Deutsche Bibelgesellschaft

Historisches Lernen, Historische Bildung

(erstellt: Februar 2017; letzte Änderung: Februar 2022)

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1. Einführung

Die Thematisierung von "historischem Lernen" und "historischer Bildung" in einem Lexikon für Religionspädagogik fordert die Fokussierung auf die Rolle, die historisches Lernen und historische Bildung in religiösen Lernprozessen spielen können. Dabei können die beiden Begriffe "Lernen" und "Bildung" in einem Kontinuum gesehen werden. Historisches Lernen ist die Voraussetzung für historische Bildung, die weiter gefasst ist und auf Selbstbildung und Identitätsbildung zielt. In der Geschichtsdidaktik wird seit den 1970er Jahren als Ziel des historischen Lernens und der historischen Bildung unterschieden zwischen der Entwicklung von "Geschichtsbewusstsein" (→ Geschichts­bewusstsein) und "historischem Denken". Die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein kann umschrieben werden als der "mentale Prozess der Sinnbildung über die Zeiterfahrung" (Rüsen, 1997, 261). Historisches Denken wird dann in der Regel enger verstanden: das Lehren und Lernen als Beitrag zu diesem Ziel.

Die in diesem Artikel aufgeführten Überlegungen sind zugespitzt auf die Entwicklung des kirchenhistorischen Denkens im Rahmen des schulischen Religionsunterrichtes (→ Kirchengeschichtsdidaktik).

2. Die Entwicklung von historischem Lernen

Kinder lernen auch ohne Schule historisch zu denken, so wie sie auch ohne Schule eine Sprache lernen. Sie haben schon früh ein Bewusstsein dafür, dass Zeit verstreicht, auch wenn sie die Zeit nicht sehen können. Sie warten auf etwas, sie wissen, dass etwas vorher geschehen ist, oder dass etwas gestern war. Wenn "historisch" als das definitiv Vergangene umschrieben wird, entwickeln sie dafür ein Gespür, wenn sie zum Beispiel ihren Geburtstag feiern oder sich erinnern an Geschehnisse aus der Zeit "als ihre Katze noch gelebt hat". Auch entwickeln sie dieses Gespür, wenn sie alten Schmuck von Oma, alte Geldscheine, alte Brücken, Rathäuser, Denkmäler oder alte Kirchen wahrnehmen und sehen, wie z.B. Gebäude in ihrem Stadtteil abgebrochen werden. Sie besuchen Burgen, Mittelaltermärkte und Museen, verkleiden sich als Ritter, erleben Verweise auf die Vergangenheit in Computerspielen, historischen Dokumentarfilmen und historischen Romanen. So entdecken sie, je älter sie werden, was Vergangenheit ist und dass sie in einer gewordenen Kultur leben. Dieses Gespür ist unabhängig vom Lesen-Können der Uhr, vom Kennen der Kalendermonate oder von der Beherrschung vierstelliger Zahlen (1517 z.B.). Es macht sich eher an Bildern und Erzählungen fest (Wilschut, 2011). Historisches Lernen in der Schule strukturiert und vertieft diese Erfahrungen und dieses ungesteuerte Wissen und schließt methodisch an diese Erfahrungen an (→ Kirchenraumpädagogik/Kirchenpädagogik; → digitale Spiele; → Film). Das schulisch historische Lernen fördert Lernprozesse, wenn es in der Vergangenheit Wurzeln und Ursachen für heutige Phänomene aufspürt und durch Vergleiche Analogien, Zusammenhänge, Strukturen und Parallelen zur Aktualität zeigt (Calließ, 1997). Dies ist vergleichbar mit der Weise, wie z.B. mittels einer Grammatik Strukturen einer Sprache erkannt werden können, obwohl auch ohne Kenntnis dieser Grammatik gesprochen werden kann.

