Deutsche Bibelgesellschaft

Calvin, Johannes (1509-1564)

(erstellt: März 2024)

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1. Lebensweltliche Verortung

Am 10. Juli 2009 jährte sich zum 500. Mal der Geburtstag Johannes Calvins (1509-1564). Der Genfer Reformator gilt als ein „Gründungsvater“ des reformierten Protestantismus. Die auf Zwingli, Bullinger und Calvin zurückgehenden Kirchen in Europa nennen sich aber nicht „calvinistisch“, sondern „reformiert“. Diese Selbstbezeichnung erinnert daran, dass eine reformatorische Kirche im Hören auf Gottes Wort der fortwährenden Erneuerung bedarf: Ecclesia reformata semper reformanda (https://www.calvin.de/).

Kaum einer der Reformatoren der zweiten Generation hat so stark polarisiert wie Johannes Calvin; sein Werk rief begeisterte Zustimmung auf der einen Seite und auf der anderen Seite Ablehnung oder undifferenzierte Polemik hervor. Aber es gibt eben auch den Theologen und Reformator, dessen Wirkung auf die Niederlande, Ungarn, Schweiz, Schottland, und andere Länder unvergleichlich ist und den Diplomaten im Zeitalter der religiös-kriegerischen Auseinandersetzungen. Calvin war wegen seiner Theologie und Auffassung von Kirche in Genf sehr umstritten und erst viereinhalb Jahre vor seinem Tod 1564 im Jahr 1559 erhielt der französische Flüchtling Genfer Bürgerrecht. Bis 1555 war die → Reformation in Genf keineswegs gesichert und Calvin rechnete ständig damit, Genf als Ausländer wieder verlassen zu müssen. Aus dem heutigen Bewusstsein verschwunden sind die Leistungen Calvins in der Genfer Reformation, die im evangelischen Religionsunterricht größtenteils unberücksichtigt bleiben müssen, weil ihnen auch keine weitere Bedeutung zugemessen wird oder diese schlichtweg vergessen sind. Zwar ist deutlich, dass die Genfer Reformation der den Bürgerinnen und Bürgern Genfs ohne die Vorarbeit der Wittenberger Reformation Luthers und → Melanchthons nicht denkbar gewesen wäre; trotzdem bleibt aber auch klar, dass die Genfer Reformation letztlich zur weltweiten Verbreitung des Protestantismus wesentlich beigetragen hat und dass der deutsche Protestantismus kaum den 30jährigen Krieg ohne den reformierten Protestantismus überstanden hätte (Dam, 2018, 76). Die lutherische Reformation stand in vielen theologischen Kernbereichen (zum Beispiel Abendmahl, Sakramentsverständnis, Verständnis der Beziehung Kirche-Staat usw.) noch in den Ausläufern des römisch-katholischen mittelalterlichen Denkens (Dam, 2018, 76). Indirekte Leistungen der Genfer Reformation unter Calvin sind die Auseinandersetzungen um religiöse Toleranz, Religions- und Glaubensfreiheit, andere Sichtweisen auf die ganze Bibel als heilige Schrift von Juden und Christen, ein neues, d.h. neuzeitlich-modernes Verständnis der individuellen religiösen und ethischen Praxis und des Glaubensverständnisses (Dam, 2018, 78). Gottes- und Selbsterkenntnis hängen nach Calvins Überzeugung insofern zusammen, weil beide Erkenntnisformen mit dem Herzen zu tun haben und so in den Bereich von Relationalität gehören. Harmjan Dam formuliert in Bezug auf eine mögliche Perspektive von Schülerinnen und Schülern treffend: „Calvin ist davon überzeugt, dass ich mich, um ich selbst zu werden, ganz und gar Gott anvertrauen muss. Wir brauchen Gott, um als Mensch überhaupt zu sein und etwas zu können“ (2018, 78). Wenn der religiöse und letztlich auch theologische Erkenntnisprozess eine Herzens- und Beziehungsangelegenheit und für die Identitätsbildung des glaubenden Menschen wesentlich ist, kann hier eine Brücke zu Lernenden geschlagen werden, die im Bereich der Sekundarstufe 1 ihre Persönlichkeit (aus-)bilden und in einem sozialisationsbegleitenden Religionsunterricht auf achtsame Unterstützung seitens der Lehrpersonen angewiesen sind. Auch wenn Calvin von sich zu sagen pflegte: De me non libenter loquor – von mir spreche ich nicht gern (Calvin, CO 5, 389; CStA 1.2, 356; vgl. auch Oberman, 2003, 180f.; Selge, 2005, 295-304) sind doch einige biografische Hinweise nötig, um die Spur des Genfer Reformators wider Willen aufzunehmen.

