint dem fremden Herrscher Gott und warnt ihn.

Abram tritt als Altarbauer und somit Kultgründer (Gen 12,7) auf, als wirtschaftlich denkender Viehhirte, der Konflikte friedlich löst, das Land mit seinem Neffen Lot teilt (Gen 13,1-13) und diesen schließlich aus der Allianz feindlicher Könige rettet, was ihm den priesterlichen Segen einbringt (Gen 14,1-24). Lot betritt die Bühne noch einmal im Kontext der Erzählung des Untergangs von Sodom und Gomorra (Gen 19,1-38), von dem er und seine zwei Töchter verschont bleiben.

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Sarai versucht auf ihre Weise, ihr Leid als Kinderlose zu umgehen. Sie übergibt ihre ägyptische Magd Hagar ihrem Mann. Er soll mit ihr einen Sohn zeugen, der dann als Sarais Kind gilt (Gen 16,1-16). Doch Sarais Plan geht nicht auf: Als ihre Magd schwanger wird, verkehrt sich deren Ohnmachts- in eine Machtposition Sarai gegenüber. Diese behandelt sie so hart, dass Hagar nur die Möglichkeit der Flucht bleibt. In der Wüste findet sie ein Engel, der auch ihr zahlreiche Nachkommenschaft verheißt. Im Namen ihres Kindes Ismael, „Gott hört“, wird deutlich, dass Gott auf ihr Leid reagiert hat.

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Zweimal wird vom Bundesschluss Gottes mit Abram erzählt. Die Sohnesverheißung und die Ankündigung der Landgabe an seine Nachkommen werden mit einem ersten archaisch anmutenden Bundesritual verbunden (Gen 15,1-21). Bei einem zweiten Bundesschluss (Gen 17,1-27) zeigt sich die göttliche Souveränität, aber auch Fürsorge in der Umbenennung Abrams in Abraham, volksetymologisch gedeutet als „Vater der Menge“, und Sarais in Sara, „Herrin“. Als Zeichen des einseitigen Gnadenbundes gilt ab sofort die Beschneidung. Im Kontext des erneuten Versprechens, dass Sara ein Kind gebären werde, wird mit der Bedeutung des Isaak-Namens gespielt: Abraham lacht. Dabei bleibt es aber nicht: Drei Männer besuchen das Erzelternpaar bei ihrem Zelt in Mamre (Gen 18,1-15). Dieses Mal hört Sara die Verheißung der Männer im Gespräch mit ihrem Mann vom Eingang des Zeltes aus und muss lachen. JHWH erweist sich als der Treue, der seiner Ankündigung entsprechend handelt: Endlich bringt Sara ihren Sohn Isaak zur Welt (Gen 21,1-8). Doch die Harmonie ist nur von kurzer Dauer. Sara fürchtet angesichts Abrahams erstgeborenem Sohn Ismael um das Recht ihres eigenen Sohnes und verleitet Abraham dazu, Hagar und Ismael zu verstoßen. Als Gott gegenüber Abraham Saras Anliegen unterstützt, allerdings nicht ohne die Nachkommensverheißung auch an Ismael zu wiederholen, kommt Abraham dem Wunsch seiner Frau nach. Wieder aber erfahren die Ausgestoßenen Unterstützung durch einen Boten Gottes (Gen 21,9-21).

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Abraham, dessen Glaube an die göttliche Verheißung ihm als Gerechtigkeit angerechnet worden ist (Gen 15,6) und der sich bei JHWH für die Rettung der Gerechten in Sodom und Gomorra eingesetzt hat (Gen 18,16-33), wird schließlich selber auf die Probe gestellt (Gen 22,1): Gott befiehlt ihm, seinen Sohn Isaak auf einem Berg im Land Morija als Opfer darzubringen. Abraham zeigt sich selbst angesichts des Unzumutbaren als der im Glauben Vertrauende. Doch wieder greift ein göttlicher Bote ein. Das Verhalten Abrahams wird als Gottesfurcht gedeutet und die Verheißung der Nachkommen, zahlreich wie die Sterne am Himmel, ein weiteres Mal erneuert (Gen 22,1-19).

