Deutsche Bibelgesellschaft

Galaterbrief, bibeldidaktisch, Sekundarstufe

(erstellt: Februar 2019)

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1. Grundsätzliches

1.1. Der Galaterbrief im Religionsunterricht

Ein bibeldidaktischer Artikel über den Galaterbrief überrascht vielleicht. Niemand würde heute (wie noch Lähnemann, 2003, 286-293) zur Illustration bibeldidaktischer Grundfragen ausgerechnet diesen als Beispiel wählen. Wenn er im Religionsunterricht begegnet, dann in Form einzelner Verse als Belege für bestimmte Anliegen oder in Aufnahme einzelner erzählender Passagen des Briefes. Z.B. wird Gal 3,28 öfter für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Gal 5,1 für die christliche Freiheit oder Gal 6,2 als ethische Grundregel angeführt, außerdem findet sich Gal 1,13-17 als Eigenbericht über die Berufung, Gal 2,1-10 als Vergleichstext zur Darstellung des Apostelkonvents in Apg 15 oder Gal 2,11-14 als exemplarischer Konflikt der Frühzeit des Christentums. Aber auch in solchen Fällen legen Schulbücher in aller Regel einen durch die Paulusdarstellung der Apostelgeschichte bestimmten Erzählrahmen zugrunde und rezipieren nur selten. Einsichten der sogenannten New Perspective on Paul (Büttner/Dieterich/Herrmann, 2008, 63-77; siehe unten 2.2.). Karsch/Rasch (2013, 363) stellen daher die kritische Frage: „Von welchem Paulus reden wir eigentlich?“

1.2. Chancen einer Arbeit mit Paulusbriefen als Briefen

Gegenüber der beschriebenen unterrichtlichen Praxis können einige Einsichten zumindest nachdenklich stimmen: Die authentischen Paulusbriefe sind die ältesten bekannten Texte des Christentums. Sie eröffnen Einblicke in Fragen und Positionen der Gläubigen in dieser Frühzeit und sind damit Dokumente der Identitätsfindung des Christentums – aus einer Zeit, die noch nicht einmal die Bezeichnung „Christ“ kannte (Karsch/Rasch, 2013, 368). Sie sind die einzigen Texte des Neuen Testaments mit einem identifizierbaren Verfasser, auch die einzigen Zeugnisse einer Begegnung mit dem auferstandenen Christus aus erster Hand (Zeigan, 2016, 218-220). Schließlich sind sie bis heute immer wieder wichtiger Anstoß für gegenwärtiges christliches Denken. Um all diese Impulse auch für den Religionsunterricht wahrnehmen zu können, ist ein Blick auf die Briefe als Briefe mindestens hilfreich, wenn nicht nötig (Jeska, 2008).

1.3. Herausforderungen für Grundschule und Sekundarstufe

Die Paulusbriefe sind durch ihre Sprachgestalt sperriger als erzählende Passagen der Bibel. Außerdem stellen sie nur einen Teil der Kommunikation zwischen Paulus und seinen Gemeinden dar, für ihr Verständnis sind also historische Hintergrundinformationen nötig. Beides ist schon für Lehrkräfte herausfordernd, für Schülerinnen und Schüler erst recht (Jeska, 2011, 77).

So überrascht es nicht, dass sich kaum unterrichtsbezogene Vorschläge für eine Behandlung der Paulusbriefe in der Grundschule finden – in Schulbüchern seit einer über 20 Jahre alten Einheit, die u.a. den Römerbrief aufnahm (Steinwede, 1996, 84-89; Steinwede, 1997, 250-266), überhaupt nicht mehr. Kurzfassungen einiger Paulusbriefe, u.a. des Galaterbriefs, und Anregungen zu einem darauf bezogenen Paulus-Portfolio bietet die Grundschul-Bibel (Wiemer, 2014a, 272-283; Wiemer, 2014b, 211-216; zu Paulusbriefen in Kinderbibeln vgl. Korneck, 2012, 132;136-140). Meist aber wird Paulus in der Grundschule, wenn überhaupt, nach Erzählmotiven der Apg thematisiert (vgl. mit etlichen Impulsen für einen Einbezug auch der Briefe Cebulj, 2016).

