Josef, bibeldidaktisch, Sekundarstufe
(erstellt: März 2023)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Josef_bibeldidaktisch_Sekundarstufe.201095
„Josef“ gilt traditionell als ein ausgesprochenes Thema der Primarstufe (vgl. Kraft, 2018, 319; bereits Kabisch, 1910, 165f.;174) → Josef, bibeldidaktisch I
1. Elementare Strukturen
Die Josefsnovelle hat im AT bzw. Tanach zwei Hauptfunktionen. Erstens bildet sie das literarische und theologische Bindeglied zwischen den Anfängen Israels, die mit der Erwählung Abrahams beginnen und sich in den Geschehnissen um Isaak und Jakob fortsetzen, und dem versklavten hebräischen Volk der Exoduserzählung, das aus Ägypten befreit und ins verheißene Land geführt wird. Josef ist der Grund, warum die Not und Hunger leidende Familie Jakobs aus Kanaan nach Ägypten zieht, dort einen neuen Lebensort findet und sich zu einem großen Volk entwickeln kann. Die biblische Genealogie sieht Abraham, Isaak, Jakob, Josef und Mose als Mitglieder einer großen Familie (vgl. toledot/Geschlechter-Formel in Gen 11,27
Zweitens führt sie in das Verhalten eines Weisen und Gerechten ein. Die biblischen Parallelen zwischen Josef und dem Idealbild des Weisen sind unübersehbar. Der Weise ist gottesfürchtig (Gen 42,18
Es handelt sich um eine – für biblische Verhältnisse – lange und komplexe Form der Erzählung, die von einem Konflikt aus startet, parallele Handlungsstränge (Ägypten, Kanaan) besitzt und auf einen Höhepunkt zuläuft, der den Eingangskonflikt überwindet. Man spricht daher von einer „Novelle“ (vgl. Krauss/ Küchler, 2005, 7). Sie ist kunstvoll gestaltet, bringt die Handlung voran Schritt für Schritt voran und legt dabei Spuren durch bestimmte Leitmotive, wie die des Kleides, das Josef als Lieblingssohn auszeichnet und dann zum Symbol für die gewaltsame Verschwörung gegen ihn wird (Gen 37
Das Erzählte stammt aus verschiedenen Jahrhunderten und Lebenssituationen Israels. Ursprünglich, vermutlich im achten/siebten Jahrhundert gab es eine mündliche Erzählung über den Aufstieg eines Israeliten namens Josef in Ägypten (Gen 39-41
2. Elementare Wahrheiten
Die Frage, inwieweit die Geschichte „wahr“ ist, lässt sich auf verschiedenen Ebenen erörtern. Die Fiktionalität der Geschichte bedeutet nicht, dass sich in ihr nicht existentielle → Wahrheiten
Zunächst ist die Figur des Josef im Blick, in der das Idealbild des Weisen und Gerechten aufscheint. Klassischerweise wird Josef in der Bibeldidaktik als Vorbild herangezogen. Einerseits kann man dies als „didaktisch fragwürdig“ kritisieren, „weil kein Kind oder Heranwachsender sich an diesen Personen messen kann, die nicht nur exemplarische Gestalten eines Lebens vor Gott sind, sondern [...] im Prozess der Überlieferung immer weiter mit idealisierenden Zügen überhöht worden sind“ (Berg, 1993, 33). Andererseits liegt die „Wahrheit“ der Josefsgeschichte in den Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen, die gerade auch durch sein (sozial) ungünstiges Verhalten ausgelöst werden. Sie ist die Geschichte einer „Verwandlung“ (Wiesel, 1993, 140). Damit bietet sie Anknüpfungspunkte für jedermann und jedefrau.
Die „Wahrheiten“ der Josefsgeschichte lassen sich darüber hinaus in einem breiteren Feld suchen. Es werden ernsthafte und grundlegende Fragen menschlichen Lebens thematisiert: Wie kommt es zu Aggression und Gewalt innerhalb einer sozialen Gruppe? Wie kann in einer Opfer-Täter-Beziehung mit Schuld umgegangen werden? Wie kann man Entwicklungsmöglichkeiten nutzen? Welche Lebensbedeutung kann der Glaube einnehmen?