Von Sara wird erst wieder berichtet, als sie im Alter von 127 Jahren gestorben ist. Abraham erwirbt das erste Land käuflich als rechtmäßigen Besitz von einem Landesbewohner, um sie dort in der Höhle von Machpela beizusetzen (Gen 23,1-20). Nachdem Abraham dafür gesorgt hat, dass Isaak eine Frau aus derselben Sippe und ja keine der Frauen Kanaans heiratet (Gen 24,1-67), stirbt auch er mit 175 Jahren und wird von seinen beiden Söhnen Isaak und Ismael bei seiner Frau Sara begraben (Gen 25,7-11).

2.2. Die Erzählungen in ihrer Entstehungsgeschichte

2.2.1. Ein Ursprungsmythos Israels in der Retrospektive

In den Erzählungen um Sara und Abraham versichert sich das Volk Israel seiner eigenen Identität. Wie für viele biblische Erzählungen liegt ein großer zeitlicher Abstand zwischen der Zeit, in der die Erzählungen spielen, nämlich dem ausgehenden dritten Jahrtausend vor Christus, und der Zeit, in der sie verfasst wurden. Historische Figuren Abraham und Sara finden wir nicht. Retrospektiv bestimmt Israel in den Erzählungen seine eigenen Wurzeln im Kontext der Völker des Vorderen Orients: Viele der Figuren der Erzelternerzählungen stehen paradigmatisch für Volksgruppen. Abraham und Sara fungieren als Ahnen Israels. Auch wenn die Erzählungen lange als Patriarchenerzählungen gelesen wurden: Der Handlungsverlauf macht deutlich, dass nicht Abraham allein der Ahnherr Israels ist. Nicht irgendeiner seiner Söhne kann der Stammvater Israels sein, sondern nur der Sohn mit Sara. Im Gewand einer nomadischen Familiengeschichte wird ein alternativer Ursprungsmythos neben der Exoduserzählung gegeben, mit der die Erzelternerzählungen jedoch auch verbunden sind: Abraham flieht wie Jakob vor einer Hungersnot nach Ägypten und kehrt, wie später das Volk Israel, das aus den Nachkommen Jakobs entstanden ist, wieder nach Kanaan zurück. Gott selbst stellt den Exodus in Aussicht (Gen 15,13-16). In der Unterdrückung der Ägypterin Hagar zeigt sich kreuzweise gespiegelt das Schicksal des Volkes Israel, das von Ägypten unterdrückt wurde und flieht.

2.2.2. Zur Entstehungsgeschichte

War die ältere Forschung noch sicher, dass hinter den einzelnen Erzählungen mündliche Sagen stehen, ist man heute zurückhaltender, mündliche Überlieferungsstufen konstatieren zu wollen. Mit den Ortsangaben der Erzählungen ergeben sich für die verschiedenen Erzelterntraditionen unterschiedliche geographische Haftpunkte, so dass anzunehmen ist, dass die Erzählungen um die einzelnen Erzelternpaare ursprünglich selbstständig waren. Die Jakobtraditionen verweisen eher in den Norden, die Abrahamtraditionen in den Süden. Umstritten ist, ob die Isaak-Überlieferungen einen eigenen Erzählzyklus darstellen oder als Bindeglied zwischen den Abraham- und Jakoberzählungen geschaffen wurden. In literarhistorischer Hinsicht gilt Abraham als der jüngste der drei Erzväter, so dass die Erzelternerzählungen rückwärts erweitert worden wären. Da sich Verweise auf Jakob auch beim Propheten Hosea finden, ist plausibel, für diese Erzählungen eine Entstehung vor dem Untergang des Nordreiches 722 vor Christus anzunehmen. Als identitätsstiftende Erzählungen der Nordreichflüchtlinge wurden sie im Süden weitererzählt und dort mit den Abraham-Lot-Überlieferungen, die parallel und unabhängig davon entstanden waren, über einen genealogischen Zusammenhalt in einen Erzählzyklus überführt, der durch die Verheißungsreden kompositionell miteinander verknüpft wurde (Blum, 1984, 259f.). Die formative Epoche dürfte das Babylonische Exil im sechsten Jahrhundert vor Christus gewesen sein. In der Zeit, die nach dem Verlust von Tempel, Land und Königtum massiv die Frage nach der eigenen Identität und der identitätsbildenden Merkmale stellt, werden diese narrativ konstruiert. Wenn unklar ist, wovon die Zugehörigkeit zu Israel abhängt, erhalten Landesverheißung, Ankündigung der Volkswerdung, Vorschriften zur Beschneidung als Bundeszeichen und Anweisungen zur endogamen Eheschließung Bedeutung.