Der weitere Artikel konzentriert sich daher auf die Sekundarstufe. Da der Galaterbrief auch dort kein typischer Unterrichtsgegenstand ist, setzen die Überlegungen mit einer exegetischen Skizze ein (ausführlicher: Sänger, 2016; detailliert: Wiemer, 2017a, 18-201). Die Frage nach den Elementaren Wahrheiten steht hingegen am Ende, um den Artikel mit dem Blick auf mögliche individuelle Ergebnisse eines entsprechenden Unterrichts abzurunden.

2. Elementare Strukturen

2.1. Situation des Galaterbriefs

Der Brief enthält keine konkreten Informationen zur Situation des Paulus oder zu Einzelpersonen in der Gemeinde, weshalb beide nur mit einem gewissen Spielraum zu bestimmen sind. Die Adressaten könnten in der Landschaft Galatien, also der Gegend um das heutige Ankara, oder weiter südlich in den größeren Städten der römischen Provinz Galatien zu suchen sein (Apg 13-14). Datiert wird der Brief meist auf ca. 54 n. Chr., doch werden auch frühere und spätere Ansetzungen diskutiert.

2.2. Anliegen des Galaterbriefs

Paulus wendet sich gegen Forderungen judenchristlicher Missionare, die von nichtjüdischen galatischen Gemeindegliedern als Konsequenz des Glaubens an Jesus Christus den Übertritt zum Judentum verlangten. Sie dürften mit dem Bund Gottes mit dem Volk Israel bzw. Abraham argumentiert haben. Für Paulus hingegen entscheidet sich alles am Glauben an Jesus Christus, mit dessen Auferstehung die neue Schöpfung angebrochen ist (Gal 6,15). Der Galaterbrief bedenkt also den von der New Perspective on Paul beschriebenen Entdeckungszusammenhang der paulinischen Lehre von der Rechtfertigung: Können Nichtjuden zur Gemeinde der Christusgläubigen gehören, ohne zum Judentum über- und damit in den Bund Gottes mit seinem erwählten Volk einzutreten? Die paulinische Kernthese Gal 2,16 setzt den „Glauben an Jesus Christus“ markant und deutlich gegen die „Werke des Gesetzes“. Paulus begründet so das an keine weiteren Voraussetzungen geknüpfte Miteinander in der christlichen Gemeinde: Die Einhaltung der Speisegebote und die Beschneidung, also unterscheidende Merkmale jüdischer Identität, haben angesichts der Zeitenwende in Kreuz und Auferstehung Christi ihre Bedeutung verloren. Diese Einsicht verteidigt Paulus als Freiheit und „Wahrheit des Evangeliums“ (Gal 2,5.14), auch in Gestalt einer grundsätzlichen Relativierung der Geltung des Gesetzes, das keinen Weg zum Heil darstellt.

2.3. Rhetorik des Galaterbriefs

Diese Linie verficht Paulus in scharfer Konfrontation mit seinen Gegnern. Nur in diesem Brief verzichtet er auf einen Dank oder ein Gotteslob für die Gemeinde – stattdessen setzt er mit Verwunderung über die Entwicklung in Galatien und einem doppelten Fluch über seine Gegner ein (Gal 1,6-9). Die galatischen Gemeinden spricht Paulus in 2. Person an, er tadelt und umwirbt sie gleichermaßen und bringt sie auch rhetorisch in Distanz zu seinen Gegnern, indem er über diese ausschließlich in 3. Person spricht. „Ich“ (Paulus) möchte „euch“ (die Galater) vor „denen da“ (den Gegnern) retten: Das ist das Signal dieser Rhetorik. Gerade weil der Apostel nicht persönlich in Galatien eingreifen kann, nutzt er alle rhetorischen Optionen bis hin zum Vorschlag, wer die Beschneidung fordere, solle sich doch gleich selbst kastrieren lassen (Gal 5,12). Es ist wichtig, bei dieser Schärfe nicht aus dem Blick zu verlieren, dass Paulus selbst Jude und stolz darauf war – und dass er im Ernst meint, dass dem Glauben die Liebe entspricht (Gal 5,6.13-15).

