Deutsche Bibelgesellschaft

Josef, bibeldidaktisch, Sekundarstufe

(erstellt: März 2023)

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„Josef“ gilt traditionell als ein ausgesprochenes Thema der Primarstufe (vgl. Kraft, 2018, 319; bereits Kabisch, 1910, 165f.;174) → Josef, bibeldidaktisch I, was sich auch an der hohen Zahl bibeldidaktischer Publikationen in diesem Bereich belegen lässt. Die Josefsgeschichte bietet jedoch – nicht zuletzt, weil der Protagonist am Anfang seiner Reise siebzehn Jahre alt ist – auch Jugendlichen im Religionsunterricht sowie in der außerschulischen Jugendarbeit zahlreiche Anknüpfungspunkte und Lernanlässe (vgl. schon Stallmann, 1963, 157).

1. Elementare Strukturen

Die Josefsnovelle hat im AT bzw. Tanach zwei Hauptfunktionen. Erstens bildet sie das literarische und theologische Bindeglied zwischen den Anfängen Israels, die mit der Erwählung Abrahams beginnen und sich in den Geschehnissen um Isaak und Jakob fortsetzen, und dem versklavten hebräischen Volk der Exoduserzählung, das aus Ägypten befreit und ins verheißene Land geführt wird. Josef ist der Grund, warum die Not und Hunger leidende Familie Jakobs aus Kanaan nach Ägypten zieht, dort einen neuen Lebensort findet und sich zu einem großen Volk entwickeln kann. Die biblische Genealogie sieht Abraham, Isaak, Jakob, Josef und Mose als Mitglieder einer großen Familie (vgl. toledot/Geschlechter-Formel in Gen 11,27;37,2; „siebzig“ in Gen 46,26; Ex 1,5).

Zweitens führt sie in das Verhalten eines Weisen und Gerechten ein. Die biblischen Parallelen zwischen Josef und dem Idealbild des Weisen sind unübersehbar. Der Weise ist gottesfürchtig (Gen 42,18; Spr 1,7), verhält sich moralisch korrekt (Gen 39,7-12; Spr 2,16-19) und handelt Mächtigen gegenüber klug (Gen 41,25-36; Spr 8,12). Mit dem Gerechten verhält es sich anders: Josef wird im biblischen Text noch nicht mit dem Beinamen „der Gerechte“ (hazadiq) belegt, sondern erst in der jüdischen Auslegungstradition (vgl. Wies-Champagner, 2009, 209). Im Moment der Bedrängung durch Potifars Frau habe er sich an die Übertretung des Gebots Gottes im Garten Eden (Gen 2,16) durch Adam und Eva erinnert und der Versuchung widerstanden (Gen 39,9 vgl. Ebach, 2007, 181). Sein Verhalten ist ausschlaggebend dafür, dass er zu einem Gerechten „wird“ (Wiesel, 1998, 167f.). Damit ist auch der Gedanke vorbereitet, dass ein Gerechter eine Entwicklung durchlaufen kann. Zu Beginn kreist Josef so sehr um sein Ego, dass er für seine Mitwelt unerträglich zu sein scheint. Die Lebensreise führt zweimal ins dunkle „Loch“ (Gen 37;39), aber Josef bewährt sich in den Krisen. Er findet seine Berufung, die darin liegt, für andere zu sorgen, und er erkennt, dass er Teil eines großen Zusammenhangs ist (vgl. Pitzele, 2012, 250). Dieses Idealbild indes erhält Risse, wenn man an die Episode Gen 47,13-26 denkt, bei der Josef im Kontext des ägyptischen Herrschaftssystems weite Teile der Bevölkerung in Leibeigenschaft bringt.