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2.2.3. Die priesterschriftlichen Anteile

Die Erzählungen sind offen für aktualisierende Fort- und Ausgestaltung auch in nachexilischer Zeit. Umstritten ist, welche Textteile welcher Fortschreibungsstufe zuzuordnen sind. Relative Einigkeit herrscht in Bezug auf die Bestimmung der priesterschriftlichen Anteile. Sie werden gesehen in der genealogischen Hinführung (Toledot Terachs in Gen 11,27), den Angaben zum Alter der Figuren und Verwandtschaftsverhältnissen (Gen 22,20-24) einerseits und dem Bundesschluss mit Abraham in Gen 17 andererseits.

2.2.4. Gen 22 als Schlüsseltext

Vor dem Hintergrund der jüdischen Diaspora-Existenz erscheint Gen 22 als Schlüsseltext: Abraham hört auf die Stimme Gottes (Gen 22,18; Dtn 26,17) und beachtet die Anordnungen, Gebote, Satzungen und Weisungen (Gen 25,5), das heißt er richtet sein Leben nach der Tora aus, noch bevor diese dem Volk Israel am Sinai gegeben wird (Hieke, 2005). Jüdische Identität wird so narrativ bestimmt – in Unabhängigkeit von Tempel und Land. Sie besteht primär im Hören auf die Tora, auch wenn die Verheißungen weiter gültig sind.

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2.3. Die Themen der Erzählungen

2.3.1. Eine Geschichte des Volkes mit seinem Gott

Die Abraham-Sara-Erzählungen können auf unterschiedlichen Ebenen gelesen werden (Mühling, 2009a). Sie sind kein Geschichtsbuch, das vorgibt, Historie zu rekonstruieren, sondern bewusst gestaltete Ursprungserzählungen eines Volkes. Die Erzeltern repräsentieren das Volk Israel. Deutlich wird, wie eine kollektive Identität über Narrationen konstruiert wird. Dies geschieht in Abgrenzung von anderen Völkern, aber auch inkludierend in der Konstruktion verwandtschaftlicher Beziehungen der Völker zueinander.

Die Ursprungserzählungen des Volkes Israel verstehen seinen Anfang von Gott her. Die eigene Identität wird von der Gottesbeziehung her bestimmt. Der Blick zurück in die eigene Geschichte, die als von Gott initiiert und begleitet gedeutet wird, ermöglicht so, die je aktuelle Gegenwart als Geschichte mit Gott zu begreifen.

2.3.2. Eine paradigmatische Erzählung von Einzelnen in ihrer Widersprüchlichkeit und eine Anfrage an Gott

Auch wenn die Figuren der Erzählungen Völker repräsentieren, agieren sie als Individuen. Als solche bieten sie auch und gerade wegen ihrer ambivalenten Charaktere Anknüpfungspunkte an eigene Erfahrungen und fordern zu einer Stellungnahme heraus. So schreckt die lapidar erzählte Preisgabe der Ahnfrau durch Abram ab. Gleichzeitig spiegelt sie auch eigene Verhaltensmuster. Wir sympathisieren mit der zurückgesetzten Ehefrau Sarai, die oft noch nicht einmal eine Stimme erhält. Doch die Art, wie sie ihren Ehemann manipuliert und über Hagar verfügt, können wir nicht gutheißen. Von dieser ambivalenten Einschätzung nicht ausgenommen ist die Figur JHWHs. Auch wenn zu Beginn von Gen 22 markiert wird, dass es sich um eine Erprobung Abrahams handelt, stellt sich die Frage, warum der Beweis der Gottergebenheit ausgerechnet die Bereitschaft zum Opfer des lang ersehnten Sohnes ist. JHWH schlägt Pharao wegen Sarai mit Plagen, dieser weiß jedoch nichts davon, dass Sarai die Frau Abrams ist. Doch sind wir nicht allein mit unserer Empörung JHWH gegenüber: Im Text erhält sie eine Stimme mit der Figur Abimelech, der JHWH mit seiner Arglosigkeit konfrontiert. Mit den Erzählungen wird es also möglich, diese auch als Anfragen an Gott zu verstehen.

3. Didaktische Überlegungen

Die Erzählungen um Abraham und Sara als „Kindergeschichten“ und die Figuren als unhinterfragbare und unantastbare Vorbilder zu begreifen, wird diesen ebenso wenig gerecht, wie einzelne Textpassagen isoliert und aus dem Kontext gerissen zu lesen. Unter der Oberfläche des zeitlosen Familienkontextes stehen die Erzählungen in einem konkreten zeitgeschichtlichen Zusammenhang. Sie verhandeln in einem narrativen Kontext hochtheologische Themen mit weitreichenden religiösen und politischen Implikationen auch für die Gegenwart.

3.1. Ganzschriftlektüre, nicht Illustration

Für die Sekundarstufe bietet es sich an, die Texte als Texte ernst zu nehmen und als Ganzschriftlektüre zu behandeln. In vielen Unterrichtsmaterialien bleibt die Arbeit mit den biblischen Texten marginal. Sie werden gebraucht als Illustration bereits vorher feststehender, in der Regel verharmloster und durchweg positiver Deutungen („Abraham als Vorbild im Glauben“). Geredet wird über die biblischen Texte, statt mit ihnen in den Dialog zu treten.

Die Arbeit mit Bibellesetagebüchern oder Bibelportfolios zeigt, dass Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe trotz und auch wegen der Fremdheit biblischer Texte einen kritischen Zugang zu diesen finden. Im Lesetagebuch setzen die Schülerinnen und Schüler durch ihre Beobachtungen und Anfragen die Welt des biblischen Textes, die identitätsstiftende Narration Israels, und ihre eigene Welt und ihre eigenen Narrationen in Beziehung, ohne dass das eine vorschnell in das andere aufgelöst würde (Obst, 2007; Richter, 2007; Miethke, 2013). Auf diese Weise wird man sowohl der Welt des Textes als auch der Welt des Lesers gerecht. Dabei erwerben die Schülerinnen und Schüler auch die Kompetenz, ausgehend von ihren eigenen Vorerfahrungen und Fragen ihre Lesart am Text kritisch zu überprüfen und zu einem für sie angemessenen Verständnis des Textes zu gelangen (Dern, 2013, 469). Über die Lektüre des gesamten Erzählzusammenhangs wird deutlich, wie Erzählungen aufeinander reagieren und miteinander in den Dialog treten.

3.2. Methodenkompetenz und hermeneutische Reflexion

Der Religionsunterricht ist der Ort, an dem die eigene Lektüreerfahrung der Jugendlichen weitergeführt und methodisches Arbeiten in synchronen und diachronen, existenziellen und kulturgeschichtlichen Zugängen eingeübt wird. Gezielt können Schülerinnen und Schüler mit Erschließungsfragen oder anderen Analyseschritten des Deutschunterrichts angeleitet werden, Brüche und Leerstellen, Kompositionsbögen und Ziele der Texte wahrzunehmen. Es bieten sich Methoden an, die Lektüre verlangsamen und intensivieren, z.B. Schreibgespräche, Visualisieren, das Verfassen innerer Monologe, Standbilder und Rollenspiele oder Verfremden in andere „narrative“ Formen wie ein Fotoroman oder Film (Maisch-Zimmermann, 2013, 635). Als exegetisch nicht geschulte Leser werden die Schüler und Schülerinnen die Erzählungen um Abraham und Sara vermutlich auf Ebene der Familienerzählung lesen und zu beobachtende Doppelüberlieferungen wie die zweifache Preisgabeerzählung oder den zweifachen Bundesschluss für unerklärlich halten. Indem sie Verfügungswissen zu entstehungs- und überlieferungsgeschichtlichen Hintergründen der Erzählungen erhalten, kann ein Verständnis der Erzählungen auch als Volksgeschichte, die Identität konstruiert, geweckt werden und ein hermeneutisch angemessener Zugriff auf die Texte und ihr Wahrheitswert reflektiert werden. Gleichzeitig bietet es sich an, eigene Identitätskonstruktionen zu überdenken. Zur selbstständigen Erarbeitung von exegetischem und bibeltheologischem Fachwissen im Rahmen von wissenschaftspropädeutischen Seminaren oder Leistungskursen kann exemplarisch in gängige Lexika, Zeitschriften und Kommentare eingeführt werden (Fabritz, 2013).

3.3. Theologische Schwerpunktthemen

Ausgehend von den Fragen der Schüler und Schülerinnen an die Texte können theologische Schwerpunktthemen erarbeitet werden. Die Texte sind kein „dogmatischer“ Monolith, sondern vielfältig in ihren Sinnkonstruktionen. Wenn die Ambivalenz der Charaktere nicht verharmlost wird, kann genau diese zum Ausgangspunkt werden, die existenziellen Fragen nach menschlicher Schuld und Verantwortung, nach Umgang mit Konflikten, nach Hoffnungen und dem, was trägt, zu stellen. Dies mag anhand der Erzählungen besser gelingen als über systematisierte, oft als lebensfern erlebte Konstrukte. Zur Sprache kommen Macht- und Ohnmachtskonstellationen in Bezug auf die Geschlechter, sozialen Hierarchien und im Verhältnis Gott und Mensch. Menschliches Leben wird gedeutet im Kontext göttlicher Verheißungen und der Bundeszusage und zeigt sich unter dem Anspruch Gottes. Dazu kann exemplarisch an einzelnen Texten wie z.B. Gen 22 gearbeitet werden (Reuß, 2011).

Indem die Rezeptionsgeschichte der Abraham-Sara-Erzählungen beleuchtet wird, zeigt sich, wie kulturtragend die Narrationen sind und wie sie Identitätskonstruktionen über die Jahrhunderte dienten und dies bis heute tun. Deutlich werden kann auch, wie die christliche Rezeption von Gen 12-36 als Patriarchenerzählungen die Frauencharaktere trotz ihrer Bedeutung in den Texten aus diesen verdrängte.

Mit den Figuren von Abraham und Sara sind zweifelsfrei Anknüpfungspunkte zum → interreligiösen Lernen gegeben. Judentum, Christentum und Islam berufen sich auf Abraham als Vater des Glaubens (→ Abraham, interreligiös). Gegenwärtig werden die Erzählungen rezipiert als gemeinsame Wurzeln der drei „abrahamitischen Religionen“. Dennoch darf diese Rückbesinnung auf gemeinsame Traditionen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Abraham- und Sararezeption im Neuen Testament und in der christlichen Tradition sowie im Koran und in der muslimischen Auslegungsgeschichte auch eine je eigene ist und sich von der jüdischen Tradition unterscheidet. Abraham ist zwar der Vater des Glaubens, „aber eben des speziellen eigenen Glaubens“ (Köhlmoos, 2011, 50).

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Die verschiedenen vorgestellten Zugänge schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig und sind in Abhängigkeit von der Lerngruppe zu wählen. In außerschulischen Lernorten wie → Gemeinde und Jugendgruppen können die Abraham-Sara-Erzählungen ebenso wie in der Schule Grundlage eines Bibelprojekttages sein (Jansen/Keden-Obrikat/Peters, 2010). Auch wenn in diesen außerschulischen Kontexten eher eine affirmative Haltung gegenüber der christlichen Tradition vorausgesetzt werden kann, bleiben die Zugänge ähnlich.