Es gibt viele Ursachen und Formen von Aggression. In der Josefsgeschichte scheinen Gefühle der Konkurrenz, Zurücksetzung sowie Benachteiligung seitens der Brüder eine Rolle zu spielen. Das Misshandeln, Tötenwollen und Verkaufen lässt sich möglicherweise als „instrumentelle“ Aggression einordnen, die ein bestimmtes Ziel, wie das Beseitigen eines Konkurrenten, anstrebt, oder als „spontane“ bzw. „Lust“-Aggression, die der Erhöhung des Selbstwertgefühls und der Selbststimulation dient (vgl. Nolting, 2000, 158-162).
Durch die Gewalt an Josef laden die Brüder Schuld auf sich. Als sie ihn am Ende erst indirekt und dann persönlich um → Vergebung
Die Josefsnovelle wird gern als Entwicklungsgeschichte bzw. -roman bezeichnet. Zum einen, weil Josef selbst sich vom Ego-Star zum Fürsorger entwickelt (siehe oben 1.), zum anderen, weil die Brüder sich wandeln. Zunächst stoßen sie den ungeliebten Bruder aus und lassen den Vater im Glauben, sein Sohn sei tot. Doch auch sie verändern sich. Sie treten bis zur Selbstaufopferung für das Leben Benjamins ein, weil der Vater nicht noch einen Verlust überleben würde (Gen 44,18-34
Schließlich regt die Josefsnovelle zum Nachdenken darüber an, welche Rolle der Glaube im Leben spielen kann. Die Geschichte steht in Kontrast zu den Erzelternerzählungen in Gen 12-36
3. Elementare Erfahrungen
Jugendliche erfahren, dass Leben zwischenmenschliche Konflikte und Verletzungen mit sich bringt (vgl. Winkler, 1993). Konfliktorte können Familie, Nachbarschaft, Schule und Freundschaften sein. Trotzdem bleibt die Sehnsucht nach einem harmonischen Umgang bestehen. Vergeben und Verzeihen sind Mittel, durch Konflikte belastete Beziehungen wieder „ins Lot“ zu bringen und einen Neuanfang zu ermöglichen. Dabei ist es wichtig, sich über die Grenzen des Vergebens und das Recht, als Opfer dem Täter nicht zu vergeben, klar zu werden. Manche Jugendliche haben ggf. bereits Erfahrungen in (außer-)schulischen Streitschlichterprogrammen gemacht, die Schüler/innen gezielt aktivieren und ausbilden, anderen als Mediatoren zur Seite zu stehen (siehe unten 4.2.).
Eine zweite Ebene der in der Josefsgeschichte implizierten Erfahrungen ist die Frage nach den Vorstellungen über das eigene Ich, die bei Josef in Form von Träumen zum Ausdruck kommen, in deren Zentrum er selbst steht. Das Thema kann Erfahrungen von Jugendlichen zum Klingen bringen, die sich typischerweise in einem Spannungsfeld ansiedeln zwischen dem Wunsch, etwas Besonderes zu sein (vgl. EKD, 2022, 26) – womöglich auch ein „Star“ – und dem Suchen und Finden einer eigenen, authentischen psychisch-physischen Identität bzw. einer eigenen Berufung – und dies unter den Bedingungen der modernen social-media-Gesellschaft. Dabei machen Jugendliche auch die Erfahrung, dass diese Suchbewegung selbstbestimmt und zielbewusst gestaltet werden, aber auch durch unplanbare Widerfahrnisse geprägt sein kann (vgl. die Wegweisung durch den Unbekannten in Gen 37,15-17
Einen weiteren Bereich von Erfahrungen könnte man in der Frage nach dem inneren ethischen Kompass zusammenbinden: Lohnt es sich, sich „anständig“ zu verhalten, gerade wenn man die Erfahrung macht, dass andere das nicht tun? Sollte man gerecht handeln, weil man auf einen Ausgleich hofft oder weil es einem aus einer intrinsischen Motivation heraus wichtig ist? Wie geht man mit Schwächeren um (vgl. das Negativbeispiel der „Ausländerschelte“ in Gen 39,14
Das Thema der „göttlichen Begleitung“ ist für Jugendliche je nach Ausprägung ihrer religiösen Biographie bzw. Sozialisation (z.B. Konfirmation, Firmung) eine Kategorie der eigenen Erfahrung.
4. Elementare Zugänge und Lernwege
Die Frage nach der Zugänglichkeit kann mit dem Ausblick auf die Lernwege verknüpft werden. Fünf Themenfelder sollen hier näher betrachtet werden.
4.1. … jung, attraktiv, queer?
