Bibel in Leichter Sprache
(erstellt: Februar 2022)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Bibel_in_Leichter_Sprache.201017
1. Leichte Sprache
1.1. Definition und Ziel
Leichte Sprache (→ Sprache, einfache; Sprache, leichte
1.2. Entwicklung und rechtliche Grundlagen
Die Entwicklung der Leichten Sprache im deutschsprachigen Raum wurde durch unterschiedliche Kontexte und Ereignisse beeinflusst (Bredel/Maaß, 2016, 60-81). Dazu gehören u.a. die Erarbeitung von Lesbarkeitstest seit den 1920er Jahren und die Entwicklung des Plain English-Regelwerks in den USA seit den 1970er Jahren. In Deutschland sind seit Ende des vergangenen Jahrtausends u.a. Aktivitäten von Inclusion Europe (Projekt „Pathways – Wege zur Erwachsenenbildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten), das 1997 bis 2001 durchgeführte Bundesmodellprojekt „Wir vertreten uns selbst!“ (das später zum Netzwerk People First Deutschland wurde) sowie die Gründung des Netzwerks Leichte Sprache 2006 zu nennen.
Unter rechtlicher Perspektive spielen vor allem die 1994 erfolgte Erweiterung von Artikel 3 Satz 3 des Grundgesetzes („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“), das 2001 in Kraft getretene IX. Buch des Sozialgesetzes (SGB IX), das Behindertengleichstellungsgesetz von 2002 (BGG) sowie die beiden Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnungen von 2002 (BITV) und 2011 (BITV 2.0) eine wichtige Rolle.
Entscheidenden Einfluss hatte schließlich das am 13.12.2006 von der UN-Generalversammlung verabschiedete und am 03.05.2008 in Kraft getretene „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ (Convention of the United Nations on the Rights of Persons with Disabilities - CRPD), in Deutschland meist als UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) bezeichnet. Es garantiert das Recht von Menschen mit Behinderung auf eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft und verpflichtet die beigetretenen Staaten, möglichst alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens (Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildung, Sport etc.) so weit wie möglich barrierefrei zu gestalten. Deutschland setzte die UN-BRK am 29. März 2009 in Kraft; für die Umsetzung der geforderten Maßnahmen wurde 2011 ein Nationaler Aktionsplan (NAP) entwickelt. Dieser benennt u.a. zwölf Handlungsfelder, zu denen auch Bildung sowie Kultur und Freizeit gehören. UN-BRK und NAP machen damit deutlich, dass zu den rechtlich geforderten Maßnahmen zur gesellschaftlichen Barrierefreiheit selbstverständlich auch die Bereiche Sprache und Kommunikation gehören.
1.3. Primäre und sekundäre Adressatinnen und Adressaten
Leichte Sprache ist im Kontext von → Inklusion
Primäre Adressatinnen und Adressaten von Leichter Sprache sind allgemein alle Personen mit eingeschränkter Lese- und Verstehenskompetenz, d.h. Menschen, die Probleme (vorübergehend oder dauerhaft) mit der sprachlichen und inhaltlichen Komplexität von Texten in Standardsprache oder einfacher Sprache haben. Zu dieser Gruppe gehören u.a. Menschen mit Lernschwierigkeiten und mit geistiger Behinderung, Menschen mit Demenz, prälingualer Gehörlosigkeit (bei alleiniger Kenntnis der Deutschen Gebärdensprache) oder Aphasie (Verlust von Sprechvermögen und/oder Sprachverständnis), Menschen mit funktionalem Analphabetismus sowie allgemein Menschen mit eingeschränkten Deutschkenntnissen (z.B. Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch Schülerinnen und Schüler insbesondere der Primar- und Sekundarstufe I).