Historisches Denken gehört zu den Unterscheidungsmerkmalen des Menschen zu anderen Lebewesen. Der Mensch ist sich seiner Vergänglichkeit bewusst und kann zwischen Vergangenheit und Zukunft unterscheiden. Der Mensch weiß um das, was gestern geschehen ist und rechnet schon damit, was Morgen passieren kann. Historisches Denken ist somit konstitutiv für die Entwicklung der individuellen Identität. "Besonders die durch biografische Zeugnisse eröffneten Dimensionen der Orientierung und der Identifikationsoption verweisen auf bedeutsame Anknüpfungspunkte für individuelle Lern- und Bildungsprozesse, welche die Subjektwerdung der Lernenden im Blick haben" (Lindner, 2007, 35). Dies gilt aber auch für die kollektive Identität (Kultur), in die Erinnerungen kultiviert werden. Es hat eine positive wie negative Seite, wie ein arabisches Sprichwort erläutert: "Andere fürchten sich vor dem, was der morgige Tag bringen kann, ich aber fürchte mich vor dem, was gestern passierte" (Tuchmann, 1982, 268).

Bodo von Borries (von Borries, 2007, 113-134) nennt drei Theorien, die zu den Einsichten in der Entwicklung des historischen Lernens bei Kindern und Jugendlichen beige­tragen haben: Jean Piagets Kognitionstheorie (1937), Lawrence Kohlbergs Stufen der Moral­entwicklung (1958) und deren Rezeption bei Waltraud Küppers und Heinrich Roth (1966/1968) sowie Robert Selmans vier Stufen des sozialen Verstehens (1984). Insbesondere Piagets Unterscheidung von "konkreten" und "formalen" Operationen bildete die Basis für diese Theorien. Historisches Denken sei per se "formal" und entwickle sich erst ab dem elften Lebensjahr. Piaget stellte fest, dass "in dem Maße, in dem die Erinnerungs­fähigkeit des heranwachsenden Individuums sich ausbildet, auch sein Vermö­gen steige, Zukünftiges zu antizipieren" (Noormann, 2006, 9). Auch wenn, laut Piaget, nicht alle Menschen die höchste Stufe des "formalen" Denkens erlangen, können sie die Vergangen­heit auch "konkret" entdecken. Die neuere Entwicklungspsychologie hat Piagets Einsichten weiter differenziert und vor allem die von ihm genannten Altersstufen relativiert. Einflussreich für die Praxis des Geschichtsunterrichts in Deutschland waren die klassischen Reifungsmodelle von Waltraud Küppers und Heinrich Roth (1966/1968), die sechs Stufen unterschieden:

1.-2. Schuljahr: Märchenalter

3.-4. Schuljahr: Sagenalter

5.-6. Schuljahr: Abenteuergeschichten

7.-8. Schuljahr: Geschichtserzählung

9.-10. Schuljahr: Geschichtsreflexion.

Ein wirkliches geschichtliches Denken würde sich dann erst nach dem 12. Le­bensjahr entwickeln. Auch wenn dieses Reifungsmodell später kritisiert wurde, hat es starke Wirkung behalten. Die neuere Stufentheorie der sozialen Kognition von Selman besagt, dass bei kleinen Kindern das soziale Verstehen nur auf face-to-face-Beziehungen (Freunde, Eltern usw.) beschränkt ist. In aller Vorsicht sagt Selman, dass das Verstehen von "Staat" oder "Außenpolitik" erst auf Stufe drei (ältere Jugendliche) erreicht wird. Noch viel schwieriger ist es für junge Menschen zu verstehen, dass es sich per se beim historischen Denken nur um "mentale Konstrukte" handelt. Dies durchschauen zu können korres­pondiert mit den höchsten Stufen bei Lawrence Kohlberg. Geschichtsdidaktiker sind sich aber darin einig, dass bis jetzt nicht genügend empirisches Material vorliegt, um ein valides Modell für die Entwicklung von historischem Denken vorlegen zu können (Hasberg, 2010, 159-179).