2.4. Theologische Akzente des Galaterbriefs

Zunächst untermauert Paulus in Gal 1-2 die göttliche Autorität des von ihm verkündigten Evangeliums durch drei biographische Erinnerungen: Seine Berufung vor Damaskus zeigt dessen göttlichen Ursprung (Gal 1,13-24), der Apostelkonvent in Jerusalem dessen vorbehaltlose Bestätigung (Gal 2,1-10) und der Streit in Antiochia dessen Bewährung im Konflikt (Gal 2,11-21). Da es in Galatien um einen ganz ähnlichen Konflikt geht, mündet die Schilderung der antiochenischen Szene in die Kernthese des Briefs (Gal 2,15-21): Allein der Glaube an Jesus Christus begründet die Gerechtigkeit eines Menschen, d.h. ein Leben vor, für und mit Gott, das an der durch Christi Kreuz und Auferstehung begonnenen Neuschöpfung teilhat. Der theologische Hauptteil Gal 3,1-5,12 untermauert diese These in mehreren Anläufen: Paulus erinnert die Galater an ihre Anfänge im Glauben (Gal 3,1-5), deutet die Abrahamverheißung auf dessen geistliche Nachkommenschaft im Glauben an Jesus Christus (Gal 3,6-4,7), setzt sich kritisch mit Jerusalem auseinander (Gal 4,21-31) und stellt die Freiheit in Christus gegen die Beschneidungsforderung (Gal 5,1-12). In alledem wird deutlich, dass und wie Paulus und die Christusgläubigen seiner Zeit mit der Frage ringen, ob es so etwas wie eine christliche Identität gibt und wie diese zu beschreiben ist. Dem dient auch der paränetische Teil Gal 5,13-6,10 mit dem Nachweis, dass die Freiheit im Glauben nicht gegen das Gesetz steht, weil sie dessen eigentliche Forderung in der Liebe erfüllt. Der Briefschluss Gal 6,11-18 bündelt diese Anliegen in einer letzten, zugespitzten Werbung um die Galater.

3. Elementare Zugänge

3.1. Interessen der Jugendlichen

Für eine Ansetzung einer Unterrichtseinheit zum Galaterbrief in der 7. Klasse spricht u.a., dass sich hier in vielen Bildungs- und Lehrplänen Bezugnahmen auf Paulus finden und dass davor die Antike Thema im Fach Geschichte war. In diesem Alter gewinnt eigenes Fragen nach Orientierung und Identität an Gewicht (Woyke, 2016, 2.2). Damit verbunden verliert die Bibel an Ansehen, wird aber anfangs der 7. Klasse noch einigermaßen akzeptiert (Böhm/Schnitzler, 2008, 107). In diesem Schnittfeld ist das profilierte, fast erschreckend selbstgewisse Eintreten des Paulus für seine Sicht einer christlichen Identität gut positioniert: Der Brief bietet Anschlüsse für die Fragen der Jugendlichen und fordert sie zu eigener Positionierung auf. Seine Dialogizität bietet einen anderen Eindruck von der Bibel als deren Erzählungen und fördert einen bewussten eigenen, auch kritischen Umgang mit ihr. Auch im Rahmen der Arbeit mit Konfirmandinnen und Konfirmanden bzw. Firmlingen könnte eine Beschäftigung mit dem Brief interessant sein.