Sekundäre Adressatinnen und Adressaten von Leichter Sprache sind Personen, die mit Texten in Leichter Sprache in Berührung kommen, zugleich aber auch Zugang zu standardsprachlichen Texten haben und über ausreichende Lesekompetenz dafür verfügen. Zu dieser Gruppe gehören z.B. Personen, die aus Zufall oder Zeitersparnis Texte in Leichter Sprache lesen oder denen der Zugriff auf standardsprachliche Texte fehlt.
Die Breite und Ausdifferenzierung der Adressatinnen und Adressaten zeigt, dass die Definition von einheitlichen Regeln und allgemeingültigen Konzepten für die Erstellung von Texten in Leichter Sprache herausfordernd sein kann. Nimmt man die postulierte Orientierung an den Verstehensvoraussetzungen der jeweiligen Adressatinnen und Adressaten ernst, wird deutlich, dass Texte in Leichter Sprache sich so weit wie möglich an allgemein gültigen Regeln orientieren sollten (Regelwerk), zugleich aber stets individuell produzierte Momentaufnahmen sind (Zielgruppenorientierung).
1.4. Leichte Sprache und einfache bzw. leicht verständliche Sprache
Verständlichkeit als oberstes Prinzip bedeutet, dass nicht der Textinhalt, sondern die Zielgruppe und deren spezifische Beeinträchtigungen das entscheidende Kriterium für die Erstellung bzw. Übertragung von Texten in Leichte Sprache ist. Dementsprechend kann die Übersetzung von vorgegebenen Texten der (bisweilen als „schwere Sprache“ bezeichneten) Standardsprache in Leichte Sprache nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine inhaltliche Reduktion bedeuten. Darin unterscheidet sich Leichte Sprache von der so genannten einfachen (bzw. leicht verständlichen) Sprache (→ Sprache, einfache; Sprache, leichte
1.5. Bewertung
Die Bewertung von Leichter Sprache kann zwischen den Polen Provokation und Stigma rangieren (Bredel/Maaß, 2016, 45-56). Als reduzierte Sprachvarietät für Menschen mit Lese- und Verständnisbeeinträchtigungen kann ihre Verwendung als Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung empfunden werden. Leichte Sprache fördere eine Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung, die sich vor allem auf ihre Defizite und Einschränkungen konzentriere und so letztlich zu ihrer Benachteiligung führe, so die entsprechende Kritik. Meist aus sprachwissenschaftlicher und bildungspolitischer Perspektive wird Leichte Sprache dagegen oft als Provokation gesehen. Hier lautet der Vorwurf, sie sei für sprachlichen Niveauverfall, den Verlust von allgemeiner Sprachkompetenz und ein generell abnehmendes Textverständnis verantwortlich.
Trotz aller z.T. berechtigter Kritik bleibt festzuhalten, dass es meist keine Alternative zur Leichten Sprache gibt, soll der inklusive Ansatz der UN-BRK ernstgenommen werden. Kann für Menschen mit Lernschwierigkeiten mit Hilfe von Standardsprache oder einfacher Sprache die Verständlichkeit von Texten und Inhalten nicht erreicht werden, so müssen andere sprachliche Mittel zum Einsatz kommen. Spätestens an dieser Stelle hat Leichte Sprache ihre Berechtigung, ja ist sie unverzichtbar. Die Alternative wäre allenfalls das – mit dem Gedanken von Inklusion und gleichberechtigter Teilhabe unvereinbare – Eingeständnis, dass bestimmte Texte und Inhalte für bestimmte Zielgruppen (Menschen mit Lernschwierigkeiten) angeblich nicht vermittelbar sind.
2. Regelwerk Leichte Sprache
2.1. Entstehung
In den vergangenen Jahren wurden im deutschen Sprachraum mehrere Regelwerke für Leichte Sprache entwickelt, u.a. die Regeln in der BITV 2.0, Regeln von Inclusion Europe, das Regelwerk der Forschungsstelle Leichte Sprache der Universität Hildesheim oder das der Lebenshilfe-Gesellschaft für Leichte Sprache. Derzeit am weitesten rezipiert und angewandt ist das mehrfach überarbeitete Regelwerk des Netzwerks Leichte Sprache, das auch vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) empfohlen und in Publikationen verbreitet wird (z.B. BMAS, 2019). Ein Vergleich der Regelwerke kann an dieser Stelle nicht erfolgen (dazu ausführlich Maaß, 2015). Trotz aller individuellen Akzentuierungen der jeweiligen Regelwerke lassen sich jedoch grundlegende und allgemein akzeptierte Regeln für Leichte Sprache zusammenstellen.