Für die Entwicklung des kirchenhistorischen Lernens hat Heidrun Dierk (Dierk, 2005, 127-15) die Überlegungen von Bodo von Borries mit einem Modell von Christian Noack erweitert. Noack beschreibt in der Nachfolge von James Fowlers "Sta­ges of Faith" unterschiedliche Stufen der "Ich-Entwicklung und des Geschichts­bewusstseins". Auf dieser Basis plädiert Dierk dafür, kirchenhistorisches Lernen in der Grundschule konkret vor Ort, mit Regional- oder Familiengeschichte anfangen zu lassen. Im Kirchen­geschichtsunterricht sollte nicht chronologisch vorgegangen werden; es sollte nicht mit der "Urgemeinde" oder den "Christenverfolgun­gen" in der Alten Kirche begonnen werden. Erst in Klasse 7/8 können formale Denkoperationen vollzogen werden, wie z.B. der Vergleich verschiedener "Luther-Bilder". Dierk legt dar, dass das Entdecken von Geschichtsentwürfen frühestens im jungen Erwachsenenalter erfolgen kann. Auch betont sie, dass das Geschichtsbe­wusstsein – und das gilt ebenso für das historische Denken – nicht von der Quantität des historischen Wissens, wie zum Beispiel von Jahreszahlen, abhänge.

Der Ausgangspunkt des historischen und kirchenhistorischen Denkens ist (unvermeidbar) die Gegenwart. Um historisch zu lernen, müssen die historischen Themen einen Bezug zur Gegenwart und – wenn möglich – zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler haben. Von dort aus werden Ereignisse auf die Zeit­achse von Vergangenheit und Zukunft gesetzt. Typisches Unterscheidungs­merkmal des Schulfaches Geschichte ist diese Dimension der Zeit in Verbindung mit dem Erkenntnisweg der Quellen. Im Fach Geschichte wird vorrangig vermittelt, wann etwas passiert ist, warum es damals so passieren konnte und welche Folgen dies gehabt hat. Dabei spielen in letzter Zeit immer mehr auch der Raum (insbesondere seit dem "spatial turn" in den Kulturwissen­schaften) und die Strukturen als Dimensionen der historischen Erfahrung eine Rolle. Jürgen Baumert (Baumert, 2001, 7-11) ordnet das Fach Geschichte, mit Geografie, Ökonomie und Politik einer Domäne bzw. einem "Modus der Weltbegegnung" zu: der normativ-evaluativen Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Gesellschaft. Die Kirchengeschichte als der historische Zugang zu Religion befindet sich einerseits auch in dieser gesellschaftswissenschaftlichen Domäne, andererseits aber als theologisches Fach in der Domäne der „Probleme der konstitutiven Rationalität“. Sie fragt, wie Philosophie und Ethik, nach dem, was Wahrheit bildet und stellt – vereinfacht gesagt – die Fragen hinter den Fragen: das Woher, Wohin und Wozu des menschlichen Lebens.

3. Ziele und Merkmale historischen Denkens

Historisches Denken ist seit der Aufklärung ein wichtiges Merkmal der west­lichen Kultur. Die Schule als zentrale Sozialisationsinstanz dieser Kultur hat den Auftrag, die Fähigkeit des historischen Denkens zu erweitern und Geschichte strukturiert und institutionell zu vermitteln. Lernen wird dabei vor allem als lehrbares Verhalten aufgefasst. Diese Überzeugung gilt, auch wenn seit 2003 (Klieme, Nationale Bildungsstandards) mehr auf "Outcome" als auf "Input" geschaut wird, für die Kompetenzorientierung, in der es auch im Fach Geschichte nicht nur um Wissen, sondern auch um Können und Anwendung geht. Die Kompetenzen bauen auf den Zielen und Merkmalen von historischem Denken auf, die seit den 1970er Jahren in der Didaktik des Faches Geschichte vorgelegt wurden. Die unterschiedlichen Kompetenzmodelle für historisches Lernen schreiben zum Teil diese älteren didaktischen Entwürfe weiter, wie z.B. "Narrativität" und "Entwicklung von Geschichtsbewusstsein" (Körber, 2015).

Das Konzept der "Narrativität" wurde ab 1976 vor allem vom Geschichtsdidak­tiker Jörn Rüsen (2008) entwickelt. Ziel des Geschichtsunterrichts ist die Befähigung zur erzählenden Darstellung von Geschichte, die die Imagina­tion bei den Schüler­innen und Schülern fordert. Dabei geht es sowohl um das Verstehen und Verfassen von Texten als auch um die Art, wie Geschichte als Konstruktion von Vergangenheit gestaltet wird. Ein weiteres didaktisches Modell wurde in dieser Zeit von Karl-Ernst Jeismann (1978) vorgelegt. Ziel ist die Entwicklung von "Geschichtsbewusstsein" als der Fähigkeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Horizont des gegenwärtigen Bewusstseins zu begreifen. Es geht um das "Wissen um die Geschichtlichkeit" des eigenen Daseins. Jeismann machte dazu einen Unterschied zwischen drei Ebenen: der (deskriptiven) historischen Sachanalyse, dem (normativen) historischen Sach­urteil und dem historischen Werturteil (der eigenen Haltung). Diese drei sind miteinander verschränkt, und so hän­gen Vergangenheitsdeutung, Gegenwarts­verständnis und Zukunftsperspektive zusammen.

