Deutsche Bibelgesellschaft

Andere Schreibweise: Erinnerungskultur, Erinnerungslernen, Gedenken, Remembrance, Memory

(erstellt: Januar 2015; letzte Änderung: Februar 2025)

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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.100048

1. Einleitung

Die Begriffe ‚Erinnerung‘ und ‚Erinnerungslernen‘ wurden im deutschen Sprachraum im Kontext von Bildungsprozessen in den letzten Jahrzehnten fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem historischen und gesellschaftlichen Gedenken an den Holocaust (der Schoah; → Auschwitz/Auschwitz-Gedenken) verwendet. Insofern behandelt dieser Artikel auch zentrale Aspekte der sogenannten Holocaust-Education (Matthes, Meilhammer 2015), aber der Begriff des Erinnerungslernens und dieser Artikel beschränkt sich nicht allein auf historische Kontexte des Holocaust. Ferner wird hier auch der Begriff der Shoa als jüdische Selbstbezeichnung für die Massenvernichtung von Juden und Jüdinnen im Nationalsozialismus anstatt des griechischen Begriffs Holocaust gebraucht, der aus einem dem Geschehen fremden Kontext ritueller Opferpraxis stammt.

Erinnern ist niemals eine ausschließlich rückwärts, in die Vergangenheit gewandte Bewegung, wenngleich sie die Voraussetzung für Gedenken und Lernen ist und im Blick auf die Würde der Opfer ihre eigene Bedeutung hat. Der Lernprozess im Erinnern zielt jedoch immer auch auf die Verbindung mit der Gegenwart und ihre Interessen am Erinnern. Lernende (→ Lernende/Lehrende) sollen angesichts der vergangenen Ereignisse sensibilisiert werden für gegenwärtige Prozesse in der → Gesellschaft und in der Welt, um Mechanismen der Demütigung, Ausgrenzung, des Hasses und der Gewalt besser verstehen, kritisch bewerten und im Idealfall bekämpfen zu können.

Diese doppelte Bewegung – vergangenheits- und zugleich gegenwarts- bzw. zukunftsorientiert – führt Erinnerung und Erinnerungslernen in die unmittelbare Nähe von religiösen Lehr-Lernprozessen im Horizont der jüdischen und christlichen Tradition, die von einer analogen Bewegung bestimmt sind: dem Blick zurück, insbesondere auf die Geschichte des Leidens – und gleichzeitig dem Blick nach vorn, in Gegenwart und Zukunft des Zusammenlebens der Menschen. Diese doppelte Blickrichtung ist für die religiöse Tradition des Christentums charakteristisch. Sie wurde dabei von der jüdischen Kultur des Erinnerns inspiriert. Aus diesem Grunde sind religiöse Lehr-Lernprozesse besonders ‚erinnerungssensibel‘.

Erinnerung/Erinnerungslernen (bzw. synonym ‚Gedenken‘) werden im Folgenden in christlich-theologischer und religionspädagogischer Hinsicht reflektiert. Christliche Erinnerung knüpft dabei an biblische Traditionen und an Kontexte z.B. gelebten Judentums in der Antike an und es gibt deshalb überlappende Konsense zum jüdischen Erinnerungslernen (→ Erinnerungslernen, jüdisch). Beide unterscheiden sich aber auch voneinander aufgrund je eigener sozialer und kultureller Kontexte und ihrer je eigenen Geschichten.

2. Erinnerung als christlich-theologische Kategorie

Im Kontext religiösen Lernens gilt es, wie bereits oben angedeutet, zunächst einmal, sich über die basale Bedeutung des Erinnerns für die Religionspädagogik klar zu werden. Einerseits im Kontext religiöser Traditionen, andererseits für das Verhältnis jeder einzelnen Person, einzelner kultureller und religiöser Kontexte zu ihrem Selbstverständnis (Konz, 2019). In der Tradition der Bibel erfolgt es z.B. stets als Erinnerung an biblische Geschichten und Erzählungen von Menschen, die aus der Beziehung zu Gott (→ Gott) lebten bzw. ihre Welt, Wirklichkeit und Erlebnisse im Horizont der Gottesbeziehung deuteten (→ Erinnerungslernen, jüdisch; Greve, 1999). Diese Erfahrungen und Deutungen finden sich in den Texten der Bibel wieder. Biblisches Lernen (→ Bibeldidaktik, Grundfragen) ist im Christentum zu einem bedeutenden Teil Erinnerungslernen, da durch die Erzählungen (→ Erzählen) und Deutungen den Lernenden von heute Muster angeboten werden, wie sie ihre Welt und ihre eigenen Erlebnisse interpretieren und neu verstehen können. In ähnlicher Weise wird dies sicherlich insbesondere für das Judentum, aber auch von anderen Schriftreligionen gesagt werden können. Für die christliche Religionspädagogik ist allerdings mit der Shoa die explizite Verpflichtung entstanden, dass der Religionsunterricht aktiv Grundlagen der jüdischen Religion und Kultur vermittelt und nachvollziehbar macht, wie sehr das christliche Erinnern in Korrespondenz zum jüdischen Erinnern entstanden ist.

