Musik, kirchengeschichtsdidaktisch
(erstellt: Februar 2017)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Musik_kirchengeschichtsdidaktisch.100279
1. Begründungskontext
Bildungstheoretischer Ausgangspunkt für eine → