Deutsche Bibelgesellschaft

Bibel, gendergerechte Auslegung

Andere Schreibweise: Bible and Gender Studies

(erstellt: Februar 2021)

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Wer verfasste die biblischen Texte? Was wird in den biblischen Texten erzählt und wie geschieht das? Wer legt die biblischen Texte aus und wie geschieht das? Wie nehmen Leserinnen und Leser biblische Texte wahr und wie verstehen sie sie in ihrer Lebenswelt? Für welche Themen und Streitfragen werden biblische Texte herangezogen, von wem und mit welcher Absicht? Dass für die Arbeit an diesen und weiteren Fragen zur Bibel auch die Analysekategorie „Geschlecht“ bzw. gender (→ Gender) von entscheidender Relevanz ist, wird heute in den Bibelwissenschaften weithin anerkannt. Bis dahin musste allerdings ein langer Weg zurückgelegt werden, der nicht erst mit dem Kampf um das Universitätsstudium und entsprechende Berufsmöglichkeiten für Frauen – einschließlich lehrender Positionen an Universitäten und Hochschulen – begann und mit den gegenwärtigen differenzierten Fragestellungen rund um feministische Exegese, theologische Frauen- und Geschlechterforschung, masculinity studies, queer studies oder postcolonial studies noch lange nicht zu Ende ist. Jede Fragestellung erweitert die Perspektiven und fördert neue Erkenntnisse zu den Texten und ihrer Auslegung bis hin zu heutigen Rezeptionskontexten zutage und hat daher Konsequenzen auch für den Zugang zu und den Umgang mit biblischen Texten in verschiedenen Lernkontexten.

1. Feministisch orientierte Exegese

1.1. Auf dem Weg zur Auslegung der Bibel durch Frauen

Seit biblischen Zeiten lässt sich beobachten: Frauen mischen sich in die Auslegung der Heiligen Schriften ein. Allerdings geschah dies über weite Strecken nur selten in der Öffentlichkeit und fand nur in Ausnahmefällen einen schriftlichen Niederschlag, der die Zeiten überdauerte (sichtbar gemacht bei Gössmann, 1993; Fischer/de Groot/Navarro Puerto/Valerio, 2010).

Einen wichtigen Meilenstein der Bibelauslegung durch Frauen stellt „The Woman's Bible“ dar, die 1895 und 1898 in zwei Bänden von der Frauenrechtlerin Elizabeth Cady Stanton (1815-1902) herausgegeben wurde. Anstoß zu diesem Projekt gaben die Debatten um die „Emanzipation“ von Frauen im Zuge der ersten Frauenbewegung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, bei denen biblische Texte sowohl für als auch gegen die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ins Feld geführt wurden. „The Woman's Bible“ ist eine ausschließlich von Frauen verfasste Kommentierung von Textstellen, die in irgendeiner Weise als für Frauen wichtig angesehen wurden, seien sie nun als „frauenfeindlich“ oder auch „frauenfreundlich“ einzustufen. Als „Bibel für Frauen“ sollte sie einerseits die unheilvolle Rolle der Bibel bei der Rechtfertigung von Unrechtsverhältnissen bewusst und andererseits die stärkenden Texte sichtbar machen (Stanton, 1895; 1898; Gifford, 1993; Bührig, 1995; Wacker, 1995a/1995b; Jeffers, 2008).

Bis dahin, dass Frauen die Bibel im kirchlichen und universitären Kontext autoritativ auslegen konnten, war es allerdings noch ein weiter Weg. In der Schweiz wurde Frauen seit den 1870er-Jahren, in Deutschland ab dem Jahr 1900 (Baden) nach und nach der Zugang zum Universitätsstudium und in der Folge auch zum (evangelischen) Theologiestudium gestattet. Vor allem seit den 1920er-Jahren schlossen immer mehr Frauen ein Studium in evangelischer Theologie ab und wurden damit im Schulwesen sowie als Vikarin in verschiedenen kirchlichen Bereichen beruflich tätig. Schwieriger war es auf katholischer Seite: Erst 1929 konnte an der Universität Tübingen die erste katholische Theologin ihr Examen abschließen.

