Deutsche Bibelgesellschaft

Biblische Ganzschriften im Religionsunterricht - bibeldidaktisch

(erstellt: Februar 2020)

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Jugendliche stehen der Bibel häufig distanziert gegenüber. Deshalb stellt die Behandlung biblischer Ganzschriften im Religionsunterricht für sie zunächst eine Herausforderung dar. Diese Vorgehensweise kann sich aber – den Erfahrungen von Unterrichtenden zufolge – bald in einen Gewinn verwandeln, weil die Schülerinnen und Schüler einen Kompetenzzuwachs erleben: Sie lernen die biblischen Bücher als eigenständige Werke mit einem jeweils eigenen literarischen Profil und einer bewussten theologischen Akzentsetzung wahrzunehmen und zu verstehen. In der unterrichtlichen Deutung dieser theologischen Auffassungen kann die Bibel als ein vielstimmiges menschliches Zeugnis des Gottesglaubens lebendig und damit zu einem echten Gegenüber werden. Aus exegetischer Sicht wird man damit der Bibel als Buch gerechter als durch kleiner portioniertes Lesen. Gemäß dem religionsdidaktischen Grundsatz der wechselseitigen Erschließung von Person und Sache (→ Elementarisierung) stellt sich aber zugleich die Frage, ob und wie man mit der Lektüre ganzer biblischer Bücher auch den Schülerinnen und Schülern gerecht wird.

1. Das Plädoyer für die Ganzschrift

In den Köpfen von Jugendlichen existieren biblische Inhalte häufig in Form knapper Zitate oder nicht immer vollständig erinnerter Geschichten. Nach wie vor treten Bibeldidaktiker dafür ein, diesen kurzen, prägnant formulierten Texten Aufmerksamkeit zu widmen, weil sie wichtige Gedanken biblischer Überlieferung ansprechen und oft leicht zu behalten sind (→ Bibeldidaktik, Grundfragen). Theologisch verantwortete und auf Fragen der Gegenwart bezogene Sammlungen solcher Texte erscheinen sowohl für die gemeindliche als auch für die schulische Arbeit mit der Bibel sinnvoll. Daneben treten heute Plädoyers für das Lesen ganzer biblischer Bücher gerade auch im Religionsunterricht der Sekundarstufe I und II (z.B. Müller, 2008b; Dern, 2013b; Wiemer, 2017). Dies sensibilisiere für die Entstehungsbedingungen und Aussageabsichten eines Buches und leite an, dessen Texte aus ihrem literarischen und geschichtlichen Kontext heraus zu verstehen. Damit könne dem Missverständnis gewehrt werden, man solle biblische Texte einfach als Satzwahrheiten glauben. Vielmehr werde bewusst die Perspektive des angeredeten Lesers eingenommen (Dressler/Schröter-Wittke, 2012, 15), der sich auch zur Stellungnahme zur Ansicht des Verfassers herausgefordert fühlen kann.

Exkurs: Auswahl der Übersetzung

Bevor die Bibel so als eigenständiges Subjekt in einem Gesprächsprozess erfahren werden kann, brauchen die Lernenden Zeit zur Einübung. Wenn sie sich in den biblischen Sprachgestus eingefunden haben, wird das Gefühl der Fremdheit allmählich überwunden. Welche Bibelübersetzungen sind für diesen Prozess förderlich? Vergleichende Studien zur Arbeit von Lerngruppen, die weder Hebräisch noch Griechisch können, mit unterschiedlichen Übersetzungen stehen noch aus. Bei jeder Ganzschrift ist zunächst zu prüfen, welche Übersetzung vom theologischen Profil her die beste Textgrundlage für die Arbeit im Unterricht bietet. Religionspädagogen führen aufgrund eigener Unterrichtserfahrungen gute Gründe für zwei Übersetzungen an: Nach Christian Dern sollte die Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984 bzw. 2017 eine Rolle spielen. Dies fördere die Partizipationskompetenz auch im innerkirchlichen Gespräch, weil diese Übersetzung im evangelischen Raum am stärksten präsent sei. Außerdem seien die sprachlichen Bilder der Lutherbibel für Schülerinnen und Schüler so einleuchtend, dass dies durch aktualisierendere Formulierungen nicht eingeholt werde (Dern, 2013b, 99).