2.2. Regeln
Das Regelwerk der Leichten Sprache orientiert sich auf verschiedenen Ebenen am leitenden Prinzip der Verständlichkeit: Auf der Ebene der Sprache (Wortschatz, Grammatik, Syntax), der Rechtschreibung (Medio-Punkt, Abkürzungen, Zahlen), des Textinhalts (Fremdwörter, Aufbau, Auslassungen), der Gestaltung (Schrifttype, Formatierung, Druckmaterialien) sowie der Erstellung (Prüfen). Die folgende Auswahl stellt die wichtigsten Regeln zusammen (für eine ausführliche Darstellung mit Beispielen: BMAS, 2015, und https://dg-ls.de/regelwerk
- Es werden einfache und gängige Wörter benutzt, die auch der Umgangssprache entnommen sein können.
- Es werden kurze Wörter benutzt.
- Auf Fremdwörter wird verzichtet.
- Zahlen werden als arabische Ziffern geschrieben.
- Hohe Zahlen und Prozentangaben werden vermieden bzw. erklärt.
- Abkürzungen werden vermieden oder ausgeschrieben oder erklärt.
- Es werden immer dieselben Wörter benutzt und Synonyme vermieden.
- Es werden Verben benutzt, auf Substantivierungen wird verzichtet.
- Als Satzzeichen werden vornehmlich Punkt, Komma, Doppelpunkt, Aufzählungszeichen verwendet; Ausrufezeichen, Semikolon, Anführungszeichen, Apostroph sowie Sonderzeichen werden vermieden.
- Es werden aktive Wörter verwendet.
- Aussagen werden in aktiver Form formuliert; Passiv wird vermieden.
- Jeder Satz enthält nur eine Aussage.
- Jeder Satz beginnt in einer neuen Zeile.
- Es werden keine Trennungen zwischen den Zeilen verwendet.
- Der Konjunktiv wird vermieden.
- Der Genitiv wird vermieden und in den meisten Fällen durch den Dativ ersetzt („von/vom/von dem“).
- Abstrakte Begriffe werden vermieden; wo sie notwendig sind, werden sie durch anschauliche Beispiele oder Vergleiche erklärt.
- Mehrdeutige oder irreführende bildliche Sprache (Metaphern) und Redewendungen werden vermieden oder erläutert („exformiert“).
- Wenn Fremdwörter, Fachbegriffe, Bilder oder übertragene Redewendungen unvermeidbar sind, wird ihr Inhalt bzw. ihre Aussage in Leichter Sprache erklärt (so genannte „Exformation“).
- Zusammengesetzte Wörter werden durch Bindestriche oder (besser) durch den so genannten Medio-Punkt (·) getrennt.
- Negative Wörter und Formulierungen werden vermieden, stattdessen wird positiv formuliert.
- Es wird keine Kindersprache verwendet.
- Es werden serifenlose Schriftarten verwendet (z.B. Arial, Century Gothic).
- Die Schriftgröße beträgt mindestens 14 Punkt und der Zeilenabstand ist 1,5 fach.
- Texte werden linksbündig und ohne Blocksatz formatiert.
- Fettsetzungen können zur Hervorhebung verwendet werden, auf Kursivierungen, Kapitälchen, Hochstellung etc. wird dagegen verzichtet.
- Bilder und/oder Illustrationen begleiten den Text und erhöhen das Textverständnis.
- Zwischenüberschriften können die Übersichtlichkeit des Textes erhöhen.
