Herz, bibeldidaktisch
(erstellt: März 2024)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.400015
1. Lebensweltliche Zugänge
Alltagssprachlich sind wir an den Umgang mit einem vielgestaltigen Herz-Begriff gewöhnt. Für uns selbstverständlich ist der anatomische, physiologische und medizinische Gebrauch, nach dem wir mit Herz das zentrale und lebenswichtige Körperorgan (→ Leib und Körper
In der → Lebenswelt
Als positiv emotional aufgeladenes Symbol wird das Herz extensiv auch in der Werbe-Industrie zu Vermarktungszwecken verwendet. So kann man das Herz als graphische Darstellung im Zusammenhang mit den unterschiedlichsten Produkten und Angeboten entdecken: Schokoriegel für Kinder, Pralinen, Joghurt, Nuss-Nougat-Brotaufstrich, Plätzchen, Müsli, Baby-Windeln, Matratzen, Blumen (u.a. am Valentinstag), das Angebot einer Partnerschafts-Agentur, die Flatrate eines Medienanbieters, das Billig-Angebot einer Fluglinie, usw.
Stehende Ausdrücke wie „herzliche Grüße“, „herzliche Glückwunsche“ oder „herzliches Beileid“ werden sprachwissenschaftlich im Sinne eines abgeflachten Gebrauchs einzuschätzen sein, auch wenn in manchen Fällen und Konstellationen angenommen werden darf, dass diese Zusprüche möglicherweise doch „von Herzen“ kommen.
Für das Feld bibeldidaktischer Prozesse (→ Bibeldidaktik, Grundfragen
2. Biblisch-theologische Klärungen
Die aktuelle biblische Forschung hebt die Vokabel Herz als zentrale anthropologische Begrifflichkeit hervor (Janowski, 2018, 31-75; Krüger, 2009, 91-106; Frevel, 2009, 250-252; Stolle, 2005, 948-953). Für das Verständnis wesentlich ist, dass Herz zwar auch auf das Feld emotionaler Zustände, vor allem aber auf das Gebiet von Vernunft und Urteilsfähigkeit verweist (Kreuzer, 2014, 27-31; Berg, 2006, 121-132; Schroer/Staubli, 2005, 33-44). Denn nach biblischer Auffassung ist das Herz der Sitz von Denken und Urteilen, von Planen und Wollen. So heißt es z.B. über die Selbstberatung Abrahams: „er sprach in seinem Herzen“ (Gen 17,17
Über diese wesentlichen Funktionen hinaus wird Herz in vielen biblischen Texten regelrecht als die Mitte, das innerste Zentrum, als Personkern des Menschen begriffen (z.B. Dtn 11,18
Eng damit verbunden ist die biblische Auffassung, dass Gott die Herzen der Menschen kennt. Er kann den Menschen ins Herz blicken, er erkennt alle Regungen der Herzen. Gott weiß, was im Innersten der Menschen vorgeht, er kennt ihre Gedanken, er weiß um ihr Planen und Wollen (z.B. 1 Kön 8,39
3. Religionspädagogische Potenziale
Unter den vielen Möglichkeiten der Thematisierung des biblischen Herz-Verständnisses können für aktuelle religiöse Bildungsprozesse (→ Bildung, religiöse
Beide elementare Linien machen das Thema Herz zu einem hoch aktuellen und pädagogisch zeitgemäßen biblischen Lern- und Reflexionsgegenstand. Erleichtert wird der Zugang dadurch, dass biblisch das Phänomen Herz in einer Vielzahl von Texten, in einer Mannigfaltigkeit von Aspekten und im Zusammenhang mit unterschiedlichsten Themenbereichen zur Sprache kommt. Diese Vielfalt hat ihren inneren Grund im biblischen Menschenbild, das den Menschen in seiner Sozialität, als → Subjekt
Interdisziplinär darf in diesem Zusammenhang wahrgenommen werden, dass der Fähigkeit, ein „hörendes Herz“ zu entwickeln, gesellschaftlich (→ Gesellschaft
In verwandter Weise genießt das Motiv des Herzens auch im Feld der kommunikations- und dialogpraktischen Reflexion eine große Wertschätzung (Hartkemeyer/Hartkemeyer/Dhority, 2010, 79-83; zum Hintergrund Buber, 2021, 273-292): So wird z.B. als Grundbedingung für das Gelingen eines fruchtbaren und intensiven Dialogs die Fähigkeit herausgestellt, der Gesprächspartnerin bzw. dem Gesprächspartner mit „offenem Herzen“, d.h. mit Respekt und in grundlegender personaler Akzeptanz zuzuhören. Ergänzt wird dies im konkreten Prozess des Austauschs durch die Kompetenz, „von Herzen“ zu sprechen, was meint, dass man nicht redet, nur um sich „bemerkbar zu machen oder um rhetorisch zu brillieren“ (Hartkemeyer/Hartkemeyer/Dhority, 2010, 80), sondern spricht, um das auszudrücken, „was mir wirklich wichtig ist, was mich wesentlich angeht“ (Hartkemeyer/Hartkemeyer/Hartkemeyer, 2018, 123).