3.2. Den Brief als Brief wahrnehmen

Um die Chancen der Arbeit mit einem Brief auszunutzen, ist es hilfreich, die Schülerinnen und Schüler die Perspektive der galatischen Gemeinden einnehmen zu lassen. Sie stehen vor der Wahl, entweder Paulus oder seinen Gegnern zu folgen, sind also unmittelbar angesprochen und zugleich aufgefordert zu eigener Reaktion. So bietet der Brief geradezu eine Steilvorlage für eine rezeptionsästhetische, also am Verständnis der Leserinnen und Leser orientierte Bibeldidaktik (Fricke, 2012; → Bibeldidaktik, Grundfragen, 9.). Die Einfühlung in diese Situation lässt sich durch einen erzählenden Einstieg stärken (siehe unten 5.1). Es empfiehlt sich zudem, den Brief nicht in der Bibel aufzuschlagen (so dass er bereits als kanonisierter Text erscheint), sondern wirklich als Brief, z.B. in Form einer Schriftrolle zu präsentieren. Die Erstellung einer entsprechenden Version des Galaterbriefs gibt auch Gelegenheit, die sprachliche Hürde abzusenken: Die Textgestalt könnte z.B. den kurzen Sätzen der BasisBibel folgen (die in der Onlineversion auch dem angestaubten Image der Bibel entgegen wirken kann) oder einer knapperen eigenen Paraphrase. Dabei kann auch schon eine Auswahl aus dem Brief vorgenommen werden, die in jedem Fall die Rahmenteile als Textsignale für die kommunikative Situation enthalten sollte (Zeigan, 2016, 210).

4. Elementare Erfahrungen

4.1. Jugendliche Akzentuierung eigener Glaubensvorstellungen

Die Frage nach der Verbindung eigener Erfahrungen mit der biblischen Überlieferung ist wohl entscheidend für das nachlassende Interesse an der Bibel im Jugendalter (Bosold, 2013, 631): Für die Überprüfung und Entwicklung eigener Glaubenshaltungen ist es wichtig, Distanz gegenüber Autoritäten einnehmen zu können, die irgendwie zu wissen scheinen, was man oder frau glauben soll. Dass Jugendlichen die gelebte Toleranz im Umgang mit Freundinnen und Freunden anderer oder keiner religiöser Orientierung wichtig ist, verstärkt ihre Skepsis gegenüber Instanzen, die für ein definiertes konfessionelles Profil stehen (Calmbach/Borgstedt/Borchard/Thomas/Flaig, 2016, 335-376; → Religiosität, Jugendliche).

4.2. Selbstfindung des Christentums

In dieser Konstellation ist es wichtig, den Galaterbrief nicht als kanonische Autorität einzuspielen, sondern als Diskussionsbeitrag in seiner ursprünglichen, historisch offenen Situation wahrzunehmen (siehe oben 3.2): Zur Debatte steht die Frage, ob und wie sich eine christliche Identität beschreiben lässt. Paulus als Figur kann dabei zugleich faszinieren und abstoßen: Interessant ist seine Jesusbegegnung als Quelle seiner Selbstgewissheit, zumal in Form des Berichts Gal 1,15f., der anders als Apg 9 bemerkenswerte „Leerstellen“ lässt (Schiefer-Ferrari, 2008, 14). Sein konfrontativer Umgang mit den Gegnern löst aber Irritation aus. Wird Paulus so in seiner „Menschlichkeit und Fragwürdigkeit dialogisch inszeniert“ (Mendl, 2015, 171), fördert das eine differenzierte Stellungnahme der Schülerinnen und Schüler (→ Modelllernen). Dabei können Impulse des Galaterbriefs fruchtbar werden für die individuelle Klärung der Frage, was der Glaube für das Selbstverständnis bedeutet. Die scharfe Abgrenzung des Apostels von seinen Gegnern im Namen der „Wahrheit des Evangeliums“ (Gal 2,5.14) ist im Kontext unseres heutigen ökumenisch und interreligiös offenen Miteinanders zunächst befremdend, gewinnt aber z.B. im Vergleich mit der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer Peer-Group an Plausibilität (Lorenzen/Bickelmann, 2013). Die Erkenntnis, dass Paulus gerade durch diese Grenzziehung die Zusammengehörigkeit der Gemeinde sichern will, regt ein Fragen nach Grund und Grenze von Offenheit an. Nicht zuletzt der Nachvollzug der in Gal 2 diskutierten Konstellationen (Apostelkonvent; Konflikt in Antiochia) bietet Möglichkeiten für eine Bearbeitung dieser Fragen.