Axel Wiemer plädiert für die BasisBibel (2012) soweit sie inzwischen vorliegt. Diese senke die Verständnishürden erheblich, weil der Text nach Sinnzeilen gesetzt ist und mit knappen Sätzen auskommt, die maximal einen Nebensatz umfassen. Ein wesentlicher Vorteil liege in ihrer Orientierung am „Mediennutzungs- und Leseverhalten“ im „Zeitalter der elektronischen Medien“ (Wiemer, 2017, 273). Schon im Druckbild der Buchausgabe sind Begriffe wie Links andersfarbig gesetzt und werden in einer Randspalte kurz erklärt. In der elektronischen Fassung www.basisbibel.de werden sie als Link ausgeführt und sind mit umfangreicheren Auskünften vernetzt. Neben weiteren als Link anwählbaren Begriffen und Bibelstellen finden sich dort auch andere Medien wie Zeichnungen, Bilder und Videoclips sowie Kartenmaterial mit durch Links hinterlegten Orten. Bei mit neuen Medien aufgewachsenen Jugendlichen kann so eine attraktive Form des Zugangs zu biblischen Büchern eröffnet werden. Allerdings erweist sich der Internetauftritt erst nach einer entsprechenden Einführung für die selbstständige Nutzung als hilfreich.

1.1. Auswahl der Ganzschriften

Der Religionsunterricht unterliegt der für jeden Unterricht unausweichlichen Notwendigkeit einer Auswahl von Inhalten und wirkt damit in gewisser Hinsicht faktisch Kanon bildend. Kurze biblische Bücher werden oft als Ganzschriften aufgegriffen, meist ohne diesen Anspruch explizit zu betonen. Das Buch Rut etwa (→ Rut, bibeldidaktisch [Primar- und Sekundarstufe]) wird im Zusammenhang der Migrationsthematik eingesetzt (Bosold, 2017). Das Buch Jona, wegen seines narrativen Charakters gut zugänglich, veranschaulicht exemplarisch, welche Mühe ein Prophet mit Gottes Willen hat und dass selbst Gott seinen Willen ändern kann (Johannsen/Rosenhagen, 2009).

Die Frage nach dem biblischen Kanon im Religionsunterricht kann aber auch explizit in dem Sinn gestellt werden, dass der Kanon in seiner Extension und Erschließungskraft für das Verstehen der Welt und die Orientierung des Lebens heute in den Blick kommen soll (→ Bibel). In diesem Sinne entwirft Christian Dern für den evangelischen Religionsunterricht in den Jahrgängen 5 bis 12 einen „Kanon im Kanon“, den er als variable, nicht fixierte Zusammenstellung verstanden wissen will. Er bietet eine Auswahl an, in der alle Buchgruppen der Bibel und zentrale Auslegungswege vertreten sind. Es solle überhaupt zu einem Einstieg in den biblischen Kanon kommen, so dass kontinuierlich „am assoziativen Netz der biblischen Sprache, respektive biblischer Sprachfähigkeit der Schülerinnen und Schüler gearbeitet werden kann“ (Dern, 2013b, 208). Wegen seiner exponierten Stellung im biblischen Kanon eigne sich das Erzählwerk der Genesis als Einstieg besonders gut.

Andere Autoren votieren für die Ganzschriftlektüre eines Evangeliums. Die exemplarische Erarbeitung schärfe den Sinn für die Gestaltungsabsichten der Evangelisten und ihre verschiedenen theologischen Profile. Die Begegnung mit unterschiedlichen Darstellungen fordere Schülerinnen und Schüler heraus, ein eigenes differenziertes Jesusbild zu entwickeln, das ausgehend von einem Haupttext und kontrastierenden Texten aus den anderen Evangelien klarer entdeckt werden könne. Zur Lektüre des Markusevangeliums wurden bereits mehrere Entwürfe ausgearbeitet (Müller, 1999; Reinert, 2007; Sohns, 2013). Peter Müller ließ inzwischen Materialien zum Matthäusevangelium folgen (Müller, 2008a) und Andreas Reinert hat ein Arbeitsheft zum Johannesevangelium vorgelegt (Reinert, 2012). Beide regen vorrangig zur persönlichen Lektüre eines Evangeliums an, die durch die Behandlung von Schwerpunkten im Unterricht vertieft wird.