- Zum besseren Verständnis kann der Text umgestellt werden oder können Inhalte ausgelassen oder zusätzlich zur Erläuterung eingefügt werden (z.B. als Hinführung zum Text).
- Die Texte werden von Personen der Zielgruppe geprüft und als verständlich bewertet (Prüflesen).
- Beim Druck wird mattes und mindestens 100 Gramm schweres, weißes Papier verwendet, die Schriftfarbe ist schwarz.
2.3. Exformation
Eine wichtige Regel bei der Erstellung von Texten in Leichter Sprache ist die so genannte Exformation: Begriffe, Aussagen, Bilder oder Redewendungen, die mehrdeutig oder aus anderen Gründen nicht einfach zu verstehen sind, müssen im Text in verständlicher und knapper Sprache erläutert werden. Im Text explizit Unausgesprochenes, aber implizit Mitgedachtes („Information“) muss ausgedrückt („exformiert“) werden, damit der Text von Menschen mit Lernschwierigkeiten verstanden werden kann. Dies hat meist zur Folge, dass der Text durch Hinzufügungen erweitert und dadurch inhaltlich verändert werden muss.
Ein Beispiel: Das dem Griechischen entlehnte Fremdwort „Synagoge“ mag im religiösen Binnenraum verständlich sein; für Menschen mit Lernschwierigkeiten bedarf es dagegen einer Exformation, die den Sinngehalt im jeweiligen Textzusammenhang erläutert. Eine Übertragung in Leichter Sprache könnte zum Beispiel lauten: „Die Synagoge ist ein besonderes Haus. / In der Synagoge können sich die Menschen treffen. / Und beten. / Und zusammen von Gott sprechen.“
2.4. Prüflesen
Eine weitere zentrale Regel ist das so genannte Prüflesen. Es garantiert, dass die Texte von den angestrebten Zielgruppen tatsächlich verstanden werden und stellt so eine zusätzliche Ebene der Qualitätssicherung dar. Getreu dem Motto der Behindertenbewegung der 1980er Jahre „Nichts über uns ohne uns“ schreibt die Regel vor, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten von Anfang an in die Erstellung der Texte eingebunden werden. Sie lesen die ersten Entwürfe, beurteilen sie auf ihre Verständlichkeit hin, machen gegebenenfalls Korrekturvorschläge und prüfen die überarbeiteten Texte erneut. Erst wenn die Prüfleserinnen und -leser einen Text als verständlich bewerten, kann er als Text in Leichter Sprache eingesetzt oder veröffentlicht werden.
Die Verwendung der gängigsten Gütesiegel für Leichte Sprache setzt die Selbstverpflichtung zum Prüflesen durch Menschen mit Lernschwierigkeiten voraus. Die bekanntesten Gütesiegel sind das rechteckige blaue Siegel von Inclusion Europe, das einen stilisierten lesenden Menschen hinter einem Buch zeigt, dessen Umschlag auf der linken Seite mit einem nach oben gereckten Daumen versehen ist, sowie das rotblaue, runde Siegel des Netzwerks Leichte Sprache, das die Schrift „Leichte Sprache“ und in der Mitte einen weißen Haken auf blauem Grund trägt.
3. Bibel und Leichte Sprache
Werden Bibeltexte in Leichte Sprache übertragen, so stellen sich besondere Herausforderungen (Bauer/Ettl, 2017; Mels, 2018).
3.1. Eigenart biblischer Texte
Biblische Texte sind religiöse Texte. Sie reden von etwas, wofür die „normale“ Sprache eigentlich nicht ausreicht. Die Verfasserinnen und Verfasser biblischer Texte bedienen sich deshalb oft besonderer Stilmittel wie bildhafter Sprache, Vergleichen, Hymnen, Poesie u.a. Biblische Texte lassen manches offen, vermeiden eindeutige Aussagen und beinhalten implizite Deutungen. Denn die Rede über Gott ist letztlich nur in Vergleichen, Analogien und Bildern möglich. Die Prinzipien der Leichten Sprache aber verlangen gerade, deren Mehrdeutigkeit eindeutig zu machen, was wiederum Eingriffe in die Substanz der Texte nötig machen kann.