Prägnantes Beispiel dafür ist der jüdische Kalender und Jahresfestkreis, den jüdische Kinder meist von klein an auf jährlich wiederholende Weise kennenlernen und dessen Rhythmen und Feste stets erinnerungsbezogen sind (→ Erinnerungslernen, jüdisch; Demsky und andere, 2007; Brumlik, 2021, 2018). Jüdisches Leben ist dabei von großer Pluralität geprägt. An den vielen verschiedenen Lebensorten von Jüdinnen und Juden weltweit, die sich religiös oder eben auch säkular als jüdisch verstehen, wird unterschiedlich mit dem jüdischen Kalender und den jüdischen Festen umgegangen. Religiös gesehen unterscheidet man unter anderem zwischen orthodoxen, liberalen und ultraorthodoxen Gemeinden, was auf das Erinnern z.B. an Pessach oder dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, dem Versöhnungstag, Auswirkungen hat. An Pessach, das auch für die Anhängerinnen und Anhänger des Jesus von Nazareth maßgeblich war und das fast zeitgleich zu Ostern gefeiert wird, wird so z.B. der Exodus erinnert. Der Auszug aus Ägypten wird mit Erzählungen und Riten lebendig gemacht, so dass sich die Feiernden persönlich und miteinander im Exodusgeschehen verbinden können. Eine individuelle und eine kollektive Dimension von Erinnerung verschmelzen, beide zusammen wirken identitätsbildend – als individuelle ebenso wie als soziale Identität im Sinne von Zugehörigkeit (Brumlik, 2021, 4.). Der Exodus ist auch für die christliche Tradition von zentraler Bedeutung für die individuelle wie die kollektive Identifikation mit der eigenen Religion, gerade in ihrer Funktion als Empowerment (→ Nachfolge (als freiheitliche und lebensfördernde theologische Praxis)).

Christliche Erinnerung nimmt ihren Ausgang bei den Erzählungen der biblischen Botschaft im ersten und zweiten Testament und fokussiert auf die Narrative zu Leben, Botschaft und Schicksal des Juden Jesus von Nazareth (→ Christus/Christologie). Die Briefliteratur sowie die Evangelien des Neuen Testaments deuten Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi (→ Passion und Auferstehung, bibeldidaktisch, Grundschule; → Passion und Auferstehung, bibeldidaktisch, Sekundarstufe) so, dass sie zum umfassenden Interpretations- und Verständnisrahmen der Glaubenden werden können. Traditionelles religiöses Lernen in Katechese (→ Katechese/Katechetik), Predigt und christlicher Bildung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene ist demnach Deutungslernen im Kontext von Erinnerung.

Diese religiöse Erinnerung ist jedoch nicht identisch mit historischer Vergewisserung. Erinnerung im religiösen Sinne fragt nach Deutungen und Bedeutungen von historischen Ereignissen, an die beispielsweise in den Heiligen Schriften erinnert werden. Damit unterscheidet sie sich zentral von geschichtswissenschaftlich basierter Historiographie, die versucht, möglichst genaue Rekonstruktionen der historischen Sachverhalte zu gewährleisten (zur Unterscheidung von Erinnern und historischer Rekonstruktion: Yerushalmi, 1988). Doch beide Größen, Erinnerung und Geschichte, sind nicht unabhängig voneinander, sondern sind in einem reziproken Verhältnis zu verstehen: (Religiöse) Erinnerung braucht historisch-kritische Reflexion, Historiographie braucht deutende Orientierung.

Die Generation der Theologinnen und Theologen, die nach dem 2. Weltkrieg lebten und lehrten, haben sich intensiv damit auseinandergesetzt, wie eine Theologie nach Auschwitz möglich sein kann. Zu ihnen gehörte besonders bedeutend der römisch-katholische Fundamentaltheologe Johann Baptist Metz (1928-2019). Er hat in Abgrenzung zu griechisch-platonischem Erinnerungsdenken (z.B. Platons Anamnesis-Lehre) und dessen Wirkungsgeschichte unter Rückgriff auf ein biblisches Verständnis sowie auf jüdische Theologien (→ Theologie) und Philosophien (insbesondere Walter Benjamin) Erinnerung als zentrale theologische Kategorie aufgenommen und theologisch reflektiert (Metz, 1992a). Metz sah im Gedenken der Leidenssituationen in der Menschheitsgeschichte als memoria passionis einen Schlüssel für theologische Geschichts- und Gegenwartsdeutung (Metz, 2006). Das Leiden in Auschwitz (→ Auschwitz/Auschwitz-Gedenken) ist für eine leidsensible Theologie und Vorstellung von Glaubensgemeinschaft zentraler Ort theologischer Erkenntnis geworden (Petzel/Reck, 2003). Auf evangelischer Seite wirkten Dorothee Sölle (1965) und Jürgen Moltmann (1972) einer Kultur des Vergessens und Verdrängens entgegen und setzten sich hier für eine Erneuerung eines jüdischen-christlichen Gesprächs ein. Die zweite Generation mit Vertreterinnen und Vertretern wie etwa Peter von der Osten-Sacken, Charlotte Klein, Bertold Klappert, Friedrich-Wilhelm Marquardt, Clemens Thoma und Martin Stöhr rekonstruierten die Abhängigkeiten zwischen ideengeschichtlichen und ideologischen Argumentationsmustern traditionellen Judenhasses im europäischen Christentum und dem rassistischen und genozidalen Antisemitismus des Nationalsozialismus. Sie forderten aus der Erinnerung an die Shoa heraus eine prinzipielle Neuformulierung des christlichen Glaubens.