Der Entwurf des niederländischen Geschichtsdidaktikers Arie Wilschut (2011/2013) schließt bei Jeismann an und kann als Zwischenschritt zu neueren Kompe­tenzformulierungen verstanden werden. Wilschut benannte drei Merkmale des historischen Denkens:

1. Das Wissen um das Geworden-Sein der Wirklichkeit. Wer historisch denkt, weiß um das Gewordensein der Wirklichkeit und weiß sich z.B. durch Sprache, Gewohnheiten, Traditionen, religiöse Überzeugungen mit anderen Zeiträumen verbunden. Zudem kann derjenige, der gelernt hat, historisch zu denken, zwischen Faktizität und Fiktion (Phantasie) unterscheiden. Es geht bei der Geschichte nicht über Märchen, Mythen oder literarische Gebilde, sondern um zuverlässiges Wissen über die Vergangenheit.

Es gestaltet sich jedoch nicht so einfach mit dem „zuverlässigen Wissen“. Welche „Fakten“ der Vergangenheit sollen in der Geschichtskonstruktion aufgenommen werden? Ist z.B. „Konstantin der Große“ der Held, der den Christenverfolgungen ein Ende gesetzt und dem Christentum zum Durchbruch verholfen hat? Oder steht Konstantin für den Anfang vom „Sündenfall“ des Christentums, für den Moment, an dem die Pervertierung des Christentums durch das zu enge Bündnis mit dem Staat begonnen hat? Noch ein anderes Beispiel: Ist Bonifatius der „Apostel der Deutschen“, so wie er im 19. Jahrhundert zum „Nationalheiligen“ hochstilisiert wurde? Oder ist er der rabiate Rom-treue Bekämpfer anderer damals vorhandener Varianten des Christentums, der Vernichter der vorchristlichen Religion der Germanen? Wer nicht gelernt hat, wissenschaftlich historisch zu denken, wird schnell Mythen glauben und manipuliert werden können. Kirchengeschichte muss darum sowohl unter geschichtswissenschaftlichen Prämissen als auch kritisch betrieben werden. Sie fragt, unter welcher Perspektive Kirchengeschichte dargestellt wird. "Damit ist gleichzeitig die Frage nach der Glaubwürdigkeit gestellt, nicht im Sinne historischer Faktizität, sondern im Sinne eines glaubwürdigen Beitrags zum religiösen Lernen" (Dierk, 2005, 449). Dierk verbindet diese Aussage mit der methodischen Forderung nach multiperspektivischem Arbeiten.

2. Das Wissen um die Veränderbarkeit der Wirklichkeit. Wer historisch denkt, ist sich bewusst, dass alles Veränderungsprozessen unterlegen ist, und kann zwischen statisch und veränderbar unterscheiden. Das Wissen um Veränderbarkeit korrespondiert mit bestimmten geschichtsphilosophischen Positionen. Aurelius Augustinus zum Beispiel führte in „De civitate dei“ aus, wie Gott die Welt von einem Anfang in der Schöpfung, über die Mitte der Zeit (Jesus Christus) zu einem Ziel führt: die völlige Realisierung von Gottes Reich in dieser Welt. Zur Eroberung Roms im Jahr 410, erklärte Augustinus gegenüber dem Vorwurf des Senats, warum der christliche Gott die Stadt nicht gerettet hat, dass die Städte und Staaten „entstehen, werden und vergehen“, aber dass nur Gottes Reich bleiben wird. Eine lineare Geschichtsauffassung findet sich auch im Islam. In der Aufklärung wurde die gleiche lineare Sicht zu einem optimistischen Fortschrittsglauben säkularisiert. Wer linear denkt, wird eher geneigt sein historisch zu denken und kann etwas einen „Anachronismus“ nennen. Wer linear denkt, wird eine Periodisierung mit Kategorien wie „Alt(ertum), Mitte(lalter) und Neu(zeit)“ entwerfen, so wie sie von dem Kirchengeschichtler Cellarius (1634-1707) gemacht wurde und bis heute – trotz vielfacher Kritik – angewendet wird (Bergmann, 1997, 127-131).