2. Calvins Biografie und Schwerpunkte seiner Theologie

2.1. Vom Humanisten zum Reformator

Johannes Calvin (auch Cauvin wie sein Vater Gérard Cauvin) wurde am 10.7.1509 in Noyon/frz. Picardie geboren (Schwendemann, 2016; 2010; 2009; 1996). Der Vater war apostolischer Notar, Steuerverwalter der Grafschaft, Kirchenanwalt des Kapitels, Sekretär des Bischofs und Generalprokurator (Huizing, 2008, 29; van‘t Spijker, 2001, 109), der 1528 als Oppositioneller gebannt wurde, bis er 1531 starb; die Mutter, Jeanne Lefranc, soll Calvin schon früh in die kirchliche Frömmigkeitspraxis eingeführt haben (Calvin, CO 6, 442). Der Vater verschaffte dem 12-Jährigen eine finanzielle Absicherung für das Studium durch eine Anstellung als Kaplan an der Kathedrale der Stadt Noyon. Zuerst besuchte Calvin das Collège des Capettes in Noyon. Nach Ausbruch der Pest in Noyon trat der junge Johannes 1523 ins berühmte Pariser Collège La Marche (Schwendemann, 2009) ein. Einer der prägenden Lehrer war Mathurin Cordier, der in der Genfer Reformation Mitarbeiter Calvins für das neue Schulwesen der Stadt wurde. Mathurin orientierte sich an der devotio moderna, also einer Art christlichen Humanismus (vgl. Delormeau, 1976) mit viel Nachdruck auf persönlicher Religiosität, gemeinsamem Leben und innerer Nachfolge Jesu Christi; nach drei Monaten wechselte Calvin auf das nicht weniger berühmte Collège Montaigu, an dem auch → Erasmus von Rotterdam (Margolin/Vanautgaerden, 2007) studiert hatte. Nach seinem Lizentiat in den artes liberales studierte Calvin ab 1528 bei Pierre de L`Étoile in Orléans (Verbindung humanistische Hermeneutik und juristische Wissenschaft (Huizing, 2008, 33) und ab 1529 in Bourges bei Andrea Alciati juristische Wissenschaften, wo er 1532 mit dem Lizentiat abschloss. In diese Zeit fällt auch Calvins Freundschaft mit dem Rottweiler Humanisten Melchior Volmar (Feld, 1997, 1588-1591), der ihn in die griechische Sprache und humanistisches Gedankengut einführte. Das juristische und vor allem humanistische Studium wird in Paris am späteren Collège de France (Collège Royal) (gegründet von Franz I.) dank der väterlichen Pfründe fortgesetzt. Die erste wissenschaftliche Arbeit Calvins war am 4.4.1532 ein Kommentar zu Senecas Schrift „De Clementia“ (Herminjard, 1965, II, 417). Dieser Kommentar bewegt sich aber noch ganz in der Linie des französischen Humanismus und Calvin versuchte hierbei Humanismus und → Stoa aus einer christlichen Position heraus zu verbinden (Huizing, 2008, 35). Wann die Hinwendung (Cottret, 1995, 109; dt. 1998) Calvins zum Protestantismus stattgefunden hat, lässt sich nicht präzise datieren und die Meinungen darüber gehen auseinander. Am 1.11.1533 hielt Nicolas Cop, der Rektor der Universität, seine Semester-Antrittsrede, eher eine reformatorische Predigt über Mt 5, die möglicherweise auf Calvin zurückgeht und gegen die Sorbonner Theologie gerichtet ist (Calvin, CO 10/2, 30-36; CStA 1.1, 1-25; Herminjard, 1965, III, 106f.). Die Verfasserfrage der Rede ist bis heute nicht eindeutig geklärt; es ist aber zumindest wahrscheinlich, dass Calvin daran mitgewirkt hat (Calvin, CStA 1.1, 1-25; Hwang, 1991; Schwendemann, 1996). Als Folge dieser Rede müssen Cop und Calvin aus Paris fliehen, wohin Calvin aber schon 1534 wieder vor der Plakataffäre zurückkehrt. Die Verbindung zweier Ereignisse und den dazugehörigen Fluchterfahrungen scheint der Kern der reformatorischen Wende Calvins zu sein, denn die Ablehnung des römischen Messopfers durch die Protestanten korrespondierte mit der Verfolgung der Protestanten in Frankreich (vgl. Die Gottesdienstliturgie sollte nach Calvins Vorstellung so umgestaltet werden, dass der Heilige Geist im Abendmahl die in Christus vollbrachte Versöhnung mitteilt, das in einem wörtlichen Sinn; Busch, 2007).

Auf jeden Fall stellte das Jahr 1534 einen Wendepunkt (Lecoultre, 1890) in Calvins Lebens dar, denn gegen die katholische Messe wurden in Paris am 18.10.1534 Plakate öffentlich ausgehängt und danach „Lutheraner“ als Verschwörer gegen die öffentliche Ordnung beschuldigt (Herminjard, 1965, III, 224-229; van‘t Spijker, 2001, 121). Calvin, der sich vor der Plakataffäre zum Protestantismus erklärt hatte, tauchte unter und floh erneut aus Paris (van‘t Spijker, 2001, 119). In Orléans entstand 1534 (gedruckt 1542) die erste theologische Schrift Calvins, die Psychopannychia („Vom Seelenschlaf der Verstorbenen“; Calvin, CO 5, 162-232; Hwang, 1991; Schwendemann, 1996; Zimmerli, 1932; Tavard, 2000). Über Straßburg kam er dann im Januar 1535 in Basel an und dort begann der eigentliche Weg des Humanisten zum Reformator. Als Martinus Lucanius schreibt Calvin die Vorrede zu Olivetans französischer Bibelübersetzung (l'Epître à tous amateurs de Jésus-Christ CStA 1.1, 34-57). Auch die erste Ausgabe der Christianae Religionis Institutio, Calvins dogmatisches Hauptwerk, erschien 1536 (CStA 1.1, 66-107), das noch als Katechismus evangelischer Lehre angelegt ist; zugleich stellte die Institutio eine Verteidigungsschrift für die französischen Protestanten dar, deswegen ist sie auch König Franz I. gewidmet (Widmungsschreiben vom 23.8.1535); Calvin verteidigte die französische Reformation vehement, denn persönliche Freunde Calvins waren Opfer der grausamen Verfolgung geworden. Schon die zweite in Straßburg erschienene lateinische Auflage der Institutio zeigte ein völlig anderes Gesicht; Calvin will in 17 Kapiteln Studierenden theologische Schlüsselbegriffe wie Gesetz, Glaube, Evangelium usw. vermitteln. Deutlich haben hier → Philipp Melanchthons Loci communes von 1521 die Form vorgegeben. Erst die letzte lat. Ausgabe der Institutio zeigt einen anderen Aufbau und ist auch im Ton anders, z.T. viel polemischer gehalten; zudem sind aus zuerst 6 Kapiteln jetzt 80 Kapitel geworden (Gerrish, 1982; 2002; 2003). In Basel lernte Calvin Farel, Viret, Bullinger und andere oberdeutsche bzw. Schweizer Reformatoren kennen. Auf der Reise zu Renata von Frankreich, Herzogin von Ferrara (Calvin, CO 21, 60-64; CO 5, 239-312; van‘t Spijker, 2001, 129) musste Calvin aufgrund des Krieges zwischen Kaiser und französischem König seine Reisepläne ändern und traf im Sommer 1536 in Genf ein, wo Wilhelm Farel mit der Unterstützung der Stadt Bern die Reformation eingeführt hatte. Farel bat Calvin, ihn beim Aufbau eines reformierten Gemeinwesens zu unterstützen, was Calvin mit der öffentlichen Auslegung des Römerbriefs auch tat. Ebenso nahm er dann auch an der Disputation in Lausanne teil; zusammen mit Farel wurde die Genfer Kirche 1537 umgestaltet. Genfer Katechismus und die Confession de foi sollten von allen Genfern übernommen werden. Der Rat der Stadt stimmte zwar den Articles ecclésiastiques zu; in der Bürgerschaft und in der Anhängerschaft des alten Glaubens regte sich jedoch Widerstand. Auf der Synode in Bern 1537 wurden Farel und Calvin durch Pierre Caroli der Leugnung der → Dreifaltigkeit/Trinität beschuldigt (Calvin, CO 7, 289-340), und in Genf kam es 1538 zum Eklat, sodass Farel und Calvin die Stadt verlassen mussten und zuerst nach Basel gingen (van‘t Spijker, 2001, 141). Farel zog weiter nach Neuchâtel und Calvin blieb zuerst in Basel und wechselte später auf Einladung Martin Bucers nach Straßburg, wo er das Predigtamt in der französischen Flüchtlingsgemeinde übernahm (Augustijn, 1994, 166-177; Herminjard, 1966, V, 144). In Straßburg entwickelte sich ein enger Kontakt zu Martin Bucer (Herminjard, 1965, IV, 338-349) und Calvin übernahm von diesem auch einige reformatorische Lehren. Straßburg war für Calvin auch der Ort privaten Glücks; er heiratete im August 1541 Idelette van Buren, die Witwe eines Täufers (Calvin, CO 9, 576; van‘t Spijker, 2001, 152). Calvin nahm dann an den Religionsgesprächen in Hagenau (1540), Worms (1540/41) und Regensburg (1541) teil, wo er unter anderem Philipp Melanchthon kennenlernte. Eine kleine Schrift (Libellus de coena Domini; Calvin, CO 6, 537-588) fand auch Zustimmung seitens der Wittenberger. In Genf verschlechtert sich die Lage zusehends, vor allem, weil der Bischof von Savoyen (bzw. von Carpentras), Jakob Sadolet, die Genfer aufforderte, wieder zum römischen Glauben zurückzukehren. Calvin wurde durch den reformatorischen Flügel in Genf aufgefordert, Sadolet zu antworten (Responsio ad Sadoletum) was dieser auch tat. Am 13.9.1541 kehrte Calvin nach Genf zurück.