Außerdem verwenden biblische Texte religiöse Termini und Aussagen, die nicht aus sich selbst heraus verständlich sein können, sondern der Erläuterung bedürfen (z.B. Prophet, Messias, Reich Gottes, Lamm Gottes). Solche und andere Stilmittel und rhetorische Figuren beeinflussen die Verständlichkeit und Eindeutigkeit biblischer Texte. Bei der Übertragung solcher Texte in Leichte Sprache können deshalb Exformationen, Erläuterungen, Interpretationen, Auslassungen oder Ergänzungen nötig werden. Dies greift jedoch nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich in die biblischen Vorlagen ein.
3.2. Übertragungsprozess
Die Übertragung von Bibeltexten in Leichte Sprache ist ein mehrstufiger und anspruchsvoller Prozess. Die Herausforderung besteht vor allem darin, die vom Regelwerk der Leichten Sprache geforderte vorrangige Orientierung an der Zielgruppe und deren Verstehensvoraussetzungen („Option für die Adressatinnen und Adressaten“) mit der theologischen und sprachlichen Verantwortung für den Bibeltext und seinen inhaltlichen Aussagen („Option für den Text“) in Einklang zu bringen. Ziel ist es, die klaren Prinzipien der Leichten Sprache auf den biblischen Text so anzuwenden, dass seine theologische Botschaft erhalten und verständlich bleibt.
Im Sinne der Theorie kommunikativer Bibelübersetzungen ist es deshalb sinnvoll, besser von einer „Übertragung“ als von einer „Übersetzung“ in Leichte Sprache zu sprechen. Denn die Übertragung von Bibeltexten in Leichte Sprache macht Interpretationen und Eingriffe in die Vorlage häufiger und umfangreicher notwendig als es bei anderen, „klassischeren“ Bibelübersetzungen der Fall ist.
3.3. Zweifache Qualitätssicherung
Entsprechend den beiden skizzierten Optionen sollte bei der Übertragung von Bibeltexten in Leichte Sprache eine zweistufige Qualitätskontrolle durchgeführt werden (wie sie z.B. das Projekt „Evangelium in Leichter Sprache“ praktiziert, s. Kap. 4.2.4.): Neben der auch bei nicht-biblischen Texten geforderten sprachlichen Überprüfung durch eine oder idealerweise mehrere Prüflesegruppen findet eine theologisch-exegetische Qualitätskontrolle statt: Theologinnen und Theologen der beteiligten Einrichtungen überprüfen die Texte auf ihre exegetische und theologische Zuverlässigkeit und Stringenz und bringen ihre Erkenntnisse ebenfalls in den gemeinsamen Übertragungsprozess ein. Diese qualitätssichernden Maßnahmen bedeuten zwar einen zusätzlichen Aufwand, verbessern jedoch die sprachliche wie theologische Qualität der so erstellten Bibelübertragungen in Leichte Sprache meistens erheblich.
3.4. Pluralität und Zielgenauigkeit
Aufgrund der genannten spezifischen Voraussetzungen und den damit zusammenhängenden Übersetzungskriterien sind Übertragungen von Bibeltexten in Leichte Sprache noch mehr als standardsprachliche Übersetzungen auf die spezifische Zielgruppe ausgerichtet. Ihre Reichweite scheint damit auf den ersten Blick begrenzter und ihre Einsatzmöglichkeiten eingeschränkter. Zugleich erhöht sich damit jedoch die Vielfalt und Zielgenauigkeit biblischer Texte. Sie werden immer wieder neu übertragen oder an neue Bedürfnisse und Zielgruppen angepasst. Die Lebendigkeit und Aktualität der Bibel wird so anschaulich und greifbar.