3. Das Wissen um die Zeitbedingtheit von Werturteilen. Wer historisch denkt, kann durch den "Umweg" über die Vergangenheit zu mehr Ausgewogenheit bei einem moralischen Urteil kommen. Wer gelernt hat, historisch zu denken, wird das Andere von früher nicht als fremd und merkwürdig verurteilen, sondern versuchen, es in seiner Andersartigkeit zu verstehen.

Zwei Probleme bei der Bildung eines Werturteils anhand historischen Lernens sind (a), dass oft unbewusst die Jetztzeit als Norm genommen wird und (b) der Relativismus. Das erste (a) hängt damit zusammen, dass wir immer heute nach Gestern fragen. Darstellungen der (Kirchen)geschichte wimmeln von Worten wie „schon“ und „noch nicht“. Damit wird vorschnell die Situation heute für richtig und gut erklärt. Zwei Beispiele: Albert Schweitzer (→ Schweitzer, Albert) und Martin Luther (→ Luther, Martin). Über Albert Schweitzer wird öfter geschrieben, dass er 1921 schon sah, dass das Elend der Schwarzen mit dem Kolonialismus zu tun habe. Das heißt, dass es richtig sei, die Ungleichheit zwischen europäischen und afrikanischen Ländern durch politisch ungerechte Machtstrukturen zu erklären. Über Luther findet man häufiger die Aussage, dass er nicht sah, wie sein Modell vom Verhältnis zwischen Kirche und Staat den Nationalsozialismus gefördert hat. Dies heißt, dass das kritisch-loyale Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Deutschland heute besser ist als das von Luther, und dass diese Einsicht die Frucht der Auseinandersetzung der Kirche mit der NS-Zeit sei. Die Schwierigkeiten bei der Bildung eines historischen Sach- und Werturteils bei Schülerinnen und Schüler wurden u.a. empirisch von Andrea Kolpatzik (2019) erforscht.

Das zweite Problem (b) ist, dass ein rein historisierender Zugang dazu neigt, Vergangenheit nur zu beschreiben und Gefahr läuft relativistisch zu werden. „Das Überblicken der Jahrhunderte macht es nicht einfacher im Kampf um die Wahrheit Partei zu ergreifen. Für jegliche Position gibt es Argumente, wenn sie vor dem Hintergrund der Geschichte gesehen werden“ (Jelsma, 1984, 92-93). Für ein moralisches Urteil werden mehr Kriterien benötigt als nur diejenigen, die die Wirklichkeit selbst anträgt. Die Kirchengeschichte als theologisches Fach kann moralische Überlegungen aus dem christlich-ethischen Denken zur Hilfe ziehen. Sie kann durch das historische Relativieren Toleranz und Veränderbarkeit fördern („damals dachte und handelte man so“; das muss nicht so bleiben), ohne aber relativistisch sein zu müssen. "Anstelle vermeintlicher historischer Objektivität kann deutlich werden, dass stets aus einer spezifischen Gegenwart auf die Geschichte zurückgegriffen wird. Es ist daher legitim, problemorientiert auf die Kirchengeschichte zuzugreifen" (Dierk, 2005, 449).

Judentum und Christentum sind typische Erinnerungsreligionen und greifen auf diese Weise wertend auf die Vergangenheit zurück. (→ Erinnerung/Erinnerungslernen). Die wenigen Jahre des Wirkens Jesu von Nazareth sind konstitutiver Bezugspunkt für das Christentum. Glaube und Nachfolge vollziehen sich im Modus der Erinnerung (Noormann, 2006, 11). Die kirchlichen Rituale sind Vergegenwärtigungen des Vergangenen. Auch im zyklischen Fest- oder Kirchenjahr werden wichtige lineare historische Ereignisse bedacht. Gleichzeitig kann die Erinnerung auch eine "gefährliche" sein, weil sie "im Einspruch gegen das Vergessen heutige Christen beunruhigt und auf Umkehr und Veränderung drängt" (Metz, 1995).