Man kann die Figur des Josef bezüglich der äußeren Attraktivität und des schillernden „Out-fits“ in den Mittelpunkt stellen. Josef gilt als ausnehmend schön. Die Frau des Potiphar begehrt ihn, da er „schön an Gestalt und hübsch von Angesicht“ ist (Gen 39,6
4.2. … kann ich Brücken bauen?
Josefsgeschichte und Streitschlichterprogramme sind unterschiedliche Welten. Was bei jener nur erzählerisch angedeutet wird, ist bei dieser in Form von Handlungsanweisungen expliziert. Bei Streitschlichtung gibt es die Vorstellung, dass die beiden Parteien nach erfolgten Schritten auf der „Friedensbrücke“, die Zuhören, Verstehen, Lösungen und Abkommen einschließen, den Zustand der Versöhnung erreichen (vgl. Jefferys-Duden, 2002; Walker, 2001). Lösungen können von zweierlei Art sein: Wiedergutmachung und Zukunftsregelung. Eine Wiedergutmachung kann das Angebot der Entschuldigung enthalten. Wichtig ist dabei aber, ob der andere diese annehmen möchte (vgl. Walker, 2001, 38). Vergebenkönnen ist also impliziert, aber nicht notwendigerweise vorausgesetzt. Unabdingbar ist jedoch die Zukunftsregelung. Einige dieser Elemente lassen sich auch an der Josefsgeschichte unter dem Motto „Brückenbauer“ entdecken.
4.3. … durchhalten!
Die Josefsgeschichte lässt sich als Resilienzgeschichte lesen (vgl. Keuner, 2019). Resilienz, verstanden als Fähigkeit, nach Schicksalsschlägen wieder aufzustehen und eine lebensbejahende Haltung auszubilden, gilt in der Gegenwart nicht nur als erstrebenswert, sondern auch als erlernbar. Jugendliche erleben in den Schulen bereits entsprechende Programme zur Stärkung der Resilienz (vgl. ISB, 2021). Eine Lernmöglichkeit im Zusammenhang mit der Josefsgeschichte besteht darin, Teilaspekte des Resilienzlernens mit der Geschichte von Josef in Beziehung zu setzen bzw. die Leerstellen im Text damit zu füllen. Man könnte etwa fragen, wie Josef die Zeit im „Loch“ d.h. in der Zisterne und im Gefängnis überlebt hat. Was mag ihm dabei geholfen haben? Wie könnten entsprechende Übungen zur Meditation und eine Wahrnehmung der eigenen Stärken aussehen? Wie hat Josef seine Kommunikationsfähigkeiten ausgebildet und seine Dankbarkeit gegenüber dem Leben gefunden? Die Lehrkraft kann auch hier selbst Übungen mit den Jugendlichen durchführen (praktische Anregungen siehe ISB, 2021).
4.4. … lohnt es sich, Prinzipien zu haben?
Der biblische Josef handelt (abgesehen von seinen anfänglichen Allyren) vorbildlich im Sinne eines Gerechten. Die Frage, ob man auch so handeln würde, scheint im RU wenig ergiebig zu sein, denn Vorbild-Didaktiken geben Normen vor, die zunächst in existentielle Fragen zurückverwandelt werden müssen, z.B.: Lohnt es sich, gerecht an anderen zu handeln, wenn mir selbst Ungerechtigkeit widerfährt? Welche Gründe könnte ich haben, dies zu tun? Im Rahmen der → Ethischen Bildung und Erziehung
4.5. … jemand, der mich begleitet?
Der theologisch-literarisch „durchgestylte“ Josef der Bibel bekennt sich zur Kraft Gottes, die hinter den Dingen am Wirken ist und alles zum Guten wendet. Das ist eine Sicht der Dinge, die aber für Zweifel wenig Raum lässt. Für heutige Jugendliche sind authentische Äußerungen von „Peers“, die zu ihrem → Glauben
Weitere Lernwege sind die Wahrnehmung der Wirkungsgeschichte der Josefsnovelle (vgl. Nüchtern, 2010), die Behandlung in anderen Fächern, z.B. im Fremdsprachenunterricht (hier Latein, vgl. Rader, 1998, 72f.) sowie der interreligiöse Ansatz, der biblische Josef- und koranische Yussuf-Überlieferung einander gegenüberstellt (vgl. Wimmer/Leimgruber, 2005, 124-140).
Literaturverzeichnis
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