Christsein in den 1960er Jahren
(erstellt: Februar 2021)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Christsein_in_den_1960er_Jahren.200939
1. Vergangenheit, die andauert
Abkehr von den Kirchen, Krise traditioneller Frömmigkeitspraktiken, Individualisierung von Glaubensvorstellungen, Streit um Geschlecht, → Sexualität
2. Die verlorene Selbstverständlichkeit: Christsein im Veränderungsmodus
2.1. Zeit des Wandels
Von den späten 1950er Jahren bis in die frühen 1970er Jahre durchliefen die westlichen Gesellschaften einen fundamentalen Strukturwandel, der mit der Chiffre „1968“ nur unzureichend beschrieben werden kann. Lebensstile, Werte (→ Wertebildung
2.2. Niedergang traditioneller Frömmigkeitsformen
Greifbar wird der Wandel in einer tiefgreifenden Veränderung der religiösen Praxis weiter Bevölkerungskreise. Für Deutschland kann zwar nicht wie etwa in Bezug auf Großbritannien von einem „Zusammenbruch der gesamten religiösen Kultur“ (Brown, 2009, 2) gesprochen werden, die statistischen Befunde sind jedoch eindeutig: In den 1960er Jahren begann jener Prozess der stetigen Verringerung der Inanspruchnahme kirchlicher Passageriten und Abnahme kirchlich gebundener Frömmigkeitsformen, der im Grunde bis in die Gegenwart anhält. Erste Anzeichen zeigten sich schon in der ersten Hälfte des Jahrzehnts, die zweite Hälfte war dann in beiden Konfessionen geprägt von dramatischen Rückgängen etwa bei Taufen, kirchlichen Heiraten und auch Gottesdienstbesuchen. Im katholischen Bereich geriet auch die Beichtpraxis in die Krise und die Zahl der Neupriester ging dramatisch zurück. Waren 1962 noch 557 junge Männer in den deutschen (Erz-)Bistümern zu Priestern geweiht worden, waren es 1972 nur noch 242. In beiden Konfessionen war der Rückgang der jüngeren Generation bei Formen der traditionellen Frömmigkeitspraxis besonders stark (→ Jugend, Religion
2.3. Aufschwung theologischen Nachdenkens
Es ist umstritten, ob aus den statistischen Befunden ein umfassender Niedergang und eine weitgehende Marginalisierung von Religion und Kirche in den 1960er Jahren abzuleiten ist. Die Veränderungen, die aus sozialwissenschaftlicher Perspektive etwa als „Absturz in die Moderne“, (Gabriel, 2000) oder radikaler „Traditionsabbruch“ (Pollack, 2017) gesehen werden, werden in der (kirchen-)geschichtswissenschaftlichen Forschung eher als Transformationen beschrieben (Damberg, 2011; ähnlich Ziemann, 2014). Christliche Identitätsbildung (→ Identität, religiöse
2.4. Die Entdeckung der Welt
Nicht zuletzt als Ergebnis einer veränderten theologischen Diskussion veränderte sich für viele Christinnen und Christen das Verhältnis von Religion und Welt, Transzendenz und Immanenz enorm. Natürlich war die Welt für Christinnen und Christen beider Konfessionen auch vorher wichtig und z. B. soziales Engagement integraler Bestandteil christlicher Identität. Beide Kirchen bemühten sich grade in der Nachkriegszeit zudem durchaus entschieden um politische Einflussnahme. Aber die Welt war innerhalb dieses Denkmodells doch etwas Sekundäres, sie war nicht so wichtig oder sie gewann ihre Bedeutung erst durch eine religiöse Rahmung und erschien als zu verchristlichender Bereich. Im katholischen Bereich nicht zuletzt befördert durch das Zweite Vatikanische Konzil, aber sicher auch beeinflusst von der allgemeinen Politisierungswelle in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts wandten sich viele Mitglieder beider Konfessionen nun intensiv Gesellschaft und Politik zu. Die Welt wurde für sie zum eigentlichen Bewährungsfeld des Christlichen. → Menschenrechte