Es entstand so etwas wie eine religiöse Pflicht der Kirche und der christlichen Theologien zur Erinnerung (Metz, 1992b), die durchaus mit einem gesellschaftlichen Auftrag zur Erinnerung an die Shoa verbunden wurde und wird. Die Rede vom Desiderat einer „anamnetischen Kultur“ bringt dies umfassend zum Ausdruck: In ihr stellt der Ort und das Geschehen, für das der Name Auschwitz steht, ein Fokus dar, um andere Situationen des Leidens, der Verfolgung und des Hasses deuten und bekämpfen zu können. Insbesondere ist für eine erinnerungsgeleitete christliche Religionskultur der Kampf gegen jede Form von Antisemitismus, Antijudaismus und die Extremismusprävention innerhalb und außerhalb von Kirchen und Theologien (→ Antijudaismus, Antisemitismus; Nord/Schlag, 2021, darin u.a. Strube 2021 und Verweis auf Strube, 2015) ein zentrales Anliegen. Dabei fällt auf, dass die religiöse Dimension von Erinnern in staatlichen Kontexten situierten Gedenkens für den gesellschaftlichen Diskurs bislang zu wenig ausgearbeitet wurde (Boschki/Gerhards, 2010).

3. Erinnerung als gesellschaftliche, kultur- und bildungswissenschaftliche Kategorie

Im deutschen Sprachraum setzten sich im vergangenen Jahrzehnt die Begriffe „Kultur der Erinnerung“ oder „Erinnerungskultur“ als Termini für die Suche nach einem gesellschaftlich angemessenen Gedenken des Holocaust durch (Assmann, 2018; 2020). Der Kulturbegriff deutet an, dass es nicht länger um ein Gedenken gehen kann, das von oben herab politisch-staatlich verordnet wird, z.B. an ‚Volkstrauertagen‘ und durch offizielle Gedenkfeiern, oder das in vorgegebenen, staatlich verordneten Bildungsprogrammen zum Ausdruck kommt. Immer deutlicher wird, dass in multikulturellen und multireligiösen Zusammenhängen verschiedene Erinnerungstraditionen bzw. Gedenkkulturen aufeinandertreffen und nicht selten im Widerspruch zueinander stehen (Leggewie, 2011; Welzer, 2007). Dies zeigen u.a. tiefgreifende Transformations- und Disruptionsprozesse, die nicht zuletzt die erinnerungsgeleitete Reflexion auf europäisch-koloniale Traditionen und Strukturen ausgelöst hat und z.B. Opferkonkurrenzen zwischen Antisemitismus und Rassismus aufbringt (Mendel, 2023). Digitale Kommunikationsformate bedingen hier Dynamisierungen mit ambivalenten Folgen der Polarisierung von Debatten, die sich auf Migrations-, politische Radikalisierungs- und Digitalisierungsprozesse beziehen; in ihnen liegen aber auch Potentiale z.B. für eine antisemitismuskritische Bildung (Lamprecht, 2024; Nord/Petzke, 2023). Prinzipiell zeigt sich dabei, dass Erinnerung keineswegs ein monolithischer Block, nicht einmal innerhalb einer Nation oder sozialen, ethnischen, religiösen Gruppe ist (Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung, 2020; Ballis/Gloe, 2019, 346-436; Frieden 2014). Aufgrund der Pluralisierung der Gesellschaft ist Erinnerung mehr denn je ein kontingentes und unabschließbares Geschehen, das von Generation zu Generation in und zwischen den verschiedenen Gruppen immer wieder neu ausgehandelt und vor dem Hintergrund neuer Erfahrungen, insbesondere historisch-politischer und sozialer Entwicklungen, re-kontextualisiert wird bzw. werden muss.

Es ist zusammenfassend deutlich geworden:

Erinnern hat individuelle und zugleich soziale sowie hier kollektive Aspekte, die nicht unabhängig voneinander gedacht werden dürfen. Als individuelle Kompetenz ist sie ein komplexer Konstruktionsprozess (z.B. Welzer, 2017), innerhalb dessen historische und gegenwärtige Wirklichkeit aufgrund von Vorerfahrungen, früheren Erinnerungen und deren Wiedergabe sowie aufgrund von sozialen Interaktionen gedeutet wird. Erinnerung ist Deutung, Konstruktion und Rekonstruktion von Vergangenem im sozialen Prozess („kollektives Gedächtnis“: Halbwachs, 1985), wobei der Diskurs- und der Deutungsmacht in diesem gesellschaftlich-politischen Prozess wesentliche Bedeutung zukommt, die stets kritisch dekonstruiert werden muss. Kulturwissenschaftliche Forschungen hierzu haben sich in dem rasant wachsenden Zweig der „Cultural Memory Studies“ vereinigt (Überblick: Erll, 2017; Erll/Nünning, 2010), die Kultur- und Geschichtswissenschaft, soziale, politische, philosophische Gedächtnistheorien, psychologische, literatur- und medienwissenschaftliche Forschungen umgreifen.