4. Bibeldidaktische Konkretionen
Auf knappem Raum sollen nachfolgend paradigmatisch einige didaktische Ansätze und Konkretionen skizziert werden:
- Um mit den Konturen, dem Charakter und den Spezifika des biblischen Herz-Verständnisses bekannt zu machen, kann sich für ältere → Schülerinnen und Schüler
in einem ersten Zugriff eine freie Begegnung mit einigen einschlägigen alttestamentlichen Worten und signifikanten Wendungen anbieten. Zum Beispiel: „Mein Herz, es grübelt bei Nacht, ich sinne nach, es forscht mein Geist“ (Ps 77,7 ); „Veränderung beginnt im Herzen“ (Sir 37,17 ); auch die Formulierung vom „hörenden Herzen“ (1 Kön 3,9 ). Was ist hier über das Herz ausgesagt? Welche Aspekte und Konnotationen schwingen mit?
Analog stehen für den Bereich der Grundschule (Klasse 3-4) ausgearbeitete Vorschläge zum Kennenlernen der Herz-Metaphorik bereit, die neben altersgemäß ausgewählten biblischen Texten auch Beispiele aus der Alltagssprache und ansprechende graphische Angebote vorsehen (Bayer-Wied, 2018, 26-33; Kurt, 2017, 50-54): So kann z.B. über Redewendungen und Sprichwörter ein Zugang zum Herz-Begriff eröffnet werden; es können einschlägige biblische Sätze unter kindertheologischen Vorzeichen erkundet und ausgeleuchtet werden; auch kann die Erzählung vom blinden Bettler Bartimäus (Mk 10,46-52) als Beispiel des richtigen Sehens, des „Sehens mit dem Herzen“ in den Blick treten: wie Jesus den blinden Bettler in seiner Notlage und in seinen berechtigten Wünschen richtig erkennt, so erkennt auch Bartimäus Jesus in seinem lebensförderlichen Wollen und in seinen Möglichkeiten richtig (Bayer-Wied, 2018, 26f.;31f.). - Das neutestamentliche Wort „Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz“ (Mt 6,21
) kann jüngere wie ältere Schülerinnen und Schüler dazu herausfordern, darüber zu reflektieren, was für sie in ihrem Leben wirklich wichtig ist, worauf sie sich stützen wollen, wonach sie streben wollen. Es bieten sich hier kinder- und jugendtheologische Einladungen (→ Kindertheologie ; → Jugendtheologie ) ebenso an wie stärker handlungsorientierte und gestalterische Settings (Reiß, 2006, 18-20; Heller, 2019). - Die von König Salomo an Gott geäußerte Bitte um ein „hörendes Herz“ (1 Kön 3,9
.12 ) kann weitreichende Impulse zum Nachdenken über Empathie, Hör- und Aufnahmebereitschaft sowie die persönliche Weltbeziehung liefern (Janowski, 2018, 44-48; Zenger, 1998, 27-43). Wie kann ich Phänomene der Welt, andere Menschen, (gegebenenfalls auch) Gott wahrnehmen? Wie kann ich angemessen auf das jeweils Wahrgenommene antworten?
Ein besonderes Augenmerk sollte in diesem Zusammenhang darauf gelegt werden, nicht bei allgemeinen Erwägungen stehen zu bleiben, sondern auch Möglichkeiten zu konkreten Resonanzerfahrungen zu eröffnen: Im Religionsunterricht der Oberstufe kann z.B. das Leben der jungen Jüdin Etty Hillesum, die am 30.11.1943 in Auschwitz ermordet wurde, zum Thema werden. Die Unterrichtsreihe von Sabine Mirbach (2022, 60-65) beabsichtigt, über das Kennenlernen von Tagebucheinträgen Hillesums einen möglichst authentischen Zugang zu jüdischem Leben unter den bedrückenden Umständen der NS-Herrschaft zu liefern (→ Judentum, als Thema christlich verantworteter Bildung). Unter dem Gesichtspunkt der Resonanz stehen die gedankenreichen Reaktionen Hillesums, ihr „hörendes Herz“, im Fokus, welche die Schülerinnen und Schüler mit hoher Aufmerksamkeit und Achtsamkeit erkunden sollen. Die vorgeschlagenen Reflexions- und Gestaltungsaufgaben sind dafür offen, das eigene Erleben mit Gedanken Etty Hillesums in Beziehung zu setzen und sich über die rezipierten Texte mit grundsätzlichen lebensrelevanten Fragen auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt kann die Unterrichtsreihe die Schülerinnen und Schüler dazu herausfordern, ihrer eigenen Lebenswelt in ähnlicher Weise mit einem „hörenden Herzen“ zu begegnen.