Es handelt sich um eine – für biblische Verhältnisse – lange und komplexe Form der Erzählung, die von einem Konflikt aus startet, parallele Handlungsstränge (Ägypten, Kanaan) besitzt und auf einen Höhepunkt zuläuft, der den Eingangskonflikt überwindet. Man spricht daher von einer „Novelle“ (vgl. Krauss/ Küchler, 2005, 7). Sie ist kunstvoll gestaltet, bringt die Handlung voran Schritt für Schritt voran und legt dabei Spuren durch bestimmte Leitmotive, wie die des Kleides, das Josef als Lieblingssohn auszeichnet und dann zum Symbol für die gewaltsame Verschwörung gegen ihn wird (Gen 37). Im Hause des Potiphar wird ihm sein Kleid von der abgewiesenen Ehefrau entrissen (Gen 39), als Josef aus dem Gefängnis kommt und Herrscher aufsteigt, wird er neu eingekleidet (Gen 41). Schließlich erkennen die Brüder Josef aufgrund seiner ägyptischen Kleidung nicht wieder. Ebenso fungieren die Träume und das Deuten der Träume als Leitmotiv (Gen 37;40;41). Man kann das anfängliche, in Josefs Träume gekleidete Thema der Herrschaft, das im Verneigen und Niederfallen seiner Brüder und seines Vaters zum Ausdruck kommt (Gen 39), als Vorverweis auf seine spätere Machtstellung verstehen; das sich Niederwerfen der Brüder wird Wirklichkeit (Gen 42;43;50); durch das gegenseitige Verneigen von Vater und Sohn werden die anfänglichen Träume zurechtgerückt (Gen 47;48). Die Erzählung bietet einige retardierende Elemente, so etwa die Juda-Episode (Gen 38) und der Segen Jakobs (Gen 49), wie auch die „Maskerade“, die Josef seinen Brüdern und indirekt dem alten Vater gegenüber inszeniert, bevor es zu ihrer Auflösung kommt (Gen 42-45). Das Versteckspiel Josefs entfaltet eine gewisse Komik, ebenso die Erzählung, wie die Midianiter den Brüdern Josef „wegschnappen“, bevor diese ihn wie geplant verkaufen können (Gen 37,25-28; vgl. aber Gen 45,4).

Das Erzählte stammt aus verschiedenen Jahrhunderten und Lebenssituationen Israels. Ursprünglich, vermutlich im achten/siebten Jahrhundert gab es eine mündliche Erzählung über den Aufstieg eines Israeliten namens Josef in Ägypten (Gen 39-41). Auch wenn diese fiktional ist, mag im Hintergrund die Erfahrung realer Gestalten (wie z.B. Jerobeam I; 2 Kön 12,2) gestanden haben, die zweitweise in Ägypten lebten. In der Exilszeit erfolgten Verschriftung und Verknüpfung mit der Jakob/Israel-Überlieferung; schließlich wurde die Geschichte in nachexilischer Zeit weitergesponnen und die Verbindung zum Exodus hergestellt (vgl. Lux, 2013).

2. Elementare Wahrheiten

Die Frage, inwieweit die Geschichte „wahr“ ist, lässt sich auf verschiedenen Ebenen erörtern. Die Fiktionalität der Geschichte bedeutet nicht, dass sich in ihr nicht existentielle → Wahrheiten entdecken lassen könnten.

Zunächst ist die Figur des Josef im Blick, in der das Idealbild des Weisen und Gerechten aufscheint. Klassischerweise wird Josef in der Bibeldidaktik als Vorbild herangezogen. Einerseits kann man dies als „didaktisch fragwürdig“ kritisieren, „weil kein Kind oder Heranwachsender sich an diesen Personen messen kann, die nicht nur exemplarische Gestalten eines Lebens vor Gott sind, sondern [...] im Prozess der Überlieferung immer weiter mit idealisierenden Zügen überhöht worden sind“ (Berg, 1993, 33). Andererseits liegt die „Wahrheit“ der Josefsgeschichte in den Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen, die gerade auch durch sein (sozial) ungünstiges Verhalten ausgelöst werden. Sie ist die Geschichte einer „Verwandlung“ (Wiesel, 1993, 140). Damit bietet sie Anknüpfungspunkte für jedermann und jedefrau.

Die „Wahrheiten“ der Josefsgeschichte lassen sich darüber hinaus in einem breiteren Feld suchen. Es werden ernsthafte und grundlegende Fragen menschlichen Lebens thematisiert: Wie kommt es zu Aggression und Gewalt innerhalb einer sozialen Gruppe? Wie kann in einer Opfer-Täter-Beziehung mit Schuld umgegangen werden? Wie kann man Entwicklungsmöglichkeiten nutzen? Welche Lebensbedeutung kann der Glaube einnehmen?

Es gibt viele Ursachen und Formen von Aggression. In der Josefsgeschichte scheinen Gefühle der Konkurrenz, Zurücksetzung sowie Benachteiligung seitens der Brüder eine Rolle zu spielen. Das Misshandeln, Tötenwollen und Verkaufen lässt sich möglicherweise als „instrumentelle“ Aggression einordnen, die ein bestimmtes Ziel, wie das Beseitigen eines Konkurrenten, anstrebt, oder als „spontane“ bzw. „Lust“-Aggression, die der Erhöhung des Selbstwertgefühls und der Selbststimulation dient (vgl. Nolting, 2000, 158-162).