Für den bildenden Aufbau von individuellen und kollektiven Erinnerungen ist deren „emotionale Einbettung“ (Welzer, 2017, 125-151) entscheidend. Erinnert wird vor allem das, was mit Gefühlen, seien es positive oder negative, verbunden ist. In besonderer Weise kommt die emotionale Einbettung bei medialen Darstellungen der Erinnerung oder literarisch-biografischen Zeugnissen zum Tragen. Emotionen bewerten die Bedeutung von Ereignissen und sind selbst Gegenstand des Erinnerns, d.h. wir erinnern uns in erster Linie an die Gefühle, die wir mit bestimmten Ereignissen (individuell oder kollektiv) verbinden, häufig auch über Erzählungen von diesen (Chernivsky/Scheuring, 2016).

Neben der emotionalen ist die reflexive Dimension für Bildungsprozesse entscheidend (Ballis/Gloe, 2019; Krause, 2014): Für Lernende geht es darum, die Kontingenz von überlieferten Erinnerungen als Deutungen und Konstruktionen ihrer Zeit zu verstehen, sie kritisch, insbesondere machtkritisch zu reflektieren und die Fähigkeit zu einer eigenen, selbstreflexiven und kritischen Erinnerungskultur auszubilden (Flierl/Müller, 2009).

4. Religionspädagogische Leitlinien

Wie oben erwähnt, hat religiöses Lernen eine besondere Nähe zu Erinnerungslernen im Allgemeinen ebenso wie zur Reflexion auf den Holocaust, weshalb es seit den 1990er Jahren verstärkt zu Ansätzen einer ‚anamnetischen Religionspädagogik‘ gekommen ist (u.a. Wagensommer, 2009; Boschki, 2005; Petzold, 2001; Langer, 1997; Wermke, 1997; Schröder, 2023). Sie versuchen, die Bedeutung des Lernens von Erinnerung im Feld religiöser Bildung (Religionsunterricht [→ Religionsunterricht, evangelisch; → Religionsunterricht, katholisch], Jugendarbeit [→ Jugendarbeit, evangelisch; → Jugendarbeit, katholisch], → Katechese/Katechetik bzw. → Gemeindepädagogik; → Erwachsenenbildung) zu konzeptualisieren.

Die Studie „Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht“ (Forschungsgruppe REMEMBER, 2020) hat die Aktivitäten von mehr als 1200 Religionslehrkräften in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu diesem Themenkreis untersucht und ihre Motivationen, Ziele und didaktischen Realisierungsformen zusammengestellt (→ Erinnerungslernen, empirisch). Wie in weiteren Untersuchungen (Danner, 2020) wurde auch in der REMEMBER-Studie deutlich, dass viele Religionslehrerinnen und -lehrer erinnerungsgeleitetes Lernen als eine besondere Aufgabe des Religionsunterrichts verstehen und mit Nachdruck das Thema einbringen sowie mit anderen Fächern interdisziplinär vernetzen (Projekte, Exkursionen; siehe unten 5.).

Aus den empirischen Daten und aus konzeptionellen Überlegungen ergeben sich zentrale Leitlinien für religiöse Bildung im Horizont der Erinnerung an den Holocaust (Forschungsgruppe REMEMBER, 2020, 209-229; Koerrenz, 2013):