Während auf evangelischer Seite die erste Promotion bereits im Jahr 1907 zu verzeichnen ist (Wacker, 1995a; Henze, 1997), gab es – nach einer ersten Promotion 1952 in Wien – Promotionen katholischer Theologinnen in Deutschland erst in den Jahren nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil seit Ende der sechziger Jahre. Und bis Frauen auch ordentliche Lehrstühle an Theologischen Fakultäten und Instituten erhielten und sogar eigene Professuren für feministische Theologie, theologische Frauenforschung und/oder Genderforschung eingerichtet wurden, waren zahlreiche weitere Hürden zu überwinden (Wacker, 1995a/1995b/2000/2018a; Matthiae/Jost/Janssen/Mehlhorn/Röckemann, 2008, 236-294).

1.2. Bibelauslegung mit politischem Anspruch

Den Anstoß zur Entwicklung feministischer Theologien gab die (zweite) Frauenbewegung, die in den 1960er- und 1970er-Jahre mit ihren Fragen und Themen die Kirchen ebenso wie die universitäre Theologie erfasste. Charakteristisch für feministische Theologien ist, dass sie kontextuelle Theologien sind (Janssen, 2018). Das heißt, dass die gesellschaftlichen, politischen und sozialen Kontexte – sowohl der Texte als auch der Ausleger*innen und Rezipient*innen bis heute – sowie die damit verbundenen Lebenswirklichkeiten und Erfahrungen als „Orte“ theologischer Erkenntnisbildung ernstgenommen werden. Feministische Theologien sind daher immer auch mit außeruniversitären Initiativen und Netzwerken verbunden und zielen auf die Veränderung der Praxis (Matthiae/Jost/Janssen/Mehlhorn/Röckemann, 2008).

Für die Exegese bedeutet dies, dass – vergleichbar den Befreiungstheologien – biblische Texte (auch) auf virulente Gegenwartsfragen bezogen werden. Über die Erhebung historischer Bedeutungen hinaus geht es darum, die theologisch-hermeneutischen Herausforderungen biblischer Texte für die brennenden Fragen der Gegenwart mit zu bedenken „einschließlich des Wissens darum, dass nicht nur um die Bibel, sondern auch mit der Bibel gerungen werden muss“ (Wacker, 2019, 260).

1.3. Feministische Hermeneutik

Dieses Ringen sowohl um die Bibel als auch mit der Bibel kennzeichnet feministische Hermeneutik. So war es zunächst ein zentrales Anliegen, „Frauen ins Zentrum zu stellen“ (Luise Schottroff, vergleiche Wacker, 2016, 22), gegen die von Männern dominierte Auslegungsgeschichte die vergessenen, verschwiegenen und unsichtbar gemachten Frauenfiguren wieder auszugraben und sie in ihrer Bedeutung für heutige Leserinnen und Leser sowie für (kirchen)politische und theologische Gegenwartsfragen wiederzugewinnen.

Bahnbrechend waren in diesen Anfangszeiten zum Beispiel die Wiederentdeckung von „Frauen um Jesus“ (Moltmann-Wendel, 1980) – das heißt: von Jüngerinnen Jesu –, oder von Frauen, die in den paulinischen Gemeinden wichtige Ämter bekleideten, was von Bedeutung für die Debatten um den Zugang von Frauen zu Ämtern v. a. in der römisch-katholischen Kirche war. Auch alttestamentliche Frauenfiguren mit ihren Geschichten wurden neu gelesen, Prophetinnen und Weisheitslehrerinnen entdeckt und für das christlich-jüdische Menschenbild grundlegende Texte wie die Schöpfungserzählungen vom Ballast frauenverachtender Interpretationen befreit und die Figur der Eva neu erschlossen (Schüngel-Straumann, 1989).