3.5. Komplementarität
Bibeltexte in Leichter Sprache wollen nicht Ersatz für andere Bibelübersetzungen wie Lutherbibel, Einheitsübersetzung, Basis-Bibel u.a. sein. Sie stellen allerdings eine – dringend notwendige und unverzichtbare – Ergänzung bestehender Übersetzungen dar. Denn sie erreichen Zielgruppen, für die herkömmliche Übersetzungen ungeeignet sind oder für die noch keine verständlichen Bibeltexte existieren.
3.6. Perspektivenwechsel
Der Prozess des Übertragens von Bibeltexten in Leichte Sprache setzt als wesentliches Prinzip das Prüflesen voraus. Die Einbeziehung von Menschen mit Lernschwierigkeiten in die Übertragung möglichst von Anfang an soll garantieren, dass deren Perspektive leitend und entscheidend ist. Darin unterscheiden sich Texte in Leichter Sprache von anderen, standardsprachlichen Übersetzungen. Entscheidend ist nicht, was (fachlich meist qualifizierte) Übersetzerinnen und Übersetzer von Bibeltexten für passend und verständlich für die von ihnen anvisierte(n) Zielgruppe(n) halten (Außenperspektive). Entscheidend ist vielmehr, was die Menschen der Zielgruppe(n) selbst als notwendig erachten und wollen (Eigenperspektive). Durch theoretische wissenschaftliche Analysen oder empirische Untersuchungen kann dies meist nur unzureichend erfasst werden. Die aktive und gleichberechtigte Beteiligung von Vertreterinnen und Vertretern der Zielgruppe(n) ermöglicht dagegen, die Voraussetzungen, Wünsche und Bedarfe zu erfassen und bei der Übertragung zu berücksichtigen. Nur eine derartig geprägte Übertragung biblischer Texte nimmt die Frage Jesu an den blinden Bartimäus tatsächlich ernst: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ (Mk 10,51
4. Bibel in Leichter Sprache
4.1. Einsatzmöglichkeiten
Bibeltexte in Leichter Sprache richten sich zunächst an die genannten primären Zielgruppen, vor allem an Menschen mit Lernschwierigkeiten und eingeschränkter Sprachkompetenz. Daneben sind sie auch außerhalb des Inklusionsbereichs einsetzbar, zum Beispiel im Religions- oder Deutschunterricht, bei der Arbeit mit Migrantinnen und Migranten (→ Interkulturalität/Ethnische Vielfalt/Minderheiten/Migration
4.2. Übersetzungsprojekte und Bibeltexte in Leichter Sprache (Auswahl)
Bislang gibt es keine Gesamtausgabe der Bibel in Leichter Sprache. Dagegen wurden in den vergangenen Jahren durch etliche Projekte und Initiativen einzelne biblische Texte oder Bücher aus dem Alten wie aus dem Neuen Testament in Leichte Sprache übertragen und veröffentlicht, im Print- wie im Onlinebereich.
4.2.1. Biblische Textsammlungen in Leichter Sprache der Lebenshilfe Bremen e.V.
Zum Teil in Kooperation mit dem Arbeitskreis Theologie und Seelsorge der Bundesvereinigung Lebenshilfe und ökumenisch abgestimmt entstanden (zeitweise im Rahmen eines von Aktion Mensch geförderten Projekts) insgesamt fünf Publikationen mit thematisch geordneten Bibeltexten in Leichter Sprache: Die Weihnachts-Geschichte in Leichter Sprache (2010) (→ Geburtsgeschichten Jesu / Weihnachten, bibeldidaktisch
4.2.2. Offene Bibel
Die Offene Bibel ist ein ökumenisches Internetprojekt, das seit 2009 an mehreren deutschen Bibelübersetzungen arbeitet, darunter auch einer Bibel in Leichter Sprache (https://offene-bibel.de/wiki/Leichte_Sprache
4.2.3. Bibeltexte in Leichter Sprache für Evangelische und Ökumenische Kirchentage und Katholikentage
Seit längerem werden Bibeltexte und Gebete für Gottesdienste und Veranstaltungen der Kirchentage und Katholikentage von unterschiedlichen Übersetzungsteams sowohl in Leichte Sprache als auch in einfache bzw. leicht verständliche Sprache übersetzt. Für den 3. Ökumenischen Kirchentag 2021 in Frankfurt wurden die Bibeltexte für die Gottesdienste erstmals von einem ökumenischen Team in Leichte Sprache übertragen (https://www.oekt.de/fileadmin/2021/downloads/gemeinden_und_pfarreien/online_210129-exegetischeskizzen-a4.pdf
4.2.4. Projekt „Evangelium in Leichter Sprache“ der Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus und des Katholischen Bibelwerks e.V.