Dort wurden am 20.11.1541 die Ordonnances ecclésiastiques vom Rat der Stadt und der Bevölkerung angenommen (Calvin, CO 10, 15-30). Die neue Genfer Kirchenordnung atmete den Geist der Straßburger Reformation, war zugleich aber von Strenge und Kirchenzucht geprägt, was vor allem im Pestjahr 1545 in den vielen Hexenprozessen deutlich wurde. Die Gegnerschaft Calvins in Genf formierte sich weiter, hierzu gehörte vor allem die Auseinandersetzung mit Sebastian Castellio über Toleranz und Religionsfreiheit. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung um Calvins Theologie dürfte sicher im Verfahren gegen Michael Servet zu sehen sein, der von der Inquisition denunziert worden ist und sich auf dem Weg zum Täuferkongress (1553) in Venedig aus einem bislang unbekannten Grund in Genf aufhielt, wo Calvin aufgrund des Drucks der Carolina (Strafgerichtsordnung des Kaisers; Karl/Schröder, 2000) für die Verhaftung und Verurteilung Servets sorgen musste. Erst am 25.12.1559 wurde Calvin das Genfer Bürgerrecht angeboten, das er auch annahm; am 27.5.1564 verstarb er.

2.2. Der theologische Streiter

Die Rückkehr nach Genf am 13.9.1541 war für Calvin alles andere als einfach; Krisenmanagement war gefragt, was manchmal einigermaßen gelang, im Fall Servets aber völlig misslang. Einen ersten Höhepunkt der Konflikte mit der politischen Macht, die in der Hand des Rates der Stadt Genf und keineswegs bei Calvin lag, erlebte Calvin in der Auseinandersetzung mit Pierre Ameaux. Dieser war Eigentümer einer Spielkartenproduktionsfirma gewesen, die er aber wegen einer Ehescheidungsangelegenheit und wegen der besonderen Moralsituation in Genf hatte aufgeben müssen (van’t Spijker, 2001). Der Rat drängte auf Versöhnung der Eheleute, wozu sich Ameaux jedoch nicht durchringen konnte; schließlich gab es dann doch die Scheidung. Ameaux äußerte dann während eines privaten Essens Kritik sowohl am Rat der Stadt Genf als auch an Calvin selbst, was Spitzel dann dem Rat und Calvin überbrachten.

Eine zweite Genfer Widerstandsgruppe gegen Calvin, zu der vor allem alteingesessene Familien gehörten, beugte sich nicht der Autorität Calvins, der für sie eine fremde Bedrohung und Einmischung darstellte. Einer Aufforderung, vor dem Kirchenrat zu erscheinen, kamen sie nicht nach und wurden dann dazu gezwungen. Danach wurden Gottesdienste gestört, das offizielle Tanzverbot, das seit 1539 in der Stadt existierte, ignoriert und Ermahnungen gegen Glücksspiele aller Art verhallten ergebnislos. Wegen einer Theateraufführung kam es dann zum Eklat, in dem Calvin zwar vermittelte, aber einen wahrnehmbaren Riss gab es danach zwischen Genfer Pfarrer- und Bürgerschaft. Zwischen den verschiedenen politischen Gruppen der Bürgerschaft und des Rats, der Pfarrerschaft, der Gesinnungsgenossinnen und Genossen Calvins kam es auch in der Folgezeit zu erheblichen Spannungen und Konflikten, und Calvin saß oft genug zwischen allen Stühlen. Das Misstrauen der Stadt Bern, die sich in einem Bündnis mit Genf befand, wurde durch die Allianzgerüchte mit Frankreich verschärft; im Dezember 1547 kam es im Rat der Stadt Genf (Rat der Zweihundert) zu einem blutigen Tumult und Handgemenge, das Calvin nur so schlichten konnte, indem er sich ins Getümmel zwischen die streitenden Parteien warf (van’t Spijker, 2001, 174). Der eigentliche Konfliktstoff Ende der 1540ger war die Frage der Zuständigkeiten: Ist die Kirche für die Bestrafung sittlicher Delikte zuständig und inwieweit darf sich der Rat in religiöse und kirchliche Angelegenheiten einmischen?