Ebenso bewusst war man sich, dass die Bibel nicht nur „frauenbefreiende“ Traditionen enthält, sondern auch „texts of terror“ (Trible, 1984), Texte, mit denen Frauen zum Schweigen gebracht, eingeschüchtert, abgewertet und marginalisiert wurden, so dass die Bibel als „die Quelle unserer Macht zugleich die Quelle unserer Unterdrückung ist“ (Schüssler Fiorenza, 1988b, 69). Sowohl die Produktion der Texte als auch deren Auslegung war und ist in patriarchale bzw. kyriarchale (von griechisch kyrios: Herr/Meister und archein: herrschen/regieren) Kontexte eingebunden. Die Texte bedienen sich ebenso wie ihre Auslegung einer androzentrischen (männerzentrierten) Sprache. Daher bedarf es einer bewertenden „kritisch-feministischen Hermeneutik der Befreiung“ (Schüssler Fiorenza, 1988a/1988b), die es ermöglicht, Frauen sowohl als Subjekte als auch als Opfer der Geschichte wahrzunehmen und die biblische Geschichte als Frauengeschichte zu rekonstruieren. Dazu gehört eine kritische Analyse des Kyriarchats, das Schüssler Fiorenza als „ein soziopolitisches Herrschaftssystem, in dem gebildete und besitzende Elitemänner Macht über Frauen, Kinder und andere Männer und die Natur ausüben“, versteht (Laura Beth Bugg in: Schüssler Fiorenza, 2005, 301). „Kyriarchat kann am besten als komplexes pyramidales System von sich überschneidenden und sich vervielfältigenden sozialen Strukturen von Überordnung und Unterordnung, von Herrschen und Unterdrückung verstanden werden“ (Schüssler Fiorenza, 2005, 301).

Elisabeth Schüssler Fiorenza entwickelte ihre Hermeneutik weiter zu einem „Weisheitstanz“, der Hermeneutiken der Erfahrung, von Herrschaft und sozialem Standort, des Verdachts, der kritischen Beurteilung, der kritischen Imagination und Vorstellungskraft, der Er-Innerung und der Re-Konstruktion sowie des engagierten Handelns für Veränderung umfasst und Bibelleserinnen und -leser einlädt, sich für Veränderung und Transformation einzusetzen (Schüssler Fiorenza, 2005).

1.4. Rekonstruktion von Frauengeschichte

Ein wichtiger Ertrag feministisch orientierter Bibelwissenschaft ist die Rekonstruktion von Frauengeschichte in biblischer Zeit. Besonders Luise Schottroff machte die Fragestellungen und Methoden der Sozialgeschichte für die → feministische Bibelauslegung fruchtbar, lenkte den Blick auf die konkreten Lebensbedingungen und den Alltag der Menschen, auf ihre Arbeit sowie die medizinischen, rechtlichen, politischen, sozialen und ökonomischen Gegebenheiten, fragte dabei gezielt nach dem Verhältnis der Geschlechter und eröffnete so neue Perspektiven auf die Lebensrealitäten von Frauen in neutestamentlicher Zeit (Schottroff, 1994; 1995; Überblick zu Methoden und Erträgen bei Janssen, 2018).

Mit ihrem Konzept einer „feministischen Sozialgeschichte“ gelang es Luise Schottroff, den Blick auf die „Letzten“ der Gesellschaft zu lenken und die alltäglichen Lebensbedingungen der Frauen, die zur armen Bevölkerungsmehrheit gehörten – dort verortet sie die neutestamentlichen Gemeinden –, zu erforschen (Schottroff, 1995, 179). Zum Beispiel spürte sie in zahlreichen Texten Orte von Frauensolidarität auf: So zeigt das Gleichnis von der verlorenen Drachme die solidarische Nachbarinnenschaft von Frauen (Lk 15,8-10), und in der Erzählung über die Auferweckung der Tabita (Apg 9,36-43) oder in den Anweisungen über die Witwen (1 Tim 5,3-16) werden Frauengruppen sichtbar, die sich zusammenschließen, um wirtschaftlich schwächeren Frauen den Lebensunterhalt zu ermöglichen. Ähnlich macht sie in diesen und anderen Texten die Arbeit von Frauen sichtbar und entwickelt neue Perspektiven auf Lebensformen von Frauen.