Axel Wiemer stellt die Vorteile einer Ganzschriftlektüre am Beispiel des Galaterbriefs heraus. Als dialogisch zu lesender Text passe dieser Paulusbrief zum Konzept, Lernende in einen Dialog mit der Bibel zu bringen. Die hier greifbare Frage der frühen Christen nach ihrer Identität könne sich bei den Jugendlichen mit einer kritischen Prüfung ihrer eigenen Sicht auf das Christsein und ihrer Frage „Wer bin ich?“ verbinden lassen (Wiemer, 2017, 9;271).

Selbst wenn der religionspädagogische Austausch über Erfahrungen mit biblischen Ganzschriften allmählich besser zeigen sollte, welche Bücher für den schulischen Kontext geeignet sind, wird doch jede Fachkonferenz im Hinblick auf die spezielle Situation ihrer Schülerschaft entsprechende Entscheidungen treffen müssen.

1.2. Wege zum Verstehen

Ein biblisches Buch verfügt nicht über ein einzig richtiges Verstehen als inhärente Qualität (intentio operis) und sein Sinn kann auch nicht auf die Intention des Autors reduziert werden (intentio auctoris). Der bzw. die Lesende konstruiert wesentlich die Bedeutung des Textes, auch aus dem eigenen Vorverständnis und der gegenwärtigen Situation heraus (intentio lectoris) (→ Bibeldidaktik, diskursiv). Die entsprechenden Lernprozesse sind nicht einfach vorhersagbar und Schülerinnen und Schüler wissen es zu schätzen, wenn sie mit ihren eigenen Deutungsweisen ernst genommen werden. Dies muss nicht in Beliebigkeit umschlagen und erfordert nicht den Verzicht auf den Anspruch der Angemessenheit des Verstehens, weil der Text zugleich im Horizont biblischer Kontexte zu verstehen ist, die Stärken und Schwächen der je eigenen Interpretation zu erkennen erlauben. Die Einsicht in die Bedeutung intertextueller Zusammenhänge ist bibeldidaktisch relevant, weil sie einen Eindruck von der Bibel als Gesprächs- und Deutungsraum vermittelt. Die Ganzschriftlektüre erleichtert es, dieser intertextuellen Bezüge ansichtig zu werden und die Bibel als Subjekt zu erkennen, das die Lesenden in ein langes laufendes Gespräch hineinzieht.

Mirjam Schambeck regt eine intensive bibeldidaktische Erschließung der Beziehung zwischen „Leserwelt“ und „Textwelt“ an, die allerdings von den Lehrkräften breite biblische Expertise verlangt (Schambeck, 2009, 134). Müller zufolge lassen sich intertextuelle Fragen auch stärker fokussiert aufnehmen. Er will die Einsicht in innerbiblische Verbindungslinien dadurch erreichen, dass er wesentliche Verknüpfungen in Themenkreisen konzentriert. Damit verbunden sind für zentrale Fragen der Bibel relevante Kernstellen, die Interesse wecken sowie biblische Tradition erschließen und von denen aus innerbiblisch in verschiedene Richtungen weitergefragt werden kann. Sie bieten so eine Vorlage für die Auswahl intertextueller Bezüge, die sich für die Behandlung von Themen nutzen lassen (Müller, 2009, 85;99). Durch ihre Erfahrung mit der Hypertextfunktion des Internet sind die Schülerinnen und Schüler in gewissem Maß vertraut mit freien Verbindungen über größere Entfernungen hinweg, aus denen neue Zusammenhänge erkennbar werden bzw. erst entstehen. Diese Herangehensweise entspricht im Grundsatz der Art, wie Ganzschriften im biblischen Kontext gelesen werden wollen.

2. Didaktik der Lektüre biblischer Ganzschriften

Immer mehr didaktische Versuche wollen zeigen, wie das Lesen biblischer Ganzschriften im Religionsunterricht erfolgreich durchgeführt werden kann. Sie setzen im Rahmen der wechselseitigen Erschließung von Person und Sache unterschiedliche Akzente.