Durch die Gewalt an Josef laden die Brüder Schuld auf sich. Als sie ihn am Ende erst indirekt und dann persönlich um → Vergebung des Mordanschlags bitten (Gen 45,15-18), reagiert Josef überraschend differenziert (was in vielen bibeldidaktischen Unterrichtswürfen untergeht, vgl. Fricke, 2012, 37). Zunächst weint er, wobei der Text eine Begründung ausspart und damit Raum für Spekulationen eröffnet. Das erbetene Wort der Vergebung kommt ihm nicht über die Lippen, sondern nur die schillernde Frage, ob er denn an der Stelle Gottes stehe (Gen 50,19). Letzteres könnte bedeuten, dass Josef sich nicht Amt und Autorität anmaßen will, die nach altorientalischem Denken allein der Gottheit zustehen (vgl. Krauss/Küchler, 2005, 124). Es könnte aber auch eine korrigierende Anspielung auf den ersten Traum sein, in dem sich die Gestirne vor Josef verneigen, eine Ehre, die im AT nur Gott zukommt (vgl. Ps 148,3). Die Schuld der Brüder wird also nicht aufgehoben, vielmehr müssen diese mit ihr leben. Immerhin können sie leben: „‚Und jetzt habt keine Angst! Ich selbst will euch und eure Kinderschar versorgen.‘ So brachte er sie zum Aufatmen und redete ihnen zu Herzen“ (Gen 50,21 Übersetzung Ebach, 2007, 650). Er spricht mit ihnen also gute Worte – ein Zeichen dafür, dass sich die Geschwisterbeziehung im Vergleich zur Anfangssituation geändert hat (Gen 37,2;4). Gemeinschaftsorientiertes Leben ist ein hohes Gut, aber das Opfer wird nicht zu vorschnellen Vergebungshandlungen den Tätern gegenüber genötigt. Die Tat bleibt in Erinnerung, vielleicht auch zur Sensibilisierung und als heilsame Mahnung. Die Geschichte lädt ein darüber nachzudenken, welche verschiedenen Modelle von „Versöhnung“ es geben kann (siehe unten 3.).

Die Josefsnovelle wird gern als Entwicklungsgeschichte bzw. -roman bezeichnet. Zum einen, weil Josef selbst sich vom Ego-Star zum Fürsorger entwickelt (siehe oben 1.), zum anderen, weil die Brüder sich wandeln. Zunächst stoßen sie den ungeliebten Bruder aus und lassen den Vater im Glauben, sein Sohn sei tot. Doch auch sie verändern sich. Sie treten bis zur Selbstaufopferung für das Leben Benjamins ein, weil der Vater nicht noch einen Verlust überleben würde (Gen 44,18-34). Diese Geste überwältigt Josef dermaßen, dass er sich seinen Brüdern offenbart (vgl. Schmid, 2020, 60). Man kann die Geschichte schließlich deswegen so bezeichnen, weil sie ihren Leserinnen und Lesern ermöglicht, „selbst einen Bildungsprozess zu durchlaufen“ (Schmid, 2020, 57). Diese seien durch die vielen Leerstellen, die etwa die Motivationen des Handelns offenlassen, gezwungen, sich „umfassend in die das Verhalten der Akteure bestimmenden Determinanten hineinzudenken und deren komplexe Wechselwirkungen zu rekonstruieren“ (Schmid, 2020, 62).