2.3. Michael Servet

Ein ganz anderer Konfliktherd war die Auseinandersetzung um Michael Servet – hier ging es um das theologische Proprium auf der einen Seite und auf der anderen Seite natürlich auch wieder um Politik, denn ein offener Konflikt mit dem Kaiser hätte durchaus das Ende der Genfer Reformation bedeuten können (Calvin, CO 12, 283). Calvin war aufgrund der konfliktreichen mehrjährigen Beziehungsgeschichte zwischen ihm und Servet der Überzeugung, dass man mit Servet weder vernünftig reden noch theologisch disputieren könne, was auf Calvins Erfahrung aufgrund seines Briefwechsels mit Servet beruhte (Briefwechsel zwischen Calvin und Servet in CO 8, 649-714). Michael Servet (geboren 1511 in Aragon) gerät mit den Reformatoren in Straßburg und Basel über die Frage in Streit, ob das Wort Gott zur Gänze Mensch geworden sei; auch die Ketzerfrage entzweite die Reformatoren mit Servet. 1531 veröffentlichte Servet zwei Schriften gegen die traditionelle Trinitätslehre, in denen nur Gott als Schöpfer anerkannt wurde, Sohn und Geist seien göttliche Wirkweisen (Monarchianismus); Servet ging nach Paris, um dort Medizin zu studieren, danach hielt er sich in Lyon auf. In Vienne praktizierte er 1540 als Arzt im Dienst des Erzbischofs und veröffentlichte ein Werk über den Blutkreislauf; theologisch forderte er die Christinnen und Christen auf, zu den Quellen zurückzukehren und sich von Kirchenväterliteratur usw. zurückzuhalten; zum Sünder/zur Sünderin werde man erst ab 20 Lebensjahren und könne sie durch Taufe, Abendmahl und gute Werke auslöschen. 1552/1553 ließ Servet dann doch noch sein umstrittenes Werk Christianismi restitutio (Servet 1553) in Vienne drucken. Auf Umwegen kam das Buch nach Genf zu Calvin. Zudem geriet Servet mit seiner zum Teil zum Protestantismus übergetretenen Verwandtschaft in Konflikt. Servet wurde angezeigt und festgenommen und Calvin hatte möglicherweise durch Mittelsmänner seine Hand im Spiel gehabt (van’t Spijker, 2001, 179). Servet konnte jedoch fliehen, und wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt und seine Bücher symbolisch verbrannt; er versuchte nach Neapel zu fliehen und vorher beim Täuferkongress in Venedig Station zu machen. Aus bislang ungeklärten Gründen nahm er den Weg über Genf. Servet kam am 13.8.1553 in Genf an, wo er während eines Gottesdienstes von Lyoner Brüdern erkannt wurde, die Calvin benachrichtigten, der wiederum den Magistrat der Stadt Genf informierte. Der Magistrat ließ daraufhin Servet am gleichen Tag noch festnehmen. Nach der Rechtsordnung Karl V. „Carolina“ (Karl & Schroeder, 2000) hätte Calvin als Ankläger genauso wie der Angeklagte in Haft genommen werden müssen; stattdessen wurde Calvins Sekretär Nicolas de la Fontaine ins Gefängnis gebracht, bis der öffentliche Ankläger die Sache übernahm (van’t Spijker, 2001, 179). Servet wurde in 39 Punkten angeklagt, wobei der Magistrat sich die französische Ketzerei Anklage, d.h. letztlich theologische Motive, zu eigen machte. Calvin fungierte als theologischer Sachverständiger. Das Bekenntnis zur Dreieinigkeit galt seit den Zeiten Justinians auch zivilrechtlich als Zugehörigkeitsmerkmal zum christlichen Gemeinwesen. Gutachten der anderen Kantone aus Misstrauen gegenüber Calvin wurden eingeholt und die Stadt klagte Servet an, übrigens durch einen Gegner Calvins (Calvin, CO 14, 611). Das Vienner Gericht verlangte die Auslieferung Servets, aber die Genfer lieferten Servet nicht aus, sondern machten ihm selbst den Prozess. Calvin hatte indirekt an der Verurteilung Servets mitgewirkt und den Genfer Magistrat in der Bezugnahme auf die Carolina (Strafgerichtsordnung des Kaisers) juristisch unterstützt. Gekränkt und geblendet durch das Verhalten Servets im Briefwechsel und in der direkten Konfrontation überließ dann Calvin dem Magistrat die Macht, die dieser auch nutzte. Und ganz gewiss hat Calvin mit seiner Schrift Defensio orthodoxae fidei de sacra Trinitate (Calvin, CO 8, 453-644) das Bekenntnis zum dreieinigen Gott zur alleinigen Richtschnur theologischer Lehre gemacht und „Ketzer“ müssten mit dem Schwert gerichtet werden, um die Einheit der Kirche zu bewahren; nicht nur ein theologisch fataler Denkfehler Calvins.

Der Konflikt mit Sebastian Castellio erreicht mit dem Servetprozess seinen Höhepunkt, denn in seinem berühmt gewordenen Werk, ob Ketzer bestraft werden müssen, kritisierte Castellio Calvin und unterstellt diesem, dass er in Servet nur noch ein Ungeheuer und nicht mehr einen Menschen gesehen habe (vgl. Pfisterer, 1957, 45), was durchaus eine genaue Beobachtung der Geschehnisse durch Castellio wiedergibt.

Letztlich war es diese irenische Grundposition, die ihn sowohl bei Calvin und dessen Anhängern in Genf und bei Katholiken gleichermaßen verdächtigt erscheinen ließ. Anders als Calvin präferierte Castellio die christliche Liebespraxis vor der rechten Lehre, auch wenn er zugab, z.B. die Schriften Servets gar nicht gelesen zu haben. Über Castellios Lebenslauf wissen wir relativ wenig und müssen vieles aus seinen Schriften rekonstruieren (Guggisberg, 1997, 9 und Anm.1). Castellio verließ Genf und zog nach Basel um, wo er zwar viele der städtischen Größen kannte, aber doch zeitlebens ein Fremder, ein Geduldeter, blieb. In Basel sollten neben den Toleranzschriften vor allem auch die Bibelübersetzungen Castellios ins Französische und ins Lateinische erscheinen. Im Widmungsschreiben der lateinischen Übersetzung kommt ein Gedanke vor, der später in den Toleranzschriften wiederholt werden wird:

„Weil die Christen in ihrer Unwissenheit über die Bedeutung vieler Aussagen der Heiligen Schrift uneinig sind, bekämpfen sie einander aufs heftigste und schrecken selbst vor Mord und Totschlag nicht zurück. Sie versäumen es, die großen Beispiele der Milde und Duldsamkeit nachzuahmen, die ihnen in der Bibel vorgehalten werden. Bei ihren Gewalttätigkeiten behaupten sie sogar, im Namen Gottes zu handeln.“ (Guggisberg, 1997, 61)