2.1. Schlüssel zur Bibel

Schon früh ist Müller dafür eingetreten, den ganzen Markus im Unterricht zu behandeln und sich dabei an Texten zu orientieren, „in denen die Intentionen des Erzählers Markus besonders deutlich zum Vorschein kommen“ (Müller, 2008b, 164). Bei dieser Auswahl von Einzelabschnitten gelte es tendenziell, das gesamte Evangelium mit zu berücksichtigen, eine Vorgehensweise, die auch für das Lesen eines anderen Evangeliums zutreffe. Bei Markus sind das z.B. Abschnitte zur Frage „Wer ist Jesus?“, exemplarische Gleichnisse und Wundergeschichten, Abschnitte aus der Passion und die Auferstehungserzählung. Einzelne Texte darin seien langsam zu lesen mit viel Raum für eigene Entdeckungen, so dass auch unscheinbare Textsignale zum Tragen kommen. Die Texte dienen gleichsam als Schlüssel, die ins „Schloss“ eines biblischen Buches passen, so dass sein Textraum aufgeschlossen werden kann. Die Schlüssel müssen aber auch in die Hand der Schülerinnen und Schüler passen. Deshalb sucht Müller nach Anschlusspunkten, wo die biblischen Grundaussagen zur Erfahrung der Lernenden in Beziehung gesetzt werden können und für sie begreifbar sind. Dazu bezieht er Szenen, Bilder, alltagsweltliche Medien u.Ä. ein. So konzipiert er abgerundete thematische Einheiten, die aufeinander verweisen und letztlich ein ganzes biblisches Buch erschließen können. In seiner Bibeldidaktik weitet Müller dieses Konzept aus: „advance organisers“ (David Ausubel) in Form von Mind-Maps organisieren biblische Stoffe um Konzepte herum. Diese strukturierende Reduktion fördere insgesamt den Erwerb biblischen Rahmenwissens, in das neue Aussagen eingeordnet und mit Bedeutung versehen werden können (Müller, 2009, 84-106). Die hier vorgenommene Strukturierung in Themenkreise und Schlüsseltexte erleichtert die Ganzschriftenlektüre. Sie beschreibt jedoch primär die Wege bei ihrer religionsdidaktischen Vorbereitung. Konkretionen für den Unterricht haben eher den Charakter von Hinweisen.

2.2. Lesetagebücher und Schülerfragen

Erschließungsvorschläge für biblische Ganzschriften, die direkt deren lernende Aneignung befördern sollen, unterbreiten Gabriele Obst und Wolf Eckhard Miethke für die Sekundarstufe II. Parallel zum Kursunterricht erhalten die Schülerinnen und Schüler einen Leseplan mit einer auf biblische Bücher bezogenen Textauswahl. Damit setzen sich die Lernenden in einem Zeitraum von 5 bis 6 Wochen in häuslicher Arbeit auseinander und führen ein Lesetagebuch. Für jeweils eine Seite des Tagebuchs wird eine klare Struktur vorgegeben. Sie veranlasst nach einer knappen Inhaltsangabe eine sachliche und persönliche Auseinandersetzung mit dem Text in Form von Rückfragen und Stellungnahmen. Wenn die eigenständige Lektürearbeit mit vertiefender Arbeit im Kurs verklammert wird, lassen sich Lernende meist intensiv darauf ein. Lesetagebücher bieten eine reflektorische Hilfestellung für die Ganzschriftlektüre, so dass präzisere Fragen in das Unterrichtsgespräch eingehen. Bei Obst und Miethke gibt die Lehrperson auf Kriterien bezogen Rückmeldung auf jedes Tagebuch und z.T. auch Antworten auf die dort formulierten Fragen (Obst, 2007; Miethke, 2015).

Reinert geht mit seinen Arbeitsheften darüber hinaus: Sie bieten eine Art schülergerechten Text- und Bildkommentar, der Zugänge zur häuslichen Lektüre der Ganzschrift eröffnet. Durch das Heft begleitet wird auch die Behandlung zentraler Themen der Ganzschrift im Unterricht. Während des gesamten Prozesses werden eigene Eindrücke festgehalten und korrespondierende Materialien gesammelt. Als Ergebnissicherung entsteht so entweder ein persönliches Portfolio oder eine Präsentation für die Lerngruppe (Reinert, 2007; Reinert, 2012).