4. Kompetenzmodelle historischen Denkens

Genau wie in der Religionspädagogik herrschte in der Zeit um 2005 ein intensives Suchen nach dem richtigen Kompetenzmodell für den Geschichts­unterricht. Die Kompetenzmodelle sollten beschreiben, was historisches Lernen ausmacht bzw. worüber Schülerinnen und Schüler verfügen, wenn sie die Fähigkeit haben, historisch zu denken. Ein erstes Kompetenzmodell, das im Jahr 2005 von Hans-Jürgen Pandel vorgelegt wurde, schloss bei Jörn Rüsen ("Narrativität") an. Es sprach von "narrativer Kompetenz" und nannte als zweite Fähigkeit die "geschichtskultu­relle Kompetenz" (Pandel, 2013). Vereinfacht gesagt geht es bei Letzterer um die Fähigkeit, Quellen der Vergangenheit (Kultur) in einer Zeitleiste einordnen und einen historischen Sinn entnehmen zu können. Ein zweites Kompetenzmo­dell wurde im Jahr 2006/2007 von der sogenannten FUER-Gruppe (Schreiber, Körber, Borries) entwickelt. Hier ist die zentrale Fähigkeit die "historische Orientierungskompetenz": Die Schülerinnen und Schüler können die Gegenwart auf der Basis einer vertieften historischen Allgemein­bildung beobachten und reflektieren und so zur Orientierung des eigenen Handelns anwenden. Die FUER-Gruppe – die Abkürzung steht für "Forschungsprojekt zur Förderung Und Entwicklung von Reflektiertem Ge­schichtsbewusstsein" – hängt einer konstruktivistischen Geschichtsdidaktik an, die betont, dass es eine zusätzliche Aufgabe des Geschichtsunterrichts sei, Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dass Geschichte ganz wesentlich ein Konstrukt ist. Sie müssen verstehen lernen, dass es zwar historische Fakten gibt, dass aber im Prozess das Vergangene "re-konstruiert" wird. Darum müssen historische Narrationen zunächst "de-konstruiert" werden. Kritisch wird zu diesem Ansatz an mehrere Stellen genannt, dass es sich dabei um ein sehr anspruchsvolles Unterfangen handelt, das sogar die Oberstufenschülerinnen und -schüler überfordern kann (Basse, 2011, 367). Der Geschichtsdidaktiker Joachim Rohlfes warnt in diesem Zusammenhang vor radikalen Konstrukti­vismus, der "faktisch-real beweisbare Aussagen" und die Möglichkeit von "transpersonaler Verständigung" leugnet. Sein Fazit: "Konstruktivismus ja, aber bitte nur in seiner gemäßigten, nicht in seiner radikalen Form, und bitte auch nicht immer und überall" (Rohlfes, 2009, 719). Das FUER-Modell wurde in Hamburg, Bremen und Berlin rezipiert.

Gegenüber Pandel und Schreiber/Körber/Borries formulierte der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD, 2011) einen dritten Entwurf, der in der Kontroverse "Narrativ" versus "Konstruktivismus" keine Position beziehen wollte und vor allem die klassische Didaktik von Karl-Ernst Jeismann ("Geschichtsbewusstsein") in Kom­petenzformulierungen umsetzte. Das VGD-Modell wurde in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen in die Kerncurricula aufgenommen. Die VGD hatte vorher schon maßgeblich Einfluss auf die Formulierung der Einheitlichen Prüfungsanforderungen für das Abitur in Geschichte. Die deskriptive historische Sachanalyse von Jeismann wurde zur Sachkompetenz: "Sachkompetenz zeigt sich in fundiertem Wissen über Vergangenes, das sowohl in seiner Eigenwirk­lichkeit als auch unter der Perspektive der Vorgeschichte der Gegenwart wahr­genommen wird […]“ (EPA-Geschichte, 2006, 4). Rüsens narrativer Ansatz wurde zur "Anwendungsfähigkeit": das Weitererzählenkönnen des klassischen "Wissens". Das normative historische Sachurteil von Jeismann wurde zur Methodenkompetenz: "Die Prüflinge beherrschen Verfahren, um auf der Grundlage sicheren Fachwissens histori­sche Verläufe und Strukturen zu analysieren und sinnbildend zu synthetisieren. […] Schwerpunkte der Methodenbeherrschung sind die Interpretation von Quellen unterschiedlicher Gattungen, die Analyse und kritische Auseinan­dersetzung mit verschiedenen Formen historischer Darstellung sowie die Entwicklung eigenständiger historischer Argumentationen“ (EPA-Geschichte, 2006, 4). Das historische Werturteil von Jeismann, das auf die eigene Haltung zielte, wurde in der EPA Geschichte zur Urteilskompetenz: "Die Prüflinge kommen zu einem durch Argumente begründeten Urteil (Sachurteil, Werturteil) […]" (2006, 4).