Für den Grundschulbereich sehen analoge Angebote zu Empathie und Resonanz deutlich anders aus, sind allerdings genauso wichtig: Im Horizont Globalen Lernens (→ Globales Lernen) können Schülerinnen und Schüler der Klasse 1-2 z.B. das Leben des afrikanischen Mädchens Maria erkunden (Kurt, 2022, 20-25). - Das Schma Jisrael (Dtn 6,4-9
) mit seinem Gebot, Gott „mit ganzem Herzen“ zu lieben, steht als basales Zeugnis alttestamentlicher Frömmigkeit und elementares Kennzeichen jüdischer Identität in vielfacher Weise ohnehin im Fokus aktuellen Religionsunterrichts. Der in Lk 10,25-37 vorliegende Textzusammenhang von Doppelgebot und Samariter-Gleichnis kann in jeder Schulstufe Anregungen dazu bieten, das Zuordnungsverhältnis von Gottesliebe, Nächstenliebe, Feindesliebe und Selbstliebe zu erkunden. Kann man die → Nächstenliebe als eine Konkretion von Gottesliebe verstehen? Was folgt dann daraus?
Literaturverzeichnis
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- Berg, Werner, Das Herz im altägyptischen und alttestamentlichen Denken, in: Geerlings, Wilhelm/Mügge, Andreas (Hg.), Das Herz. Organ und Metapher, Paderborn 2006, 107-132.
- Buber, Martin, Das dialogische Prinzip, Gütersloh 16. Aufl. 2021
- Frevel, Christian, Art. Herz, in: Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament 2. Aufl. (2009), 250-252.
- Gaarlandt, Jan G. (Hg.), Das denkende Herz. Die Tagebücher Etty Hillesums 1941-1943, Reinbek 31. Aufl. 2022.
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- Hartkemeyer, Martina/Hartkemeyer, Johannes F./Hartkemeyer, Tobias, Dialogische Intelligenz. Aus dem Käfig der Gedanken in den Kosmos gemeinsamen Denkens, Frankfurt a. M. 3. Aufl. 2018.
- Heller, Thomas, „Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz“. Eine religionsdidaktische Auseinandersetzung mit dem Geld unter Nutzung wirtschaftswissenschaftlicher, historischer, soziologischer, psychologicher, exegetischer und systematisch-theologischer Einsichten und Zugänge, Ungedruckte Habilitationsschrift, Jena 2019.
- Janowski, Bernd, Das Herz – ein Beziehungsorgan. Zum Personverständnis des Alten Testaments, in: Janowski, Bernd, Das hörende Herz, Göttingen 2018, 31-75.
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- Kurt, Aline, Das Symbol „Herz“, in: Kurt, Aline, Kinder entdecken christliche Symbole. Unterrichtseinheiten zum Sofort-Loslegen. Klasse 1-4 (Religion), Mülheim 2017, 50-54.
- Mirbach, Sabine, Etty Hillesum. Das denkende Herz, in: Institut für Religionspädagogik der Erzdiözese Freiburg (Hg.), Themen im Religionsunterricht. Sekundarstufe I und II, Bd. 19: Judentum, Freiburg 2022, 60-65.
- Reiß, Annike, Woran du dein Herz hängst … Impulse für das theologische Gespräch mit Jugendlichen und Erwachsenen, in: Praxis Gemeindepädagogik 69 (2006) 2, 18-20.
- Rosa, Hartmut, Demokratie braucht Religion. Über ein eigentümliches Resonanzverhältnis, München 2022.
- Schroer, Silvia/Staubli, Thomas, Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 2. überarb. Aufl. 2005.
- Stolle, Volker, Art. Herz (καρδία), in: Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament (neubearb. Sonderausgabe 2005), 948-953.
- Tanner, Klaus, „Ein verstehendes Herz”. Über Ethik und Urteilskraft, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 56 (2012) 1, 9-23.
- Weihs, Alexander, Jesus, der Herzenskenner. Die καρδία-Motivik als Schlüssel zum Verständnis von Mk 2,1-12, in: Biblische Zeitschrift 62 (2018) 1, 32-62.
- Zenger, Erich, „Gib deinem Knecht ein hörendes Herz!“. Von der messianischen Kraft des rechten Hörens, in: Vogel, Thomas (Hg.), Über das Hören. Einem Phänomen auf der Spur, Tübingen 2. Aufl. 1998, 27-43.
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