Mirjam und Ruben Zimmermann/Frederike Weißphal werten die Schülerfragen in Lesetagebüchern einer elften Klasse zum Matthäusevangelium qualitativ aus und bündeln sie. Diese Zusammenstellungen werden auf bestehende ‚Codes‘ der Struktur des Evangeliums bezogen und es zeigt sich, dass die Jugendlichen durchaus von den Spannungen und daran anschließenden Grundentscheidungen des Evangelisten in zentralen Themenfeldern angesprochen werden. Das didaktische Potenzial der Schülerfragen wird genutzt, um weitere Unterrichtsideen zur Ganzschrift zu entfalten. Hier wird bereits ein Weg zu einer schülerorientierten Erarbeitung biblischer Ganzschriften gewiesen (Zimmermann/Zimmermann/Weißphal, 2012).

2.3. Dialogische Bibeldidaktik

Dern stellt hermeneutische Fragen der Schülerinnen und Schüler ins Zentrum der unterrichtlichen Auseinandersetzung mit biblischen Ganzschriften. Nach seiner dialogischen Bibeldidaktik arbeitet die Lerngruppe selbstständig mit dem Endtext eines Buches. Der Dialog soll dabei mit dem Wort Gottes und untereinander geführt werden, so dass es zu einer Horizontverschmelzung und damit zum Verstehen des biblischen Textes auf dem Hintergrund der Lebenswirklichkeit Jugendlicher kommt. Ziel ist der Aufbau von Deutungs- und Partizipationskompetenz im Dialog mit der und über die Bibel als Fundament evangelischer Bildung (Dern, 2013b, 80-91).

Konkret sitzt die Lerngruppe einschließlich der Lehrperson in einem Kreis an Tischen. Reihum liest jeder so viel Verse vor, wie er meint, dass sie einen Zusammenhang bilden; alle anderen können dazu Fragen stellen oder Kommentare abgeben. In Gruppenarbeit generieren die Schülerinnen und Schüler zu den gelesenen Texten hermeneutische Fragen, die ein erstes Reflektieren anzeigen und auf tieferes Verstehen zielen. Daraus wird eine Auswahl getroffen; die ausgewählten Fragen werden im Plenum gründlich diskutiert. Wer die Frage ursprünglich eingebracht hat, kann abschließend zum Diskussionsprozess Stellung nehmen. Kontinuierlich führen die Schülerinnen und Schüler ein Lesetagebuch, in dem sie den Verstehensprozess reflektieren und weitere hermeneutische Fragen stellen.

Durch ihre zur Diskussion gestellten Fragen können die Schülerinnen und Schüler die Inhalte des Religionsunterrichts weitgehend mitbestimmen, im Rahmen eines echten Gesprächs, das verschiedene Richtungen nehmen kann. Durch die Ermutigung zum kritischen Fragen werden biblische Bücher zwar „vom Thron geholt“, gewinnen in der Diskussion der Schülerinnen und Schüler aber als Ausdruck der Erfahrung transzendenter Wirklichkeit auch neue Autorität. Lehrerinnen und Lehrer treten nach diesem Konzept primär als Moderatoren auf, die auf den fachlichen Rahmen achten, Fragestellungen zugespitzt zusammenfassen, thematische Verbindungen aufzeigen und zur Suche nach eigenen Lösungen ermutigen. Gelegentlich geben sie komplexere Aufgabenstellungen ein, unter denen sich Lerngruppen mit dem schon gelesenen Text befassen (Dern, 2013b, 106-107).

Die Auseinandersetzung mit den Ganzschriften erfolgt weitgehend mit synchron arbeitenden Methoden, die es erlauben, den Endtext als theologischen Entwurf zu würdigen und einen Vergleich mit anderen biblischen Entwürfen erleichtern. Das diachrone Moment kommt dann zur Sprache, wenn die Schülerinnen und Schüler auf Fragen stoßen, die historisch-kritisch bearbeitet werden müssen, sei es durch Schülerreferate oder durch gezielte Lehrerinputs (Dern, 2013b, 92-94;108). Dern hat diese Form der Ganzschriftlektüre mit quantitativen und qualitativen Methoden ausgewertet und kommt zu dem Ergebnis: Sie weckt das Interesse der Schülerinnen und Schüler, weil sie die Möglichkeit haben, dem biblischen Text unverstellt zu begegnen und darüber sich selbst zu begegnen. Aus einer kommunikativ geübten Lerngruppe heraus werden zentrale theologische Themen zur Sprache gebracht (Dern, 2013b, 164-193). Selbstkritisch stellt Dern allerdings fest, dass die Ergebnissicherung und eine auf Progression ausgerichtete Themenbündelung hier schwach ausgeprägt sind (Dern, 2013b, 189-216). Dies ließe sich nur durch die Einführung eine Meta-Ebene beheben, die auf Kategorienbildung ausgerichtet ist und Aussagen in übergeordnete Systeme integriert. Dazu sind weiterreichende didaktische Konzepte nötig.