Servet wurde am 27.10.1553 auf der Hinrichtungsstätte von Champel vor den Toren Genfs als Ketzer, als Wiedertäufer und Antitrinitarier verbrannt. Zur Vorgehensweise des Genfer Magistrats gab es innerhalb der Schweizer Eidgenossenschaft nicht nur Zustimmung, sondern vor allem aus Basel kam auch aus den humanistisch gesonnenen niederländischen und italienischen und französischen Flüchtlingskreisen um Castellio Kritik. Diese wurde jedoch in erster Linie an Calvin und nicht am Genfer Magistrat geübt. März 1554 erschien unter dem Pseudonym Martinus Bellius Castellios Schrift De haereticis an sint persequendi (Über die Ketzer, ob man sie verfolgen soll), wobei nicht ganz klar ist, ob diese Schrift eine Reaktion auf Calvins Defensio darstellt oder schon vor dem Servetprozess geschrieben war. Später im gleichen Jahr (1554) folgte das Manuskript Contra libellum Calvini (Guggisberg, 1984, 88). Castellio bezeichnete indirekt die polemische Haltung seiner Kollegen aus Genf als Hochmut, die den Nächsten als Nächsten nicht ertragen könne. Er schieb eindringlich, dass er aus Gewissensgründen handele und nicht anders könne und dass Menschen, die in der Lehrmeinung anderer Ansicht als die Orthodoxie seien, von Christus keineswegs mit dem Tod bestraft würden. Als Ketzer sehe er die Menschen, die in Glaubensdingen irren, aber vielleicht durch Bezug auf biblische Weisung und Ermahnung von ihrem Irrtum abgebracht werden könnten. Die Genfer Reaktion auf diese massiven Vorwürfe ließ auch nicht lang auf sich warten. Im Februar 1554 erschienen Calvins Schrift Defensio orthodoxae fidei (Calvin, CO 8, 453-644), fertiggestellt schon im Dezember 1553, und die Schrift von Beza „De haereticis a civili magistratu puniendis libellus, adversus Martini Bellii farraginem et novorum Academiecorum sectam“ (=Antibellius), die den christlichen Richtern bzw. christlicher Obrigkeit grundsätzlich erlaubte, Ketzer zu bestrafen. Vor allem Calvin argumentierte hier von den Grundbekenntnissen der Christenheit her und sah durch Ketzerei die Einheit der Kirche und des christlichen Glaubens grundsätzlich gefährdet, sodass für ihn Unterdrückung der persönlich-individuellen Geistes- und Glaubensfreiheit Mittel der Wahl war. Calvin stimmte Castellio zu, dass das Reich Gottes nicht mit Waffengewalt erreicht werden könne, sondern allein durch Überzeugungsarbeit und durch die Predigt des Evangeliums. Aber gleichzeitig betonte er den Schutz der Kirche, auch wenn niemand grundsätzlich zum Glauben gezwungen werden könne. Die von Castellio vorgebrachten optimistisch-humanistischen Toleranzargumente lehnte Calvin ab.

2.4. Friedensethik Calvins

Calvin ist unter uns Heutigen nicht als Friedensethiker bekannt – trotzdem lohnt sich der Versuch, eine gemeindliche Friedensethik zu thematisieren (Schwendemann, 2016, 110-122).

Hier die Spuren einer auch heute noch diskursfähigen Argumentation im Sinn eines Beitrags zur Friedensethik offenzulegen, ist bei Calvin mühsam, doch lohnenswert, auch wenn er kein Lehrbuch zur Ethik vorgelegt hat (Hofheinz, 2012, 7). Im Genfer Katechismus betont Calvin, dass sich menschliches Handeln an der Gloria Dei zu orientieren habe (Hofheinz, 2012, 18) und sich so ein dialogisch-dialektischer Zusammenhang zwischen der Ehre Gottes und der Gemeinschaft der Menschen herstelle (Strohm, 2009, 85-100, hier 95). Im Kontakt mit den verfolgten Protestanten in Frankreich (Hugenotten) schärfte Calvin theologisch seine Friedensethik mit dem Begriff der Königsherrschaft Christi (Hofheinz, 2012, 21; Calvin/Schwarz, 1962, 953;1097). Im Genesiskommentar wird das Nachjagen des Friedens als mustergültiges menschliches Grundverhalten beschrieben (Hofheinz, 2012, 35f.; Calvin, CO 23, 229; CO 36, 65). Calvin begnügte sich nicht mit einem negativen Friedensbegriff (Hofheinz, 2012, 39) (Abwesenheit von Gewalt; 1.Kor 14, 33; Röm12, 18), sondern rekurrierte auf den biblischen Begriff des Shalom (Calvin, CO 45, 52). Daneben existiere ein geistlicher Frieden als pax spiritualis und damit als Kontur des Rechtfertigungsgeschehens (Hofheinz, 2012, 44; CO 37, 321). Calvin unterschied die beiden Relationen Gott - Mensch // Mensch - Mensch und warnte vor einer Identifikation des äußerlichen Friedens mit geistlichem inneren Frieden (Hofheinz, 2012, 51). Wie ist aber der Zusammenhang von äußerem /zwischenmenschlichem Frieden und innerem Frieden (zwischen Gott und Mensch beschaffen)? Nach Hofheinz antworte Calvin auf diese Frage mit einer chalzedonensischen Logik: „Gottes Stiftung des Friedens zwischen sich selbst und dem Menschen (Gott-Mensch) und die Stiftung des Friedens zwischen den Menschen (Mensch-Mensch) gehören als zwei Momente des Friedenshandelns Gottes zusammen“ (Hofheinz, 2012, 58). Beide Dimensionen sind komplementär innerhalb und durch das Versöhnungsgeschehen und das Versöhnungswerk Christi miteinander verbunden (Hofheinz, 2012, 58). Kirche, und damit ist auch immer die konkrete Gemeinde gemeint, habe nach Calvins Ansicht zuallererst der Ort des Friedens zu sein und Kirche sei die zu lernende Anfangsgeschichte des Reiches Gottes (Hofheinz, 2012, 65; Geyer/Goebel, 2003, 394-434). Die Versöhnung in Christus habe so eine ekklesiologische Pointe (Calvin, CO 52,123f.). Leider hielt Calvin diesen Referenzrahmen in Bezug auf Ketzer und Häretiker nicht durch (Strohm, 2009, 219-236).

Krieg ist in dieser Denkbewegung eine grundsätzliche Missachtung des Willens Gottes (Hofheinz, 2012, 138).