Das Projekt „Evangelium in Leichter Sprache“ (https://www.evangelium-in-leichter-sprache.de
Außerdem wurden durch das Projekt bislang zwei bundesweite Werkstatt-Tagungen „Bibel und Leichte Sprache“ in Nürnberg organisiert, eine dritte ist für 2022 geplant.
5. Fazit
Auch wenn entsprechende Ansätze schon früher existierten, erhielt das Konzept der Leichten Sprache vor allem durch die 2008 ratifizierte UN-BRK entscheidende Impulse. Seit mehr als einem Jahrzehnt werden dabei auch Bibeltexte (von unterschiedlichen Initiativen und Personen) übersetzt, zunehmend auch in ökumenischer Zusammenarbeit. Die Übertragung von biblischen Texten in Leichte Sprache ist gleichermaßen herausfordernd wie notwendig – und bisweilen auch umstritten. Neben dem Ergebnis der Übertragung ist der Entstehungsprozess der Texte von besonderer Bedeutung. Er unterliegt bestimmten Regeln. Vor allem durch die Prinzipien der Exformation und des Prüflesens unterscheiden sich Texte in Leichter Sprache grundlegend von anderen, standardsprachlichen Übersetzungen. Entscheidend für Qualität und Zielgenauigkeit der Texte und ihrer inhaltlichen Aussagen ist die Einbeziehung von Menschen mit Lernschwierigkeiten in den Übersetzungsprozess von Beginn an. Sie steht für einen radikalen → Perspektivenwechsel
Literaturverzeichnis
- Bauer, Dieter/Ettl, Claudio, Frohe Botschaft – ganz leicht?!, in: Katechetische Blätter 142 (2017), 163-166.
- Bauer, Dieter/Ettl, Claudio/Mels, Paulis, Evangelien der Sonn- und Festtage im Lesejahr A, Stuttgart 2. Aufl. 2019; Evangelien der Sonn- und Festtage im Lesejahr B, Stuttgart 2017; Evangelien der Sonn- und Festtage im Lesejahr C, Stuttgart 2018.
- Bauer, Dieter/Keuchen, Marion, Das Evangelium in leichter Sprache mit leichten Bildern. Ein Projekt im Bereich Inklusion, in: Deutsches Pfarrerblatt 116 (2016), 214-216;221f.
- Bredel, Ursula/Maaß, Christiane, Leichte Sprache. Theoretische Grundlagen – Orientierung für die Praxis, Berlin 2016.
- Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Leichte Sprache. Ein Ratgeber. In Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Leichte Sprache, Berlin 2014.
- Gidion, Anne/Arnold, Jochen/Martinsen, Raute (Hg.), Leicht gesagt! Biblische Lesungen und Gebete zum Kirchenjahr in Leichter Sprache, Hannover 2013.
- Lebenshilfe Bremen (Hg.), Leichte Sprache. Die Bilder, Bremen 2013.
- Maaß, Christiane, Leichte Sprache. Das Regelbuch, Berlin 2015.
- Mels, Paulis, Die Bibel in Leichter Sprache, in: Information und Material 1 (2018), 49-53.
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