Wenn das Leben und die Arbeit der marginalisierten Frauen (und Männer) zum Ausgangspunkt der Lektüre genommen werden, müssen auch gängige Konzepte der Geschichte des frühen Christentums neu gedacht werden. Im Zentrum stehen jetzt Aspekte wie die gemeinsame Arbeit für Gerechtigkeit, die Widerständigkeit gegen Unrecht und Gewalt oder die stärkende Hoffnung auf die Nähe Gottes (Schottroff, 1995).

2. Die Analysekategorie Gender

2.1. Die Erweiterung der Fragestellungen

Die Fragestellungen feministisch orientierter Exegese entwickelten sich schon früh weiter. Es zeigte sich, dass nicht nur die biblischen Frauenfiguren und explizite „Frauentexte“ neu gelesen und Frauengeschichte erforscht werden mussten, sondern dass alle Texte und Themen kritisch auf ihre Geschlechter- und Wirklichkeitskonstruktionen und deren Bedeutung für Frauen und Männer befragt werden mussten.

Zudem sah sich feministische Exegese (→ feministische Bibelauslegung) mit verschiedenen kritischen Anfragen konfrontiert (Wacker, 2008): Erstens deckten kritische Anfragen jüdischer Theologinnen wie Judith Plaskow (1993) oder Susannah Heschel auf, dass auch in der feministischen Exegese viele antijüdische Muster weitergeschrieben wurden, wenn etwa das angeblich „frauenfeindliche“ Judentum als Negativfolie für ein angeblich viel „frauenfreundlicheres“ Christentum benutzt wurde oder wenn das „gesetzesfreie Heidenchristentum“ der paulinischen Gemeinden in einen Gegensatz zu sogenannten „Judaisten“ gebracht wurde. Dies setzte eine intensive Suchbewegung zur Überwindung antijüdischer Stereotypen und zur Entwicklung alternativer theologischer Denkformen in Gang und führte u. a. dazu, die Jesusbewegung und die christusgläubigen Gemeinden viel stärker als bisher im Horizont des Judentums zu verorten und die erkennbaren Streitpunkte als innerjüdische Auseinandersetzungen zu verstehen (Schottroff/Wacker, 1996).

Zum zweiten wurde deutlich, dass die feministische Exegese zwar Erfahrungen und Perspektiven westlicher, weißer, christlicher, heterosexueller Mittelschichtsfrauen repräsentierte, keineswegs aber für alle Frauen sprach. Schwarzamerikanische Bibelwissenschaftlerinnen entwickelten „womanistische“ Bibelauslegungen, „mujeristas“ eine Bibellektüre im Kontext Mittel- und Lateinamerikas und es entstanden feministische Bibelwissenschaften in Afrika und Asien (vergleiche die Artikel verschiedener Autorinnen in Schüssler Fiorenza, 1993; Schüssler Fiorenza/Jost, 2015).

Damit zusammenhängend gewann – drittens – zunehmend die Erkenntnis Raum, dass die Marginalisierung von Frauen nicht allein an der Kategorie „Geschlecht“ festzumachen ist, sondern in einem Zusammenhang mit weiteren Kategorien wie gesellschaftlicher Status, ethnische Zugehörigkeit, Hautfarbe, politische, ökonomische und rechtliche Verhältnisse usw. steht. Diese Faktoren sind nicht isoliert voneinander oder additiv zu betrachten, sondern in ihren Wechselwirkungen und „Überkreuzungen“ (engl. intersections), durch die soziale Ungleichheit produziert wird – eine Einsicht, die seit 1989 unter dem Stichwort „→ Intersektionalität“ Einzug in die Debatte gehalten hat (Walgenbach, 2012; Eisen/Gerber/Standhartinger, 2013).

Zum vierten kamen die Aufbrüche von Frauen in anderen Religionen in den Blick, und der Horizont weitete sich auf die Schriftauslegung in den verschiedenen Kontexten der Religionen, vor allem im Judentum und im Islam (Aslan/Hermansen/Medeni, 2013; Baker, 2015). Schließlich fanden Aspekte postkolonialer Bibelauslegungen Eingang in feministische Exegesen (Wacker, 2018b).