2.5. Theologische Problemanzeigen

Calvins Theologie ist sehr stark an seinen bibelwissenschaftlich-exegetischen Erkenntnissen orientiert; so hat er eine Vielzahl biblischer Bücher ausgiebig kommentiert. In Calvins Vorrede zur Olivetanbibel 1535 ist seine Theologie des Heiligen Geistes in nuce angelegt (CStA 1.1, 45.49). Im Unterschied zur ersten Generation der → Reformation orientierte sich Calvin erkenntnistheoretisch an der Frage nach der Erkenntnis Gottes, die er unter Zuhilfenahme vor allem der platonischen Philosophie in seiner Institutio, die die bedeutendste evangelische Dogmatik des Zeitalters darstellte, klärte. Vollständige Gotteserkenntnis, die eine gewisse natürliche Gotteserkenntnis bei den Heiden miteinschließe, sei aber nur im Licht des Evangeliums möglich, d.h. das Evangelium gehe der Vernunfterkenntnis voraus, weil die Vernunfterkenntnis noch durch den sündigen Stand des Menschen gebunden bleibe. Das Evangelium wirke als erlösende Kraft gegenüber der Vernunfterkenntnis des Menschen. Ohne das Handeln Gottes bleibe der Mensch Gott fern und sei verwirrt und zu keiner Selbsterkenntnis, die nicht Lüge wäre, imstande. Durch das Berührtwerden durch den Heiligen Geist vernehme der sündige Mensch im Schriftwort Gottes Wort. Die Sünde treffe den Menschen ganz als Geschöpf und er bedürfe deswegen auch des göttlichen Heilswirkens im Gesetz (triplex usus legis). Dem im Evangelium befreiten Menschen werde durch das Gesetz das Mittel an die Hand gegeben, in evangelischer Freiheit auch leben zu können, Gnade, Evangelium und Gesetz gehören für Calvin zusammen. In der Rezeption des Chalcedonense bemerkt Calvin in Inst. II.13.4 (Extra Calivinisticum) dass der Mensch Jesus ganz der Sohn Gottes gewesen, aber zugleich als Gottes Sohn an der Seite des Vaters geblieben sei. Jesus Christus sei ganz bei uns, aber doch er selbst. Person und Werk Christi kämen dem Menschen durch das Handeln des Geistes zu; der durch den Geist gewirkte Glauben erkenne, bejahe, vertraue und gehorche Gott, weil der Glaubende durch den Glauben an der Gemeinschaft mit Christus teilhabe.

Was passiert, wenn in der Heiligen Schrift gelesen wird? Gott mache sich uns als Heiliger in der Begegnung mit der Bibel als WORT Gottes kund, denn Gott selbst verleihe seinem WORT „unzweifelhafte Glaubwürdigkeit“ (Inst. I.6.2). Die Begegnung mit der Bibel als Gottes WORT sei ausschließlich Werk des Heiligen Geistes so, dass das menschliche Subjekt zum glaubenden und auf Gott vertrauenden Subjekt werde und dem Wort als WORT Gottes Glauben schenke. Deutlich wird in diesem Ansatz, dass allein der Heilige Geist Glauben schenkt und damit auch Glaubensgewissheit, wem der Mensch begegnet. Da nur Gott Gott bezeugen kann, kann er auch nur allein im Herzen der Glaubenden bezeugen, dass er durch die Heilige Schrift spricht. Der Schrift werde in dem Moment Glauben geschenkt, indem der Heilige Geist im menschlichen Subjekt Glauben schaffe. Nur dieses Wirken erlaube dem Glaubenden, an Christi Herrlichkeit teilzuhaben. Diesen Vorgang nennt Calvin Rechtfertigung, d.h., das glaubende Subjekt verdanke sich nicht sich selbst, sondern Gottes Gnade, die uns für gerecht hält; Gerechtigkeit komme uns zu und stamme nicht von uns oder sei keine menschliche Eigenschaft; der Heilige Geist lasse uns die Gerechtigkeit angedeihen (Inst. III.11.2). Christus sei der Mittler zwischen Gott und Mensch, wobei Christus lebt und deswegen die Ämter als Priester, König und Prophet nicht an eine kirchliche Institution abgeben könne (vgl. 2. Genfer Katechismus Fragen, 96-98). Über Luther hinausgehend, folgert Calvin aus dieser Zurechnung der Gerechtigkeit Christi Werke der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit der Werke hänge unmittelbar mit der → Rechtfertigung aus Glauben zusammen – aber auch hier ereigne sich eine Zurechnung der Gerechtigkeit. Das Zentrum der Theologie Calvins findet man in seinem Jeremia Kommentar: Wo Gott wahrgenommen bzw. erkannt werde, da werde auch für Menschlichkeit gesorgt (Calvin, CO 38, 388). Denn Rechtfertigung sei immer Freisprechung, durch die Gott den Menschen als Kind Gottes annimmt – die Annahme habe aber die Entdeckung der Humanitas zur Folge, weil die Sünden vergeben seien und die Anrechnung der Gerechtigkeit Christi den Menschen zur Liebe freisetze. Die Rechtfertigung als geistlicher Vorgang ist bei Calvin als Lebensermöglichung verstanden.

Wer an Christus teilhabe, so die ethische Konsequenz Calvins, könne sich nicht mit dem Unrecht in der Welt abfinden, denn der Maßstab unserer Alltagspraxis sei der irdische Jesus. Die Einheit von Rechtfertigung und Heiligung begreift Calvin in einer Gegenposition zum französischen Humanismus als Trachten nach dem zukünftigen Leben als meditatio futurae vitae (Inst. III.9.1). In der Verbindung von Rechtfertigung und Heiligung des Lebens gehen wir vom Tod ins Leben über (Inst. III.9.6); die Rechtfertigung habe ihr Ziel in der Heiligung, d.h. in der Ausrichtung unserer Lebenspraxis an dem Weg Jesu Christi.

Die Kraft zum Begreifen der Welt komme von Gott und wird von Calvin mit dem komplexen Begriff doctrina gefasst. Der lat. Begriff doctrina gehört wie der korrespondierende Begriff disciplina in das Wortfeld der Unterweisung; beide Begriffe gehen auch in ihrer mittelalterlich-geprägten Bedeutung auf antike Begrifflichkeiten zurück und meinen zuerst das Ergebnis einer Ausbildung bzw. den Bildungskanon insgesamt (Cicero, De off. 2, 5). Doctrina wird in der Genfer Reformationsgeschichte zum Zentralbegriff, immer zugleich ist die Frage nach der Lehre, die Frage nach der Predigt des Evangeliums und nach rechter Verkündigung: Lehre, Predigt, Verkündigung sind synonym zu gebrauchende Begriffe (Assonville, 2001, 15; Neuser, 2009; 1998; 1997; 1994; 1988; 1984; 1980; 1976; 1968). Doctrina ist praedicatio verbi divini, d.h. gepredigtes Evangelium (Assonville, 2001, 19). In der Vorrede zu Olivetans Bibelübersetzung nimmt Calvin – ähnlich wie Melanchthon – den Begriff „doctrina“ als Inbegriff christlicher Gelehrsamkeit und Persönlichkeitsbildung bzw. Frömmigkeit, was er als angemessene biblisch-christliche Haltung charakterisiert (vgl. Assonville, 2001, 62; Calvin, CO 9, 787-822; hier 790).