2.5. Veränderungen in Liturgie und pastoraler Praxis
Die Grenze zwischen Religion und Welt wurde selbst im Kernbereich der Liturgie fluider. So etablierte etwa in Köln ein überkonfessioneller Kreis um Dorothee Sölle „Politische Nachtgebete“, die politische und liturgisch-religiöse Praxis (→ Liturgische Bildung
Auch in der pastoralen Praxis wurden gerade im katholischen Bereich → Gott
2.6. Pluralisierung des Christlichen im Streit
Es war also vielfach nicht mehr klar, was wirklich spezifisch christlich war und zunehmend sogar umstritten, ob zur „Christlichkeit“ zwingend ein religiöser oder biblischer Bezug gehörte. War die Mitarbeit in einem Dritte-Welt-Arbeitskreis ein „Gottesdienst“ (→ Gottesdienst
Die Unsicherheit über das „Christliche“ eröffneten in dem Jahrzehnt, in dem traditionelle Vorstelllungen ihre Wirkmächtigkeit noch nicht weitgehend verloren hatten und völlig andere Konzepte von vielen aufgegriffen wurden, einen breiten Raum der Diskussion, oft sogar des Streits. Deutlich wird das etwa an den Kirchen- (→ Deutscher Evangelischer Kirchentag
3. Heutige Deutungskämpfe
Noch im Jahr 2020 machte der emeritierte Papst Benedikt XVI. den Wandel der 1960er Jahre für den sexuellen Missbrauch von Kindern verantwortlich. Neben den gesellschaftlichen Veränderungen und Bemühungen um sexuelle Aufklärung von Seiten der Regierungen habe dazu auch ein damaliger „Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie“ beigetragen, der die „Kirche schutzlos gegenüber den Vorgängen in der Gesellschaft“ (Ratzinger, 2019) gemacht habe. Diese Stellungnahme steht symptomatisch für die Deutungskämpfe, die um die Veränderungen bis heute ausgefochten werden. Wesentliche Linien dieser Auseinandersetzung wurden schon zeitgenössisch gezogen. Schienen Veränderungen den einen für Aufbruch, Offenheit, Lebendigkeit, Hoffnung und eine neue Attraktivität der Kirchen zu stehen, sorgten sie bei anderen dafür, die jeweilige Kirche in einer Krise zu sehen, sowie ein Nachlassen der Glaubenskraft zu konstatieren. So geht es den einen heute darum, die Ansätze der 1960er fortzuführen und zu vollenden, den anderen, wie dem ehemaligen Papst Benedikt XVI., sie zurückzudrängen und zu überwinden. In diesem Spannungsfeld steht nicht zuletzt jeder historische Rückblick und man tut gut daran, sich diese Problematik bei jeder Beschäftigung mit diesem „Satteljahrzehnt“ bewusst zu machen.
4. Christsein in der 1960er Jahren als Thema religiöser Bildungsprozesse
Für die Beschäftigung mit den 1960er Jahren in Bildungszusammenhängen von → Schule
Als vorteilhaft erweist sich dabei, dass die schriftliche Überlieferung auch im lokalen Rahmen seit Beginn des Jahrzehnts stark ansteigt. Die zunehmende Verbreitung von Hektografiergeräten ermöglichte vielen Gemeinden die Herausgabe von Gemeindebriefen, Aufrufen, Flugblättern und Ähnliches und schuf damit im Zusammenspiel mit der enorm verbreiterten Diskussionskultur oftmals eine breite Grundlage für heutige Nachforschungen auch auf lokaler Ebene. Gerade um eine Erfahrungsgeschichte des Jahrzehnts schreiben zu können, ist zudem die Methode der „oral history“ (→ Zeitzeugenbefragung
Literaturverzeichnis
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