Schließlich regt die Josefsnovelle zum Nachdenken darüber an, welche Rolle der Glaube im Leben spielen kann. Die Geschichte steht in Kontrast zu den Erzelternerzählungen in Gen 12-36, wo Gott „direkt ansprechbar“ ist, mit den Protagonisten Dialoge führt und ihnen Schutz, Begleitung und Segen zusagt. In der Josefsgeschichte wirkt Gott indirekt und verborgen. Es wird gesagt, dass Gott mit Josef sei (Gen 39,2.3.21.23), bzw. der Pharao spricht Josef zu, dass der Geist Gottes auf ihm ruhe (Gen 41,38 vgl. Gen 1,2!). Schließlich deutet Josef selbst – ein wenig überraschend – die ganzen Ereignisse summarisch als Ergebnis des Handelns Gottes (Gen 50,20), nachdem er in den Kapiteln zuvor kaum von Gott gesprochen hat (Ausnahmen vor allem Gen 41). Jedoch betet Josef nicht oder führt Zwiegespräche mit Gott. Glaube erscheint hier als eine bestimmte Art der Weltdeutung, als eine Attribuierung ex post, der zufolge Gott aus dem Bösen etwas Gutes machen kann. In der Geschichte bleibt offen, welche Ereignisse im Einzelnen darunter fallen. (Moderne) Leserinnen und Leser sind eingeladen, Aspekte ihres eigenen Lebens probeweise unter diesem Blickwinkel zu betrachten. In einer weltanschaulich pluralen Situation ist die Idee, dass eine Gottheit in das eigene Leben „eingreife“, sicher nur für einige eine Denkoption; andere werden diesem Gedanken nichts abgewinnen können.

3. Elementare Erfahrungen

Jugendliche erfahren, dass Leben zwischenmenschliche Konflikte und Verletzungen mit sich bringt (vgl. Winkler, 1993). Konfliktorte können Familie, Nachbarschaft, Schule und Freundschaften sein. Trotzdem bleibt die Sehnsucht nach einem harmonischen Umgang bestehen. Vergeben und Verzeihen sind Mittel, durch Konflikte belastete Beziehungen wieder „ins Lot“ zu bringen und einen Neuanfang zu ermöglichen. Dabei ist es wichtig, sich über die Grenzen des Vergebens und das Recht, als Opfer dem Täter nicht zu vergeben, klar zu werden. Manche Jugendliche haben ggf. bereits Erfahrungen in (außer-)schulischen Streitschlichterprogrammen gemacht, die Schüler/innen gezielt aktivieren und ausbilden, anderen als Mediatoren zur Seite zu stehen (siehe unten 4.2.).

Eine zweite Ebene der in der Josefsgeschichte implizierten Erfahrungen ist die Frage nach den Vorstellungen über das eigene Ich, die bei Josef in Form von Träumen zum Ausdruck kommen, in deren Zentrum er selbst steht. Das Thema kann Erfahrungen von Jugendlichen zum Klingen bringen, die sich typischerweise in einem Spannungsfeld ansiedeln zwischen dem Wunsch, etwas Besonderes zu sein (vgl. EKD, 2022, 26) – womöglich auch ein „Star“ – und dem Suchen und Finden einer eigenen, authentischen psychisch-physischen Identität bzw. einer eigenen Berufung – und dies unter den Bedingungen der modernen social-media-Gesellschaft. Dabei machen Jugendliche auch die Erfahrung, dass diese Suchbewegung selbstbestimmt und zielbewusst gestaltet werden, aber auch durch unplanbare Widerfahrnisse geprägt sein kann (vgl. die Wegweisung durch den Unbekannten in Gen 37,15-17). Dabei kann auch das Durchhalten-können in Krisenmomenten eine wichtige Teilerfahrung der Identitätsbildung sein.

Einen weiteren Bereich von Erfahrungen könnte man in der Frage nach dem inneren ethischen Kompass zusammenbinden: Lohnt es sich, sich „anständig“ zu verhalten, gerade wenn man die Erfahrung macht, dass andere das nicht tun? Sollte man gerecht handeln, weil man auf einen Ausgleich hofft oder weil es einem aus einer intrinsischen Motivation heraus wichtig ist? Wie geht man mit Schwächeren um (vgl. das Negativbeispiel der „Ausländerschelte“ in Gen 39,14)?

Das Thema der „göttlichen Begleitung“ ist für Jugendliche je nach Ausprägung ihrer religiösen Biographie bzw. Sozialisation (z.B. Konfirmation, Firmung) eine Kategorie der eigenen Erfahrung.

4. Elementare Zugänge und Lernwege

Die Frage nach der Zugänglichkeit kann mit dem Ausblick auf die Lernwege verknüpft werden. Fünf Themenfelder sollen hier näher betrachtet werden.

4.1. … jung, attraktiv, queer?