2.2. Bibelauslegung unter dem Gender-Aspekt

Wenn nun aber deutlich geworden ist, dass es weltweit und in unterschiedlichen Kulturen und Kontexten nicht dasselbe bedeutet, „Frau“ zu sein, muss die Kategorie „Geschlecht“ nochmals neu durchdacht werden. Grundlegend wurde die Unterscheidung von „sex“ und „gender“. Während „sex“ das „biologische“, in den Körper eingeschriebene Geschlecht bedeutet, meint „gender“ die soziale Geschlechtsrolle, also die Rolle, die in einer Gesellschaft Frauen und analog auch Männern zugewiesen wird. Diese ergibt sich nicht zwingend aus dem „sex“, sondern unterliegt gesellschaftlichen, kulturellen und symbolischen Konventionen und Konstruktionen und ist insofern kontingent (Gerber, 2005, 1369). Unter der Gender-Perspektive kommt also in den Blick, dass „insofern sie von einer Gesellschaft ,gemacht‘ sind, ,Frauen‘ (und ,Männer‘) als Produkte gesellschaftlichen Handelns, von dem sie bestimmt sind, das sie aber auch aktiv ratifizieren, wenn sie Gender im Alltag vollziehen“, zu sehen sind (Wacker, 2016, 23). Geschlecht wird damit nicht-essentialistisch verstanden, das heißt: Geschlecht „ist“ nicht, sondern wird im Vollzug „gemacht“ (Eisen/Gerber/Standhartinger, 2013).

In die Bibelwissenschaften haben diese Aspekte unter Stichworten wie „gender-sensible“, „gender-gerechte“ oder auch „gender-faire“ Exegese Eingang gefunden (Fischer, 2004). Genderforschung zur Bibel verbindet sich mit unterschiedlichen philosophischen, sozialwissenschaftlichen, politischen und praktischen Voraussetzungen und wendet verschiedene Methodiken auf die Untersuchung biblischer Texte an.

Die Relevanz einer gender-gerechten Exegese zeigt sich zum Beispiel in Untersuchungen zur biblischen Rede von Gott. So zeigte Gerlinde Baumann, dass die in vielerlei Metaphern zutage tretende „Männlichkeit“ des Gottes Israels als kulturell geprägte Männlichkeit eines bestimmten Typs näher zu bestimmen ist: Gott wird nicht einfach als Mann dargestellt, sondern als königlicher Mann. Auf den ersten Blick „männliche“ Gottesbilder entpuppen sich so als „königsgestaltige“ Gottesbilder, die mit königlichen Handlungsrollen (die grundsätzlich, wenngleich selten, auch von Königinnen ausgeübt werden können) und nicht mit Geschlechterrollen verbunden sind (Baumann, 2004).

Gabriele Theuer fordert, neben der geläufigen androzentrischen Rede von Gott die Vielfalt der weiblichen und männlichen Gottesbilder der Bibel wahrzunehmen und nicht nur wenige Gottesbilder zu verabsolutieren. Aufgabe einer gender-gerechten Theologie sei es, „so von Gott zu sprechen, dass Begegnung und Erkenntnis Gottes von Frauen und Männern ausgedrückt und ermöglicht wird“ (Theuer, 2013, 53).

2.3. Kritische Männerforschung – Masculinity Studies

Wenn soziale Geschlechterrollen sozio-kulturell geprägt werden, dann sind erstens Frauen- und Männerrollen nicht unabhängig voneinander zu verstehen, sondern in ihrer Interdependenz wahrzunehmen, und zweitens Männerrollen ebenso wie Frauenrollen in ihrem sozio-kulturellen Kontext zu beschreiben und zu analysieren und nach der Bedeutung von „Mann-sein“ in den jeweiligen historischen und kulturellen Kontexten zu fragen: Welche gesellschaftlichen Normen und Erwartungen prägen geschlechterspezifisches Handeln? Welche Kräfteverhältnisse führen zu welchen geschlechterbestimmten Machtstrukturen? Wie und unter welchen Bedingungen entstehen Geschlechteridentitäten? (Weidemann, 2016b, 41) Diesen Aspekten tragen die vergleichsweise jungen Masculinity Studies in den Bibelwissenschaften Rechnung.