  1. 1.Überwältigungsverbot: Entgegen früherer, meist unreflektierter, emotionalisierender Schockpädagogik, mit deren Hilfe man meinte, Lernende an das Thema der systematischen Vernichtung von Menschen heranführen zu können (z.B. durch Filme und Fotos von KZ-Dokumenten mit drastischen Darstellungen), gilt das Überwältigungsverbot. Lernenden muss stets die Möglichkeit gegeben werden, sich zu den Themen des Lernens in kritisch-reflexive Distanz zu setzen, um sich einen eigenen Zugang und Standpunkt zu verschaffen.
  2. 2.Gefühlserbschaften erkennen und reflektieren: Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler partizipieren sowohl infolge der nicht-jüdischen wie auf Seite der jüdischen Bevölkerung gesellschaftlich, kulturell sowie biografisch und privat an einer Kultur des „Beschweigens“ (Schwan, 1997) Dazu gehört auch das Ernstnehmen von Widerständen und Blockaden auf Seiten der Schülerinnen und Schüler (vergleiche auch 6. Religionsdidaktische Reflexionen aus der Praxis).
  3. 3.Doppelte Subjektorientierung: Während sich die Orientierung an den heutigen Subjekten (→ Subjekt), den Lernenden, als Ziel religiöser Bildung (→ Bildung, religiöse) und Erziehung sowie „Subjektwerdung fördern“ als Maxime allen religionspädagogischen reflektierten Handelns (Schröder, 2012, 232-248) in der religionspädagogischen Theoriebildung weitgehend durchgesetzt haben, ist im Kontext des Erinnerungslernens eine zweite Subjekthaftigkeit ernst zu nehmen: die der historischen Personen, die nicht passive Objekte (z.B. nur „Opfer“), sondern Menschen einer bestimmten Tradition sind, aus konkreten Familien stammen und eine markante Biografie haben (Boschki/Schweitzer, 2003; Fuchs/Boschki/Frede-Wenger, 2001).
  4. 4.Biografie- und Ortsorientierung: Aus diesem Grund ist es für die religionspädagogische Theorie und Praxis des Erinnerungslernens entscheidend, die historisch konkreten Menschen aufzuspüren, sich ihrer Lebensgeschichte zuzuwenden, den Erzählungen, Tagebüchern, Briefen oder Orten (Häuser, Stadtteile etc.), an denen sie gelebt, geliebt, gefeiert und geglaubt hatten. Die Geschichte einer einzelnen Person oder von Familien, die dem Holocaust zum Opfer fielen bzw. ihm knapp entkommen konnten, ihre lokalen Lebenswelten (Wo gingen sie zur Synagoge, wo zur Schule? Wie haben sie konkret gelebt?) und ihre Leidensorte (Wie wurden sie verschleppt? Von welchem Bahnhof deportiert? Wohin wurden sie gebracht?) können Lernende weit mehr sensibilisieren als die alleinige Konzentration auf Fakten. Anhand von lokalen Biografien oder den Zeugnissen von Überlebenden wie Elie Wiesel bekommt das unfassbare Geschehen ein Gesicht (Wiesel, 2022; siehe die Arbeit der Forschungsstelle Elie Wiesel an der Universität Tübingen). In der Konfrontation mit konkreten Orten verbindet sich religiöse Bildung mit Ansätzen der neueren Gedenkstättenpädagogik (→ Erinnerungsort; Gloe/Ballis, 2020, 15-227). Sie hat zum Ziel, Menschen an historischen Stätten nationalsozialistischen Unrechts in der Auseinandersetzung mit geschichtlichen Fakten und mit Zeugnissen von Opfern bzw. Überlebenden zu eigenen Reflexionen und Deutungen des Geschehens zu ermutigen. Aktuelle Gedenkstättenpädagogik schenkt den Bedürfnissen der Teilnehmenden, ihren Fragen, Blockaden, selbst ihren Zweifeln Aufmerksamkeit und räumt ihnen eine aktive Rolle im Lernprozess ein (Thimm/Kößler/Ulrich, 2010).
  5. 5.Lernen in Referenz und Kooperation mit jüdischen Traditionen: Christentum und Judentum haben eine besondere, zum Teil äußerst problematische historische, theologische und soteriologische Interaktionsgeschichte, die von Jesus, dem Juden aus Nazareth, und seinen jüdischen Jüngerinnen und Jüngern bis zur bleibenden heilsgeschichtlichen Bedeutung des Judentums reicht. Die problematische Seite stellen die diversen Abgrenzungsmechanismen dar, die von der Mehrheitsreligion des Christentums ausgingen und die Minderheit, das Judentum, im Laufe der gemeinsamen Geschichte verfolgt, unterdrückt und gewaltsam bekämpft haben. Erst nach der Schoah wurde das Verhältnis zwischen den beiden Geschwisterreligionen grundlegend erneuert (Seelisberger Konferenz, Nostra Aetate). Erinnerungslernen im Blick auf den Holocaust schreibt sich deshalb in die Theorie und Praxis christlich-jüdischen Lernens ein, die von Initiativen wie dem „Freiburger Lernprozess Christen-Juden“ (u.a. Biemer/Biesinger/Fiedler, 1984), der AG jüdisch-christlich beim Deutschen Evangelischen Kirchentag und in vielfältiger Hinsicht auch durch die Disziplin der Jüdischen Studien und Initiativen in der alt- und neutestamentlichen Exegese  auf eine neue Grundlage gestellt wurden.
  6. 6.Religiöse Bildung im Rahmen antisemitismuskritischer Bildung: Aus diesem Grund kann sich religiöse Bildung nicht neutral zu Themen der Erinnerung verhalten, sondern muss nicht nur aus allgemein menschlichen, sondern gerade aus theologischen und religionspädagogischen Motivationen heraus antisemitismuskritische Bildung sein (Nord/Petzke, 2024; Mokrosch/Naurath/Wenger, 2020; Mendel/Messerschmidt, 2017). Hierbei ist zu beachten, dass das Thema Antisemitismus und Antisemitismusprävention nicht ausschließlich mit Bezug zum Holocaust Gegenstand von Lehr- Lernprozessen sein sollte. Fälschlicherweise könnte bei den Lernenden dadurch der Eindruck entstehen, dass Antisemitismus als bloßes Phänomen der Vergangenheit zu verstehen ist. So besteht die Gefahr, dass die konkreten und aktuellen Erscheinungsformen von Antisemitismus nicht wahrgenommen oder missverstanden werden (UNESCO/OSZE, 2019; Kumar u.a., 2022). Hierbei kann der Religionsunterricht einen wesentlichen Beitrag zur antisemitismuskritischen Bildung leisten (Baert-Knoll/Migge/Boschki, 2023).
  7. 7.Religiöse Bildung als Menschenrechtslernen: Im Zusammenhang mit erinnerungsgeleiteter Religionspädagogik wird in besonderer Weise deutlich, dass religiöse Bildung auf den ganzen Menschen, auch in seinem politisch-gesellschaftlichen Kontext zielt (Schwendemann/Boschki, 2009). Erinnerungslernen trägt bei zur Sensibilisierung in Fragen der Menschenrechte, des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit. Neuere Beiträge stärken die Sichtbarkeit von Interdependenzen zwischen Kolonialismus, Sklaverei, Rassismus und Nationalsozialismus, Holocaust und Antisemitismus. Analogien und Vergleiche werden auf ihre wissenschaftliche Validität hin geprüft sowie durchaus kontrovers diskutiert. Damit wird z.B. der Versuch gemacht, Erinnerungslernen multidirektional zu konzeptionieren (Rothberg, 2021) und die verschiedensten Kontexte der Verfolgungs- und Kolonialgeschichte sowie des Schoah-Gedenkens ins Gespräch zu bringen (Sznaider, 2022; Brumlik, 2020; Grau, 2022; Friedländer/Frei/Steinbacher/Diner, 2022; kritisch zu Rothberg: Klävers, 2019).
  8. 8.Ethisches Lernen mit selbstkritischer Orientierung im Rahmen religiösen Lernens: Erinnerungslernen regt in der Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen idealerweise zur eigenen ethischen Urteilsbildung (→ Urteilskompetenz) an, die die Gegenwartsbedeutung erkennt und damit eine kritische Reflexion der heutigen Verhältnisse in Kirche und Gesellschaft sowie eine kritische Selbstreflexion in Gang setzt (Gärtner/Herbst, 2020). Wird Erinnerungslernen in seiner umfassenden Bedeutung reflektiert, kann es zur kritischen Selbstreflexion anregen und thematisiert die Frage nach der eigenen Verantwortung für die Erinnerung und das Erinnerungsgeschehen. Dadurch kann Erinnerungslernen einen wesentlichen Aspekt im Prozess der bleibenden Subjektwerdung darstellen (→ Subjekt).