Man kann die Figur des Josef bezüglich der äußeren Attraktivität und des schillernden „Out-fits“ in den Mittelpunkt stellen. Josef gilt als ausnehmend schön. Die Frau des Potiphar begehrt ihn, da er „schön an Gestalt und hübsch von Angesicht“ ist (Gen 39,6). T. Mann hat in seinem mehrbändigen Roman die Attraktivität Josefs weiter ausgemalt: „Mit siebzehn, das ist wahr, kann einer schöner sein als Weib und Mann, schön wie Weib und Mann, schön von beiden Seiten her und auf alle Weise, hübsch und schön, dass es zum Gaffen und Sichvergaffen ist für Weib und Mann“ (Mann, 1990, 395, zit. n. Schöll, 2007, 16). Das Androgyne, das T. Mann hier sieht, ist jüngst durch die Gender- und Diversity-Bewegung noch mehr in den Blick genommen worden. Der „Rock“, den Josef von seinem Vater erhält, ist nicht nur Gegenbild zur Arbeitskleidung der Brüder und damit Symbol für seinen besonderen Rang. Dieser „Rock“ ist an anderer Stelle im Alten Testament (im Hebräischen) das Kleid einer Prinzessin (2 Sam 13,18f.). Diese Beobachtung lädt zu einer „queeren“ Lektüre der Josefsgeschichte ein. Der Dichter J. Mase III. schreibt: „Joseph / Josephine / Jo, ... du hast (den Rock) mit Stolz getragen, offen, ohne Scham. Es tut mir leid, was dir danach geschehen ist. Jo, als deine Brüder dich im fließenden Kleid in all deinem Glanz gesehen haben, wurden sie wütend“ (Söderblom, 2020, 39). Texte lassen sich in viele Richtungen interpretieren. Ob Josef tatsächlich schwul oder trans- bzw. intersexuell war, bleibt spekulativ, zumal die Bibel erzählt, dass Josef mit Asenat zwei Kinder hatte, Ephraim und Manasse (Gen 46,20). Für die Arbeit mit Jugendlichen ist das Gedicht von J. Mase III. ein Anlass die Josefsgeschichte in moderner Rezeption kennenzulernen und über → Diversity zu sprechen sowie ggf. auch über Erfahrungen mit Ausgrenzungen. Dass die Bibel als „Heilige Schrift“ für eine queere Lesart Anlass gibt, dürfte unter Jugendlichen sicherlich auch Interesse wecken. Jenseits davon kann man anhand der Betonung von Josefs Schönheit typische Geschlechtsrollenklischees („schön“ als „weibliches“ Ideal) in Frage stellen.

4.2. … kann ich Brücken bauen?

Josefsgeschichte und Streitschlichterprogramme sind unterschiedliche Welten. Was bei jener nur erzählerisch angedeutet wird, ist bei dieser in Form von Handlungsanweisungen expliziert. Bei Streitschlichtung gibt es die Vorstellung, dass die beiden Parteien nach erfolgten Schritten auf der „Friedensbrücke“, die Zuhören, Verstehen, Lösungen und Abkommen einschließen, den Zustand der Versöhnung erreichen (vgl. Jefferys-Duden, 2002; Walker, 2001). Lösungen können von zweierlei Art sein: Wiedergutmachung und Zukunftsregelung. Eine Wiedergutmachung kann das Angebot der Entschuldigung enthalten. Wichtig ist dabei aber, ob der andere diese annehmen möchte (vgl. Walker, 2001, 38). Vergebenkönnen ist also impliziert, aber nicht notwendigerweise vorausgesetzt. Unabdingbar ist jedoch die Zukunftsregelung. Einige dieser Elemente lassen sich auch an der Josefsgeschichte unter dem Motto „Brückenbauer“ entdecken.

4.3. … durchhalten!

Die Josefsgeschichte lässt sich als Resilienzgeschichte lesen (vgl. Keuner, 2019). Resilienz, verstanden als Fähigkeit, nach Schicksalsschlägen wieder aufzustehen und eine lebensbejahende Haltung auszubilden, gilt in der Gegenwart nicht nur als erstrebenswert, sondern auch als erlernbar. Jugendliche erleben in den Schulen bereits entsprechende Programme zur Stärkung der Resilienz (vgl. ISB, 2021). Eine Lernmöglichkeit im Zusammenhang mit der Josefsgeschichte besteht darin, Teilaspekte des Resilienzlernens mit der Geschichte von Josef in Beziehung zu setzen bzw. die Leerstellen im Text damit zu füllen. Man könnte etwa fragen, wie Josef die Zeit im „Loch“ d.h. in der Zisterne und im Gefängnis überlebt hat. Was mag ihm dabei geholfen haben? Wie könnten entsprechende Übungen zur Meditation und eine Wahrnehmung der eigenen Stärken aussehen? Wie hat Josef seine Kommunikationsfähigkeiten ausgebildet und seine Dankbarkeit gegenüber dem Leben gefunden? Die Lehrkraft kann auch hier selbst Übungen mit den Jugendlichen durchführen (praktische Anregungen siehe ISB, 2021).