2.4. Erschließungsprozesse zwischen lernendem Subjekt und der Bibel als Subjekt

Wiemer zeichnet seine Überlegungen zur Lektüre eines ganzen biblischen Buches in komplexe religionsdidaktische Konzepte ein und entfaltet dies exemplarisch am Galaterbrief. Schon die Auseinandersetzung mit diesem einzelnen Paulusbrief in der Sekundarstufe I eröffne einen Resonanzraum für weitere biblische Texte im Religionsunterricht. Greifbar werde dabei die fundamentale Frage, was man eigentlich sage, wenn man sich „Christ“ nenne (Wiemer, 2017, 343-346). Der Galaterbrief gewinne dabei für Jugendliche Relevanz, weil er sie zu eigenen Antworten auf eigene echte Fragen befähige. Wiemer fühlt sich einem moderaten Konstruktivismus im Rahmen einer Theologie von, mit und für Jugendliche verpflichtet. Die Orientierung am lernenden Subjekt wird von ihm so weit gedacht, wie sie Spielräume für die individuelle Aneignung von Inhalten und die persönliche Positionierung gewährleistet. Dies geschieht immer in historischen und sozialen Kontexten anderer Konstrukte, angesichts derer sich eigene Perspektiven erst bilden. Insofern nimmt Wiemer eine Theologie für Jugendliche genauer in den Blick (→ Jugendtheologie). Sie solle inhaltsbezogen einen eigenen Zugang zur biblischen und theologischen Tradition erschließen und prozessbezogen einen eigenen Umgang mit dieser Tradition eröffnen, und zwar in enger Anlehnung an das Fragen und Denken Jugendlicher. Der Galaterbrief etwa eigne sich dafür besonders, weil er einerseits theologische Streitfragen prägnant herausstelle und andererseits zur Diskussion über die Relevanz einer christologischen Grundorientierung herausfordere (Wiemer, 2017, 240-246). Wiemer fragt in Anlehnung an Müller nach „Schlüsseln zum Galaterbrief“, die dessen „Schlüsselfunktion für die Bibel“ in Aktion treten lassen (Wiemer, 2017, 263). Bei der Suche nach diesen Schlüsseln greift er auf das Tübinger Modell der Elementarisierung (Karl Ernst Nipkow/Friedrich Schweitzer) (→ Elementarisierung) zurück, das mit seinen fünf Dimensionen die für eine gelingende wechselseitige Erschließung grundlegenden Aspekte aufzufinden erlaube:

Elementare Zugänge: Der Galaterbrief werde für eine 7. Klasse zugänglich, weil er im Schnittfeld der Themen Konflikte mit Autoritäten, Identitätsfindung und religiöse Orientierung argumentiere.

Elementare Erfahrungen: Die Vitalität der galatischen Diskussion um die Zugehörigkeit zu Gott und die Werbung des Paulus für das Ende von Abgrenzungen in der neuen Welt Christi gewinne Relevanz für Fragen und Suchen der Jugendlichen.

Elementare Lernwege: Der dialogisch angelegte Text verlange geradezu offene, kooperative Unterrichtsarrangements wie handlungsorientierte Plan- und Rollenspiele, die Raum bieten für eine Bandbreite an Deutungen. Jugendliche werden zu selbstbewusster eigener Auslegung ermutigt und erkennen deren Relevanz für den Umgang mit dem Text.

Elementare Wahrheiten: Hinter den im Brief formulierten Wahrheitsansprüchen und Überzeugungen werde Paulus als Person deutlich wahrnehmbar. Dies erleichtere den Anschluss an existenzielle Fragen der Jugendlichen und ihre Positionierungen.