Zwei weitere innovative Kompetenzmodelle für historisches Lernen wurden vom amerikanischen National Centre for History in the Schools (NCHS, 1996) und vom Schweizer Geschichtsdidaktiker Peter Gautschi (2009) entwickelt. Die NCHS "Standards in historical thinking und unterstanding" beschreiben fünf Prozessstandards, die mit inhaltlichen Standards verbunden werden sollten. Für bestimmte "Era" (Epochen) wurden bestimmte inhaltliche "Topics" benannt. Auch die Kompetenzumschreibungen von Gautschi (2005/2015) gehen in diese Richtung. Die Modelle von NCHS und Gautschi wurden für die Kerncurricula des Faches Geschichte für die Gymnasiale Oberstufe (KCGO) in Hessen zu fünf Kompetenzen zusammengefügt:

  1. 1.Wahrnehmungskompetenz für Veränderungen in der Zeit. Chronological thinking. Hier geht es um das Wahrnehmen von Unterschieden zwischen Gegenwart und Vergangenheit in Quellen und Zeugnissen und um chronologisches Denken.
  2. 2.Erschließungskompetenz für historische Quellen und Darstellungen. Historical Comprehension. Hier geht es um den sachgemäßen Umgang mit historischen Quellen.
  3. 3.Interpretationskompetenz. Historical Analysis and Interpretation. Hier geht es darum, Material aus der Vergangenheit adäquat zu deuten.
  4. 4.Die Fähigkeit, historische Quellen zu analysieren. Historical Research Capabilities. Gautschi nennt diesen Standard nicht, weil er s. E. in den anderen Kompetenzen genügend vorkommt.
  5. 5.Orientierungskompetenz für Zeiterfahrung. Historical Issues-Analysis and Decision-Making. Durch die Beschäftigung mit dem Vergangenen können Werturteile und Handlungsmöglich­keiten für die Gegenwart abgeleitet werden.

Für das historische Lernen durch die Kirchengeschichte im Religionsunterricht kann ein Kompetenz­modell entwickelt werden, welches auch die obengenannten Theorien für das historische Denken berücksichtigt. Darüber hinaus, müssen aber sowohl die Entwicklung der kirchengeschichtsdidaktischen Ansätze der letzten 300 Jahre (→ Kirchengeschichtsschulbuch, evangelisch) als auch die Kompetenzmodelle für Religion (insbesondere EPA-Religion, 2006) zur Rate gezogen werden (Dam, 2022). Auf der Basis können dann drei "Grund­legende Kompetenzen" des kirchenhistorischen Denkens formuliert werden:

  1. 1.Die Schülerinnen und Schüler können das Christentum und die auch vom Christentum geprägte Kultur und Tradition als eine gewordene und veränderbare wahrnehmen und deuten.
  2. 2.Die Schülerinnen und Schüler können sich mit Personen aus der Vergangenheit des Christentums auseinandersetzen, diese Begegnung reflektieren und zur Gestaltung ihres Christseins in Beziehung setzen.
  3. 3.Die Schülerinnen und Schüler können die ethischen Themen und Fragen, vor die Christinnen und Christen in der Vergangenheit gestellt wurden, wahrnehmen und das Handeln sowohl als zeitbedingt wie auch als mögliche Optionen beurteilen.

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