2.6. Ethik

Ökonomie und Ethik in Bezug auf das Gemeinwesen müssen harmonieren, d.h., Calvin war engagiert für eine Praxis sozialer und gerechter Solidarität, was sich vor allem in seinem Eintreten gegen Wucherzinsen lernen lässt (vgl. Kingdon, 1982, 212-230; Kingdon, 1985; Sermon 125 zu Dtn 22,1-4 Calvin, CO 28, 16f.). Calvin kam es auf gemeinschaftsfördernde weltliche Aktivitäten an, in der Nächstenliebe und Verpflichtung für das öffentliche Wohl als Ausdruck der Haltung gesehen werden kann, die Gott die Ehre erweist. Fragen des alltäglichen Umgangs oder auch ökonomische Fragestellungen rühren nach Calvins Überzeugung an Lebensfragen, denn alle Lebensprozesse hängen von der Erkenntnis Gottes ab. In dieser Bipolarität werden alle menschliche Seins- und Lebensbereiche in eine Beziehung zu Gottes Sein gesetzt wird: „Gott existiert zugunsten des Menschen, der seinerseits im Angesicht Gottes und für ihn lebt“ (Freudenberg, o.J., 2). Hier regiert jedoch kein ethischer Imperativ, sondern die Heiligung des Lebens wird von Calvin als Gottes befreiendes Handeln gedacht. Der Mensch antworte mit seiner Alltagspraxis dankbar auf Gottes Zuwendung. Nach Calvins Ansicht gehöre unbedingt der diakonische und sich für Gerechtigkeit einsetzende Charakter der Institution Kirche hinzu. Ein Blick auf die Predigten zum Buch Deuteronomium kann die bekannte These Max Webers des durch den Calvinismus entfesselten Kapitalismus korrigieren (vgl. Weber, 1988). Calvin kritisiert das Leben der Reichen auf Kosten der Armen (Inst. III.19.9). Christliche Freiheit soll so genutzt werden, dass im Alltagsleben Gott geehrt werde (Thiel, 1999) zielt darauf, dass Nichtstun gegen alle Formen von Armut der Nichtbegegnung mit Gott entspräche; der Reiche werde angesichts der Armut des Nächsten auf seinen Glauben geprüft. Die praktischen Konsequenzen dieser auf Gott hin ausgerichteten Beziehung sowohl des Reichen als auch des Armen sah Calvin der Gründung von Krankenhäusern, Waisenheimen, Armenhäusern, in der persönlichen Zuwendung durch Diakone.

Nur aus dieser soteriologisch gefärbten Christologie lässt sich Calvins Prädestinationslehre verstehen. Die theologische Lehre von der Erwählung (Prädestination) vor allem in der Prägung durch Johannes Calvin gehört zu den in der Kirchengeschichte seit der Reformation und der Dogmatik zu den am heftigsten umstrittenen Lehrstücken. Prädestination ist bei Calvin immer Geheimnis Gottes, das den Menschen umhüllt und das auf die uneingeschränkte Liebe Gottes verweist. Calvins Vorstellungen zur Prädestination sind abgeleitet aus der Christologie und gehören für ihn in den Kernbereich von diakonischer und seelsorglicher Kirche. Der von Gott geliebte Mensch sei erwählt und fürchte nichts und niemanden mehr, weil er sich in Gott aufgehoben wisse (Schümmer, 1991). Die biblische Zentralstelle ist Eph 1, 4-13 Die theologischen Grundfragen des Textes liegen auf der Hand: Wie verhalten sich Gnadenhandeln Gottes und christliches Handeln, Glauben zueinander und welche Rolle spielt in diesem komplexen Geflecht Jesus Christus? Gott entscheidet vor aller Zeit, wer durch Jesus Christus erwählt, d.h. auch gerechtfertigt und geheiligt wird. Zu dieser Erwählung kann niemand etwas beisteuern durch eigenes Tun und keiner kann sie durch eigenes Handeln verlieren. Diese „positive“ Seite der Erwählung lässt sich in Bezug auf Augustin, auf den sich Calvin bezieht, auch durchaus negativ verstehen, also als Verwerfung. Hier ist aber wichtig genauer hinzusehen, denn Calvin geht es nicht darum zu zeigen, wer erwählt oder wer verworfen ist; er schlägt sich also nicht auf die negative Seite der Prädestination! Die Erwählung der Christen lässt sich nach Calvin nur und ausschließlich im Licht der Gotteserkenntnis, im Licht des Evangeliums und nur von Christus her verstehen. Wenn wir, davon geht der Glaube aus, in Christus erwählt sind, können wir die Erwählung nicht und niemals mehr verlieren. Calvin spricht von der unaufhebbaren Versöhnungsgnade in Christus (Schümmer, 1991). Dieser Aspekt ist in Calvins Lehre, die sich auch auf die verfolgten Protestanten in Frankreich bezieht, zu berücksichtigen als seelsorglicher Akt und geistliche Unterstützung gerade im evangelischen Gottesdienst. Gerade die Verfolgten seien die Erwählten um Christi willen (Zweites Helvetisches Bekenntnis; Kurtz/Blanke/Niesel, 1966). Ein grobes Missverständnis der Calvinischen Lehre wäre es, den Trostcharakter der Prädestination übersehen zu wollen (Ernst-Habib, 2007). Erst der reformierte Theologe Karl Barth löste das sich immer wieder einstellende Missverständnis in der Rezeption Calvins auf. Es gehe nicht um die Entscheidung Gottes, die einen zu verwerfen und die anderen zu retten, sondern zuallererst um die Frage, ob Gott ein gnädiger Gott sein will. In Jesus Christus sei Gott selbst der Erwählte und der Verworfene zugleich und in Jesus Christus seien wir alle zugleich erwählt, d.h. es gibt kein Gegenüber von Erwählten und Nichterwählten (Barth, KD II/2, 368f.).

3. Didaktische Konsequenzen

3.1. Allgemeine religionspädagogische Überlegungen

Die Hintergründe der Genfer Bürgerreformation und ihrer Verbindung mit der Person Calvins sind ungemein spannend, sind aber eher für den Unterricht im Bereich der gymnasialen Oberstufe geeignet und dort im Bereich Kirche-Staat- Politik zu verorten. Verbindungen könnten dort zum reformierten Widerstand gegen Diktaturen führen und zum selbstbewussten Auftreten der „Christengemeinde“ in der „Bürgergemeinde“ (Karl Barth). Für die Thematisierung von Reformation im Sekundarstufen-Religionsunterricht wäre die Erkenntnis wichtig, dass Calvin nach Luther der wichtigste Reformator in der sog. zweiten Generation der Reformatoren/Reformatorinnen war (Dam, 2018, 79f.). Calvin dachte an eine andere Kirchenstruktur (Lehrer/zwei Diakone/Pfarrer, später kam dann noch der Arzt dazu) für jeden Genfer Stadtteil bzw. für jeden Genfer Predigtbezirk. Diese direkte Verbindung zwischen den Bestrebungen, Kirche und Gesellschaft umzustrukturieren, sind die Verbindungen historisch zum politischen Befreiungskampf der Niederlande bzw. zu den Befreiungsbewegungen in der Moderne (Puritaner, Presbyterianer, Theologie der Bekennenden Kirche/Barmer Theologische Erklärung usw., prot. Befreiungstheologie in Südamerika und Südafrika).