4. Schluss

Wählt man einen Zugang zu den biblischen Erzählungen um Abraham und Sara als Konstruktionen von Identität(en), wird man dem Selbstverständnis der Texte gerecht. Es wird möglich, ihre Relevanz jenseits einer naiv-historisierenden Lektüre auch für die Gegenwart aufzuzeigen. Die Schülerinnen und Schüler werden herausgefordert, eine den Texten angemessene → Hermeneutik zu entwickeln. Die biblischen Erzählungen sind weder rein fiktional noch geben sie historische Realität wieder. In und mit ihnen bearbeiten aber reale Menschen ihre Lebenserfahrungen und mit ihnen entwerfen sie sich selbst. Auf diese Weise wird es möglich, die biblische Tradition als Gesprächspartner und mit ihr die Gottesfrage als bedeutsam für die eigene Konstruktion von Identität zu begreifen.

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  • Mühling, Anke, Art. Sarai/Sara, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2009b (Zugriffsdatum: 28.11.2014).
  • Obst, Gabriele, „Anfangs habe ich gemurrt wie die Israeliten in der Wüste." Erfahrungen mit Bibellesetagebüchern (Sek II), in: entwurf (2007) 2/3, 46-50.
  • Richter, Hannah, Bibelportfolio. Ein Unterrichtsversuch in der 11. Klasse des Gymnasiums, in: entwurf (2007) 2/3, 42-45.
  • Reuß, Jörg-Dieter, Kinder sind nicht zum Opfern da. Ein Unterrichtsvorschlag zu Gen 22 für die Klassenstufen 10 bis 12, in: Loccumer Pelikan (2011) 1, 29-44.
  • Schapp, Wilhelm, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 4. Aufl. 2004.
  • Themenheft „Abraham“. Welt und Umwelt der Bibel 8 (2003) 4.
  • Themenheft „Abraham und Isaak“. Katechetische Blätter 130 (2005) 2.
  • Themenheft „Abraham“. Religionsunterricht heute (2012) 2.
  • Themenheft „Social Media“. Katechetische Blätter 138 (2013) 3.
  • Themenheft „Abraham – Vater der vielen“. Christlich-pädagogische Blätter 12 (2007) 3.
  • Trible, Phyllis/Russel, Letty (Hg.), Hagar, Sarah, and their Children. Jewish, Christian, and Muslim Perspectives, Louisville 2006.
  • Vieweger, Dieter, Streit um das heilige Land. Was jeder vom israelisch-palästinensischen Konflikt wissen sollte, Gütersloh 3. Aufl. 2011.
  • Waldenfels, Bernhard, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a. M. 1997.
  • Zimmermann, Mirjam/Zimmermann, Ruben, Bibel verstehen lernen, in: Adam, Gottfried/Rothgangel, Martin/Wermke, Michael (Hg.), Religion in der Sekundarstufe II. Ein Kompendium, Göttingen 2006, 219-227.
  • Zimmermann, Mirjam/Zimmermann, Ruben, „Hermeneutische Kompetenz“ und Bibeldidaktik. Durch Unverständnis das Verstehen lernen, in: Glaube und Lernen 20 (2005) 1, 72-87.
  • Zimmermann, Mirjam/Zimmermann, Ruben, Die Bibel – Vom Textsinn zum Lebenssinn, Religionsunterricht praktisch Sekundarstufe II, Göttingen 2003.
  • Westermann, Claus, Genesis. 2. Teilband. Genesis 12-36, Biblischer Kommentar Altes Testament I/2, Neukirchen-Vluyn 1981.

Abbildungsverzeichnis

  • Felsendom und Tempelberg: Juden und Muslime verehren hier den Ort, an dem Abraham seinen Sohn opfern soll © Kathrin Gies
  • Struktur der Erzelternerzählungen
  • Abram’s Counsel to Sarai, James Jacques Joseph Tissot (ca. 1896-1902), New York
  • Sara führt Hagar zu Abraham, Matthias Stom (ca. 1637-1639), Berlin
  • Abraham, Sara und der Engel, Jan Provost (1520), Paris
  • Karte aus Staubli, 2002
  • Opfer Isaaks, Caravaggio (ca. 1597–1599), Lawrenceville
  • Die Toledot Noahs

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