4.4. … lohnt es sich, Prinzipien zu haben?

Der biblische Josef handelt (abgesehen von seinen anfänglichen Allyren) vorbildlich im Sinne eines Gerechten. Die Frage, ob man auch so handeln würde, scheint im RU wenig ergiebig zu sein, denn Vorbild-Didaktiken geben Normen vor, die zunächst in existentielle Fragen zurückverwandelt werden müssen, z.B.: Lohnt es sich, gerecht an anderen zu handeln, wenn mir selbst Ungerechtigkeit widerfährt? Welche Gründe könnte ich haben, dies zu tun? Im Rahmen der → Ethischen Bildung und Erziehung ist hier die Ebene der Wertklärung berührt, die das Ziel hat, bei Jugendlichen einen Frageprozess in Gang zu setzen, in dem sie erst ihre eigenen Überzeugungen erkunden und dann fragen, ob sich diese Überzeugungen auch in Verhaltensweisen konkretisieren. Ein möglicher Lernweg ist eine geführte Meditation, in der sich die Jugendlichen selbstständig eine Überzeugung – mittlerer Schwere – aussuchen (z.B. ich behalte mir anvertraute Geheimnisse bei mir), diese Überzeugung für sich beschreiben und dann in einem weiteren Schritt untersuchen, ob sie diese einhalten, auch wenn sie erleben, das andere Jugendliche sich nicht daran halten, und welche Gründe für sie selbst eine Rolle spielen. Nach dieser Übung kann man zu Josef zurückkehren und bilanzieren, inwieweit man diese Figur als hilfreich für die eigene ethische Orientierung ansieht.

4.5. … jemand, der mich begleitet?

Der theologisch-literarisch „durchgestylte“ Josef der Bibel bekennt sich zur Kraft Gottes, die hinter den Dingen am Wirken ist und alles zum Guten wendet. Das ist eine Sicht der Dinge, die aber für Zweifel wenig Raum lässt. Für heutige Jugendliche sind authentische Äußerungen von „Peers“, die zu ihrem → Glauben befragt wurden, im Sinne eines Zwischenschritts womöglich leichter zugänglich. Eine 18-Jährige sagt: „Mein Glaube trägt mich durch mein Leben. Manchmal bewusst, manchmal unbewusst. […] Gott ist für mich jemand, der mich begleitet. Also, eben nicht jemand. Eher etwas. Es gibt mir ein gutes Gefühl und nimmt mir oft die Angst vor Dingen im Leben“ (Demont/Schenker, 2009, 19). Ein 17-Jähriger hat eine personale Vorstellung: „All meine Gefühle kann ich ihm sagen […] – das tut mir gut. Ich weiß: Es ist jemand da, der mir zuhört und auch zu mir steht, egal was ich mache.“ Eine 19-Jährige erklärt abstrakt: „Gott ist für mich alles, was der Mensch sich nicht logisch erklären kann. Darum ist Gott für mich auch eine große Freiheit.“ Ein 23-Jähriger glaubt, „dass Gott in uns drinnen wirkt. Nicht so ein heiliger Geist, sondern eher ein göttlicher Funke“ (alle Zitate Demont/Schenker, 2009, 34;106;155). Diese Äußerungen laden in ihrer Pluralität dazu ein, dass sich Jugendliche im RU frei zu ihnen positionieren oder ggf. eigene Aussagen hinzufügen, unter dem Motto „Wie Josef heute über seinen Glauben reden würde …“. Für die kirchliche Jugendarbeit, die unter anderen Prämissen arbeitet, kann darüber hinaus das Gesegnetsein in die Begegnung mit der Josefsgeschichte aufgenommen werden (vgl. Theurer-Vogt, 2020).

Weitere Lernwege sind die Wahrnehmung der Wirkungsgeschichte der Josefsnovelle (vgl. Nüchtern, 2010), die Behandlung in anderen Fächern, z.B. im Fremdsprachenunterricht (hier Latein, vgl. Rader, 1998, 72f.) sowie der interreligiöse Ansatz, der biblische Josef- und koranische Yussuf-Überlieferung einander gegenüberstellt (vgl. Wimmer/Leimgruber, 2005, 124-140).

Literaturverzeichnis

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