5. Elementare Lernwege

Über die Frage nach den Zugängen und Erfahrungen wurden verschiedene Punkte identifiziert, an denen eine Auseinandersetzung mit dem Galaterbrief interessant erscheint. Um die Verbindung des eigenen Fragens mit den Positionen des Briefes auch methodisch zu akzentuieren, empfehlen sich Arbeitsformen, die einerseits empathischen Nachvollzug, andererseits eigene Stellungnahme fordern und fördern. Mit anderen Worten: Die Begegnung mit dem Galaterbrief ist Impuls für ein Theologisieren mit Jugendlichen (→ Jugendtheologie).

5.1. Empathischer Nachvollzug

Die Einfühlung in die galatische Situation kann durch Erzählungen gefördert werden. Prinz (2008, 87-102) gewinnt konkrete Aspekte dafür durch Anschluss an Apg 13-14 (Gemeinden im Süden der Provinz Galatien). Bosold (2009, 13f.) bietet eine Erzählung aus der Perspektive Antiochia. Andere Erzählvorschläge entwerfen fiktive Szenen in der Landschaft Galatien (im Norden der Provinz), die sich mit der Lektüre von Abschnitten des Galaterbriefs verbinden lassen (Venetz/Bieberstein, 1995, 175-215; Rommel, 1988). Allerdings sind diese relativ stark mit Deutungen verbunden: Indem Figuren in Galatien den Brief rezipieren, wird der Spielraum für eine eigene Positionierung der Schülerinnen und Schüler begrenzt. Soll der Akzent auf letzterer liegen, ist es hilfreich, auch in der Erzählung die Offenheit der Diskussion um die Identität des Christentums zu akzentuieren (Wiemer, 2017b). Deurloo (1998, 115-127) schließlich entwirft drei Erzählungen um die Entstehung von Abschnitten des Briefs.

Zeit und Situation in Galatien können durch Bildmaterial wie Fotografien von Ausgrabungen oder Rekonstruktionszeichnungen z.B. aus Welt und Umwelt der Bibel (Bauer/Hecht/Kaiser, 2001) oder einschlägigen Reiseführern (Bull, 2012) illustriert werden. Einen hilf- und detailreichen Einblick in eine hellenistische Stadt eröffnet eine Korinth-Zeichnung (Katholisches Bibelwerk e.V., 2003; als Folie in Lamp/Meurer, 1999, sowie bei Rupp, 2008, 28).

Auf der anderen Seite ist eine Annäherung an die Figur des Paulus wichtig. Eine im Raum präsente Zeichnung als Projektionsfläche für verschiedene Aspekte kann hierfür hilfreich sein (Merkel, 2011). Eigene Empathieleistungen können auch in Form eines Interviews Ausdruck finden: Zunächst stellen die Schülerinnen und Schüler eigene Fragen an Paulus, z.B. nach der Begegnung mit dem provokanten Einstieg des Briefs (Gal 1,1-9). Die Lehrkraft wählt daraus typische Fragen aus und lässt zu diesen nach Erarbeitung eines weiteren Abschnitts (z.B. Gal 1,10-24) in Partnerarbeit fiktive Interviews erstellen, in denen die Jugendlichen selbst mögliche Antworten des Paulus formulieren.

Plan- und Rollenspiele (→ Planspiel) werden von Jugendlichen oft engagiert angenommen und können so zu tiefen Einsichten führen. Das Spektrum der Möglichkeiten reicht vom einfachen Spiel einer Diskussion in der galatischen Gemeinde zu ausgewählten Versen des Galaterbriefs über einen szenischen Nachvollzug der Konstellation des Streits in Antiochia bis zu einem groß (Doppelstunde) angelegten Apostelkonvent: Nach Erarbeitung entsprechender Rollenhinweise treten Paulus, Barnabas und Titus für Antiochien, Petrus, Jakobus und Johannes für Jerusalem und zwei Pharisäer mit der Forderung nach Beschneidung vor der Gemeindeversammlung auf (siehe unten 6.).