Vor dem Hintergrund antiker Männlichkeitsdiskurse zeigt sich zum Beispiel, dass Paulus einerseits zeitgenössische Erwartungen an Männlichkeit und bestimmte Normierungen eines männlichen Körpers durchbricht, weil er sich als ein vom Kreuz Christi Geprägter versteht (1 Kor 1-2; 2 Kor 4,7.10). Andererseits stimmt Paulus mit seiner Ablehnung von „Weichlingen“ (1 Kor 6,9) und langhaarigen Männern (1 Kor 11,14) und seinem Festhalten an der binären Struktur symbolischer Geschlechterdarstellung (1 Kor 11,2-16) mit kulturellen Männlichkeitskonstruktionen seiner Zeit überein. Mit Paulus bahne sich eine Entwicklung an, die sexuelle Enthaltsamkeit und Selbstkontrolle als Form männlicher Kontrolle deute (Mayordomo 2008a/2008b).

Hans-Ulrich Weidemann liest die Bergpredigt (Mt 5-7) als einen androzentrischen Text, der sich mit seinen öffentlichen Unterweisungen unter freiem Himmel an männliche Nachfolger richtet. Auf den ersten Blick stellen die Aufforderungen zu Gewaltverzicht sowie die Verbote von Zorn, begehrlichen Blicken auf Frauen, von Ehescheidung oder Eiden die Maskulinität der Jesusnachfolger zur Disposition. Doch seien die von Jesus geforderten Verhaltensweisen kein in der Umwelt als „unmännlich“ qualifiziertes Verhalten. Vielmehr favorisieren die Texte ein Männlichkeitsideal, das auf Selbstbeherrschung beruhe und den Jesusnachfolgern weiterhin Aktivität und Handlungsfähigkeit ermögliche (Weidemann 2016a; 2016b).

2.4. Queer studies

Längst ist aber auch bewusst geworden, dass nicht nur „sex“ und „gender“, sondern darüber hinaus die Ordnung der zwei Geschlechter und die Praxis der Heterosexualität kritisch zu hinterfragen sind. Auch sie sind Produkte gesellschaftlicher Konventionen, die allerdings den Anschein von „Naturgegebenheiten“ erhalten haben. Queer studies fragen nicht allein danach, was biblische Texte über die sexuelle Orientierung von Menschen sagen. Vielmehr dekonstruieren sie das Normalitätskonzept dieser gesellschaftlichen Konstruktionen und entlarven sie als Machtinstrumente. Dabei signalisiert das Wort queer – das ursprünglich diskriminierend gemeint und dann produktiv übernommen wurde „die Durchkreuzung auch der biologischen Geschlechtergrenzen“ (Gerber, 2005, 1371).

Wegweisend waren die Forschungen von Bernadette Brooten zum biblischen und christlichen Entwurf von Homosexualität (Brooten, 1996). Grundlegend für das Verständnis biblischer Texte, die homosexuelle Praktiken ächten oder verbieten (Lev 18,22; 20,13; Röm 1,26-28), ist des weiteren, dass sie nicht als ein für allemal geoffenbarte „ewige Naturordnung“ gelesen werden, sondern als „Ausdruck menschlichen Ringens um die Vorstellung einer gottgewollten Ordnung unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen“ (Wacker, 2016, 23). Im Wort des matthäischen Jesus, dass es drei Arten von Eunuchen gebe (Mt 19,12), wird ein Geschlechterdiskurs identifiziert, „der mehr als zwei Geschlechter kennt und Fragen des sexuellen Begehrens beziehungsweise der sexuellen Praxis mit umfasst, die nicht nur auf die Position des asketischen Sexualverzichts als Alternative zum ausschließlich ehelichen Gebrauch der Sexualität reduziert werden können“ (Wacker, 2016, 23).

Literaturverzeichnis

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