5. Religionsdidaktische Konkretisierungen

Religionslehrerinnen und -lehrer sind oft Akteur:innen schulischer Lehr-Lernprozesse im Kontext der Holocaust-Erinnerung (Forschungsgruppe REMEMBER, 2020; Danner, 2020). Auch Kirchengemeinden oder kirchliche Institutionen auf übergeordneter Ebene (Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen ACK, Verbände, Diözesen) sind bedeutende Trägerinnen der Erinnerungskultur im deutschsprachigen Raum, wobei eine Fülle von Aktivitäten zu verzeichnen ist. Bei den didaktischen Entwürfen werden idealerweise theologische, allgemeinpädagogische und religionspädagogische Reflexionen zugrunde gelegt. Nur einige wenige Beispiele können hier genannt werden.

Interdisziplinäre, fächerübergreifende Gedenkaktionen: Häufig werden schulische Unternehmungen (z.B. zum 9. November oder 27. Januar; Theaterstücke, Gedenkstunden, Gedenkstättenfahrten) in Kooperation verschiedener Fächer durchgeführt. Religiöses Erinnerungslernen erfolgt nicht isoliert, sondern verbindet sich in Theorie und Praxis mit historischer, politischer oder ästhetischer Bildung (→ Bildung, ästhetische), was in schulischen Lernprozessen eine enge, fächerübergreifende Herangehensweise bedeutet. In manchen Schulen werden schulinterne Curricula zu diesem Thema entworfen und erfolgen genaue Abstimmungen zwischen den Fächern sowie über die Jahrgänge hinweg, was das Gefühl der Übersättigung zum Thema Holocaust auf Seiten der Schülerinnen und Schüler vermeiden hilft.

Lernen an Orten des Erinnerns. In zahlreichen Schulen und Einrichtungen der (religiösen) Erwachsenenbildung gehören Exkursionen zu konkreten Orten nationalsozialistischen Unrechts zum Standardprogramm (→ Erinnerungsort; Gloe/Ballis, 2020, 15-227; Nord/Kiesel, 2023). Orte versprechen Authentizität des Erinnerns, bringen Lernende performativ mit dem historischen Geschehen in Berührung und „sprechen“ zu den Besucherinnen und Besuchern. Wichtig sind die Vorbereitung, eine aktivierende Durchführung und eine Nachbereitung, die den Lernenden die Gelegenheit gibt, sich nochmals zu den Themen zu verhalten (Fragen, offene Gespräche, Aufarbeitung emotionaler Unsicherheiten). Die Frage, wie authentisch ein Ort sein kann und ist sowie welche ambivalente Bedeutung die Rede von der Authentizität des Ortes der Katastrophe hat, bleibt allerdings religionsdidaktisch kritisch zu reflektieren, denn diese außerschulischen Lernorte können durchaus auch enttäuschen (Schaarschmidt/Zündorf, 2022).