5.2. Eigene Stellungnahme

Die zuletzt genannten methodischen Möglichkeiten setzen starke Impulse für die Formulierung einer eigenen Meinung nach dem Nachvollzug einer vorgegebenen Rolle. Dazu sollte zumal bei diesem Thema durchgängig eingeladen werden, z.B. indem die Ergebnissicherung jeder Unterrichtsstunde auch auffordert, eine eigenen Einschätzung oder offene Fragen zu formulieren.

Gefördert wird diese Perspektive durch die Akzentuierung offener Diskussionen, durch Positionierungen und ähnliches deutlich. Unterstreichen lässt sie sich durch einen Abschluss der Einheit, in dem die Klasse als Kanonkommission darüber entscheidet, ob der Galaterbrief Teil der Bibel sein soll – als Arbeitsauftrag kann die Fiktion dienen, dass die Kirche die Bibel kürzen möchte und die Klasse um eine Expertise über den Galaterbrief bittet. Ein anderes mögliches Ende der Einheit besteht darin, die Schülerinnen und Schüler individuell einen eigenen Brief an Paulus bzw. nach Wahl an die Galater schreiben zu lassen (siehe unten 6.).

6. Elementare Wahrheiten

„Lieber Paulus, ich habe deinen Galaterbrief gelesen. Ich fand es sehr gut wie du dich für die Menschen eingesetzt hast, ebenfalls fand ich den Galaterbrief sehr interessant und spannend. In der Zeit, in der ich lebe, ist manches anders als bei dir. Also bei uns gibt es gar nicht mehr so viele Menschen, die so arg glauben, meistens glauben wir in Ruhe an Gott oder Jesus. Wenn ich dir eine Frage stellen darf: Wie wichtig ist dir Gott? Warum hast du dein Leben riskiert für Gott?“ Dieser Brief einer Siebtklässlerin (die kursiven Passagen stammen von ihr) zeigt am Ende einer Unterrichtseinheit, dass und wie Wahrnehmungen des Galaterbriefs mit eigenen Fragen und Klärungen verbunden werden können. Dazu gehört zentral die Frage nach der Bedeutung des Glaubens für die eigene Identität. Die zitierte Schülerin erkennt eine Differenz zwischen der eigenen Wahrnehmung und der paulinischen Position. Hierin wirken Impulse aus dem oben (5.1) skizzierten Planspiel zum Apostelkonvent nach: Die Lerngruppe hatte dabei entdeckt, dass die heutige Lösung – jede und jeder solle glauben, was sie oder er will – in der damaligen Situation nicht funktionieren konnte, was ein eigenes Fragen nach der Zusammengehörigkeit in der Gemeinde in Gang setzte (Wiemer, 2018, 148-151). Bei der Suche nach einer Lösung dieses Problems wurden auch intertextuelle Bezüge für die Jugendlichen plötzlich interessant: Warum ist die Beschneidung eigentlich so wichtig? Sie vollzogen also zunehmend auch die Argumentationen der verschiedenen Positionen nach, um sich differenziert mit ihnen auseinander setzen zu können. Auf eine ähnliche didaktische Konstellation zielt der Vorschlag von Zeigan (2016, 221-223), die Schlüsselbegriffe der Kernthese Gal 2,16 im Kontext der Szenen aus Gal 2 zu diskutieren. Wenn es auf die eine oder andere Weise gelingt, dass Paulus „verortet, verstanden und verinnerlicht“ wird (Jeska, 2008), führt die Begegnung mit ihm zu einer Vertiefung des eigenen theologischen Denkens und Urteilens – mit erkennbarer Relevanz für die eigene Suche nach Orientierung und Identität.

Literaturverzeichnis

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