Religionspädagogisch wichtig ist die Calvinische Verbindung zwischen Rechtfertigung und Heiligung als Konsequenz pneumatologisch angelegter Bibellektüre. Calvins Theologie ist eine Theologie des Heiligen Geistes bis in die letzten Verästelungen ethischer Alltagspraxis hinein. Alle Bereiche des Lebens müssen sich an der Güte der Gottesbeziehung messen lassen, seien es die Bereiche des Erkennens, persönlichen Verhaltens, strukturelle Probleme in Wirtschaft, Ökologie und im Sozialraum. Auf der Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Accra/Ghana 2004 (WARC, 2004) wurde formuliert, dass ein „Bekenntnis des Glaubens angesichts von wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ökologischer Zerstörung (=Accra Confession) das gegenwärtige System der Weltwirtschaft und die Dominanz des „Imperiums“ einer harschen Kritik aussetzt“ (Freudenberg, o.J., 8/1). Calvin erinnert uns postmoderne Menschen daran, dass Freiheit, Gerechtigkeit und Gemeinschaftsbefähigung ihren Ursprung in der Annahme des Evangeliums haben, im Gefallenlassen der Liebe Gottes. Gemeinschaft mit Christus bedeutet im Sinn Calvins Erwähltsein, was Voraussetzung für das Ausüben einer Friedensethik im Bereich der Gemeinde sein wird. Die grundsätzliche Haltung der Gemeinde ist eine lernende.

3.2. Konsequenzen für den schulischen Religionsunterricht

Der evangelische und katholische Religionsunterricht im Gymnasium soll Schülerinnen und Schüler befähigen, „die Vielgestaltigkeit der Wirklichkeit wahrzunehmen „und theologisch zu reflektieren, christliche Deutungen mit anderen zu vergleichen, die Wahrheitsfrage zu stellen und eine eigene Position zu vertreten sowie sich in Freiheit auf religiöse Ausdrucks- und Sprachformen (zum Beispiel → Rituale und Symbole, → Symboldidaktik) einzulassen und sie mitzugestalten“ (Bildungsplan Baden-Württemberg, 2016, 8). Insbesondere die unterrichtlichen Prozesskompetenzen (Wahrnehmen und Darstellen, Deuten, Urteilen, Dialogfähigsein, und Gestalten) dienen diesem Bereich des Kompetenzerwerbs. Kognitiv-inhaltliche Kompetenzen (Geschichte der Reformation in Genf und die Biografie Calvins) können im Bereich der 7./8. Klasse in der Erschließungsdimension „Kirche“ helfen, den Blick über die lutherische Reformation in Wittenberg zu weiten und ein zweites Modell von Reformation wahrzunehmen. Am Beispiel der Ämterlehre Calvins wird die Verbindung zwischen der Verkündigung des Wortes Gottes und ethischer Alltagspraxis deutlich (→ Bildung und Erziehung, ethische). Darüber hinaus können sich Schülerinnen und Schüler mit heutigen kirchlichen und diakonischen Arbeitsfeldern bekanntmachen und die Verbindungen zur reformierten Lehre der Rechtfertigung und Heiligung ziehen (siehe Bildungsplan, 2016, 23).

Die inhaltlich-theologischen Kompetenzen, die im Religionsunterricht in der Beschäftigung mit der Biografie und Theologie Johannes Calvins erworben werden können, liegen auf der Hand. Im Bildungsplan Baden-Württemberg für die 7./8. Klasse heißt es in der Erschließungsdimension „Welt und Verantwortung“: „Die Schülerinnen und Schüler setzen sich mit Entscheidungskriterien und -instanzen für gerechtes Handeln auseinander“ (https://www.bildungsplaene-bw.de/,Lde/LS/BP2016BW/ALLG/GYM/REV/IK/7-8/02). Die Schülerinnen und Schüler sollen befähigt werden, Kriterien für gerechtes Handeln zu überprüfen und anhand von konkreten Beispielen Gewissensbildung zu erwerben. Die historischen Konflikte in der Lebensgeschichte Calvins, wie zum Beispiel die Auseinandersetzung mit Sebastian Castellio um religiöse Toleranz oder auch der Ketzerprozess gegen Michael Servet, eignen sich hervorragend für diese Lerndimension. Die gleiche Lerndimension in Klasse 9/10 stellt Schülerinnen und Schüler vor die Herausforderung, Zugänge zur Wirklichkeit sich zu erschließen, wobei diese Lerndimension dann Übergänge zur Lerndimension „Gott“ zulässt. Die Lernenden können „existenzielle Herausforderungen (zum Beispiel Erfolg, Glück, Sinn, Krisen, Krankheit, Verlust, Tod) zu Fragen nach Zufall, Schicksal und Wirken Gottes in Beziehung setzen“, wobei ihnen die Beschäftigung mit Calvins Biografie helfen kann (Bildungsplan, 2016, 27). Die Calvinsche Konstruktion von Gottes- und Selbsterkenntnis dürfte dabei herausfordernd sein. Die theologische Kritik Calvins an Tyrannen und Diktaturen („Tyrannenmord“) kann in einer Unterrichtseinheit zu →„Kirchen im Nationalsozialismus“ mit entsprechenden Überlegungen in der Bekennenden Kirche oder auch in der Biografie → Dietrich Bonhoeffers verbunden werden (Bildungsplan, 2016, 29). In der Lerndimension „Mensch“ in der Kursstufe der gymnasialen Oberstufe könnte am Beispiel theologisch-anthropologischer Kernaussagen der Institutio Calvins der Weg zu den reformierten Modellen der Begründung der Menschenwürde (→ Kinderrechte) bis hin zu den Menschenrechten in Erklärungen des Weltkirchenrates nachgezeichnet werden (vgl. https://www.ekd.de/news_2008_11_13_3_oerk_uno_menschenrechte.htm; Schwendemann/Stahmann, 2008). Die Schülerinnen und Schülern können dabei „das Verständnis von Freiheit und Verantwortung in christlicher Perspektive (Geschöpflichkeit, Rechtfertigung) zu einer anderen Sichtweise (zum Beispiel I. Kant, S. Freud, A. Camus, G. Roth) in Beziehung setzen“ (Bildungsplan, 2016, 31). In der Dimension „Kirche und Kirchen“ können die Schülerinnen und Schüler die Grundzüge des evangelisch-reformierten Kirchenverständnisses erläutern und sie sind in der Lage, ausgewählte historische Erscheinungsformen der reformierten Kirche wahrzunehmen und dazu begründete Stellungnahmen zu verfassen (Bildungsplan, 2016, 35).

Literaturverzeichnis

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