Elementare Strukturen: Im Kern könne mit dem Galaterbrief die Einsicht in die Bedeutung der Orientierung an Jesus Christus erreicht werden. Die damit verbundene neue Sichtweise der Existenz des Menschen vor Gott bekräftigt Paulus biographisch und biete damit einen Schlüssel zur Bibel insgesamt an (Wiemer, 2017, 280-314).

Diese Einsichten werden in eine methodisch vielseitige Unterrichtsskizze integriert, die entsprechenden Kompetenzerwartungen eines aktuellen gymnasialen Lehrplans gerecht werden kann. Insgesamt wird bei Wiemer die Stimme des Paulus in seinen Bezügen bibeldidaktisch differenziert aufgenommen. Die Stimmen der Jugendlichen und ihre Lebenswelten kommen allerdings nicht in gleicher Weise zum Tragen.

3. Gewinn durch die Arbeit mit biblischen Ganzschriften

Dass Schülerinnen und Schüler am Ende der Sekundarstufe I sich selbstständig in der Bibel orientieren können, gehört zu den grundlegenden Kompetenzerwartungen in den meisten Lehrplänen für den Religionsunterricht. Nach wie vor wird man sich dieser Erwartung durch die Behandlung begrenzter Perikopen annähern, die wichtige Gedanken biblischer Überlieferung ansprechen und für gegenwärtige Fragen offen sind. Daneben sollte verstärkt die Lektüre ganzer biblischer Bücher treten, weil sich dadurch größere Zusammenhänge sichtbar machen lassen, Verknüpfungen erkennbar und Spannungsbögen deutlich werden. Die Bibel erschließt sich als Buch aus vielstimmigen Zeugnissen des Glaubens. Viele inhaltliche Schwerpunkte aktueller Lehrpläne lassen sich mit biblischen Ganzschriften verbinden, die durchaus methodisch vielfältig und schülerorientiert erschlossen werden können. Lesetagebücher lassen sich über mehrere Einheiten und Jahrgänge hinweg führen, was metakognitiv den eigenen Erkenntnisprozess veranschaulicht. Grundlegende Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung sollten so in den Unterricht einfließen, dass sie das Verständnis eines biblischen Buches erleichtern und zu Einsichten in intertextuelle Bezüge verhelfen.

Die Gefahr bei der Lektüre biblischer Ganzschriften im Religionsunterricht besteht darin, dass es bei einer bloßen Elementartheologie ohne nachhaltige Relevanz für die Lernenden bleibt. Demgegenüber sind dialogische und handlungsorientierte Lernwege notwendig, so dass es tatsächlich zu einer wechselseitigen Erschließung von Person und Sache kommt, die dem Anspruch der Elementarisierung gerecht wird.

Literaturverzeichnis

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  • Dressler, Bernhard/Schroeter-Wittke, Harald (Hg.), Religionspädagogischer Kommentar zur Bibel, Leipzig 2012.
  • Johannsen, Friedrich/Rosenhangen, Bettina, Jona lesen und deuten. Kopiervorlagen für den Religionsunterricht ab Klasse 10, Göttingen 2009.
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  • Müller, Peter, Mit Markus erzählen. Das Markusevangelium im Religionsunterricht, Stuttgart 1999.
  • Obst, Gabriele, „Anfangs habe ich gemurrt … wie die Israeliten in der Wüste. Erfahrungen mit Bibellesetagebüchern (Sek II), in: entwurf 2/3 (2007), 46-50.
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  • Sohns, Ricarda, Das Markusevangelium. Das biblische Buch als Ganzschrift, in: Religion betrifft uns 1 (2013), 1-32.
  • Wiemer, Axel, Der Galaterbrief im Religionsunterricht. Die Theologie des Paulus in ihrer Zeit und im Dialog mit Jugendlichen heute, Göttingen 2017.
  • Zimmermann, Mirjam/Zimmermann, Ruben/Weißphal, Frederike, Das Matthäusevangelium – Fragen über Fragen, in: Dressler, Bernhard/Schroeter-Wittke, Harald (Hg.), Religionspädagogischer Kommentar zur Bibel, Leipzig 2012,413-432.

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