Biografieorientierte Gedenkveranstaltungen: Selbst bei kommunalen Gedenkveranstaltungen sind oft kirchliche Kreise wesentlich beteiligt, oft auch Schülerinnen und Schüler aus dem Religionsunterricht. Dabei ist auffällig, dass in den vergangenen Jahren immer stärker auf konkrete Biografien von Opfern und Überlebenden Wert gelegt wird. Sie werden erzählt, zum Teil von Jugendlichen im Vorfeld selbstständig recherchiert und bisweilen durch öffentlichkeitswirksame Aktionen (Ausstellungen, Websites, Stolpersteinverlegung [→ Stolpersteine] etc.) von den Lernenden in performativen Lernsettings „erinnert“.

Kreativer Umgang mit Erinnerung. Jugendgruppen, die sich in ökumenischer Zusammensetzung um das Schicksal der jüdischen Gemeinden in der NS-Zeit kümmern, haben (wie beispielsweise im badischen Raum) Gedenksteine in allen Gemeinden, aus denen Juden im NS deportiert wurden, künstlerisch gestaltet und aufgestellt sowie ein zweites Exemplar an einer zentralen Gedenkstätte errichtet, wobei sie gleichzeitig die Namen aller Deportierten und deren Biografien erarbeitet hatten. Hierbei waren u.a. Gruppen von Schülerinnen und Schülern, Teilnehmende an Firm- oder Konfirmationsvorbereitung aktiv. In ähnlicher Weise beteiligten sich Schulklassen an dem in und um Würzburg herum etablierten Projekt Denkort Deportation (https://denkort-deportationen.de/), sie identifizierten sich mit deportierten Personen und gingen den Weg, den die Deportierten sieben Jahrzehnte zuvor gezwungen wurden zu gehen.

Zeugnisse der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen: Da die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen immer mehr verstummen, gewinnt die Dokumentation ihrer Erfahrungen an Bedeutung. In kirchlichen Jugendgruppen ebenso wie im Religionsunterricht werden Tagebücher oder Autobiografien (z.B. „Die Nacht“ von Elie Wiesel oder Videodokumente) gelesen und wahrgenommen, ihr Zugang zur Gottesfrage angesichts von Auschwitz diskutiert und Konsequenzen für Kirche und Gesellschaft heute gezogen. Der Glaube an Gott nach der Shoah kann hier zur Frage und gleichzeitig zum Impuls für konkretes Handeln werden (gegen Antisemitismus, Rassismus). In manchen museumspädagogischen Kontexten, in Mahn- und Gedenkstätten werden auch die Möglichkeiten von Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Hologrammen genutzt, um die Erfahrbarkeit von Zeitzeuginnen und -zeugen sowie Erinnerungsorten möglich zu machen. Damit kommt dem Bereich des Digitalen eine gegenwärtig zunehmende Bedeutung in der Erinnerungsarbeit zu. Der Gebrauch des Begriffs ‚Digital Memory‘ auch im Kontext der Holocaust-Education spiegelt den Bedeutungszuwachs digitaler Medien und Methoden wider (Lamprecht, 2024).

6. Religionsdidaktische Reflexionen aus der Praxis

Blickt man auf die Prozessqualität des Erinnerungslernens lassen sich folgende Einsichten im Sinne einer Qualitätssicherung des Unterrichts grundsätzlich festhalten:

„Evangelische Religionslehrer*innen beziehen Erinnerungsorte sehr bewusst in ihr unterrichtliches Geschehen ein. Auf Vor- und Nachbereitungen der Exkursionen wird großer Wert gelegt.“ (Danner, 2020, 257) Dies scheint sie sogar von befragten Lehrpersonen anderer Fächer zu unterscheiden. Sie sehen das Erinnerungslernen allgemein und insbesondere die Erinnerung an die Shoa als ein zentrales didaktisches Feld des Religionsunterrichts an. Er ist in der Selbstbeschreibung von Religionslehrkräften ein fester Bestandteil des didaktischen Repertoirs. Doch dieser Bestandteil scheint zugleich wenig vernetzt mit den weiteren didaktischen Ansätzen und thematischen Fokussierungen, die Religionslehrkräfte praktizieren. Die nun genannten Kriterien möchten dazu beitragen, für diese vorhandenen Unverbundenheiten zu weiteren pädagogischen und didaktischen Kompetenzen der Lehrkräfte zu sensibilisieren:

  1. 1.Die Vor- und Nachbereitung von Gedenkstättenbesuchen kann auf didaktische Reflexionen zu außerschulischen Lernorten (→ Außerschulisches Lernen/Erkundung) aufbauen. Das didaktische Ziel des außerschulischen Lernorts liegt darin, Lernen aus den Strukturen des Schulalltags herauszuholen. Schülerinnen und Schüler nehmen deshalb den Lernort oft auch in diesem Sinne als einen Wechsel in einen weniger disziplinierten Lernraum wahr. Nicht zuletzt dieser Raumwechsel führt zu unerwünschten Effekten. Deshalb gilt es genau zu reflektieren: Welche Faktoren ermöglichen es, dass der außerschulische Lernort für die Schülerinnen und Schüler zu welchem Kompetenzerwerb führt? Es gilt dieses Ziel vorbereitend auch gegenüber den Schülerinnen und Schülern transparent zu machen. Es soll ihnen klar sein, wozu genau sie diesen Erinnerungsort besuchen.
  2. 2.Es ist gezeigt worden, dass Schülerinnen und Schüler von dem Besuch eines Erinnerungsortes in ihren Erwartungen enttäuscht werden können: Es sei weniger grausam als sie erwartet haben, wird beispielsweise gesagt. Erinnerungslernen muss auch diesen paradoxen Effekt präzise als Szenario aufnehmen und ihn nicht durch Disziplin unterdrücken. Schülerinnen und Schüler müssen begreifen können, dass Bildung sie bewusst an der didaktischen Arbeit der Unterbrechung von Gewaltstrukturen – wie sie in Gedenkstätten von Konzentrationslagern gegenwärtig werden – teilhaben lässt.
  3. 3.Die Nachhaltigkeit eines Besuchs an einem außerschulischen Lernort hängt davon ab, ob die Schülerinnen und Schüler weitere Lernprozesse im und außerhalb des Religionsunterrichts mit den erworbenen Kompetenzen am Erinnerungsort verbinden können. Die Aussage, dass die Shoa eine nicht zu vergleichende Katastrophe der Menschheitsgeschichte darstellt, hat eine wichtige Vorsicht in der Haltung der Lehrkräfte aufgebracht. Zugleich gilt es, die Kompetenzen, die beim Gedenkstättenbesuch erworben werden, mit anderen Kompetenzen zu verbinden, um das Thema keinem Othering (→ Othering) auszusetzen.
  4. 4.Nicht nur das Thema der Shoa, sondern auch das Erinnerungslernen scheint als ein eigener didaktischer Ansatz gepflegt zu werden, der kaum mit anderen didaktischen Ansätzen gemeinsam thematisiert wird: Welche Anschlussstellen z.B. zur Bibeldidaktik, zum Theologisieren, zur Symboldidaktik, zum interreligiösen Lernen oder zum ethischen und zum inklusiven Lernen können eingebracht werden? Gelingendes Erinnerungslernen findet dort statt, wo die mit ihm erworbenen Kompetenzen mit weiteren anderen Kompetenzen verwoben werden können.
  5. 5.Erinnerungslernen ist ein probates Mittel gegen Antisemitismus, wenn es nicht in der Erkundung einer vergangenen Katastrophe kontextualisiert bleibt, sondern aus diesem Kontext heraus die Kontinuitäten zu heutigem Antisemitismus erkannt werden können. Der Besuch einer Gedenkstätte ist insofern ein wichtiger Mosaikstein antisemitismuskritischer Bildung. Weitere Mosaiksteine sind erforderlich, um persönlich die Bedeutung dieser gesellschaftlichen Gewaltstruktur erfassen zu können. Der Gedenkstättenbesuch darf nicht zur Legitimierung eines guten Gewissens verzweckt werden.
  6. 6.Die christliche Religionspraxis pflegt das Erinnern als eines ihrer hauptsächlichen Tätigkeiten und hat in diesem Prozess aber sowohl Antijudaismus hervorgebracht als auch Antisemitismus befördert. Im Erinnern der christlichen Religionsgeschichte stoßen wir auf Schritt und Tritt auf Unterdrückungs- und Befreiungspotentiale. So liegt ein Potential des Religionsunterrichts darin, dass er dazu beitragen kann, dass Erinnerungslernen nicht naiv vollzogen wird: Auch wenn es demokratiefördernde Bildung und Menschenrechtsbildung fördern will, so sind diese Ziele stets in Prozesse eingebunden, die das Erinnerungslernen als ein umkämpftes Gebiet kultureller Praxis zeigt: Zwischen links und rechts, zwischen religiös und säkular, durch die Mehrheitsgesellschaft dominiert oder von diskriminierten Gruppen eingeklagt, die auf Solidarität zum Überleben angewiesen sind. Der Religionsunterricht ist dazu herausgefordert, einen machtsensiblen Umgang mit Erinnerungslernen zu fördern.
  7. 7.Erinnerungslernen kann auf Schülerinnen und Schüler heilsam wirken: Wenn sie verstehen lernen, dass das Erinnerungslernen nicht nur eine moralische Schule ist, die Schülerinnen und Schülern fremde Schicksale zur Unterrichtsaufgabe macht, sondern eine Lernform, die ihnen für ihre eigene Lebensgeschichte vermittelt, dass sie immer schon mit den Gefühlen und Gedanken, den Handlungen der ihnen vorangegangenen Menschen in der Familie und in der Gesellschaft leben. Erinnerungslernen fördert die Subjektwerdung aktiv, indem Menschen sich ihre Geschichte(n) aktiv aneignen und lernen mit dieser umzugehen.

Literaturverzeichnis

  • Assmann, Aleida, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 3. erw. u. aktual. Aufl. 2020.
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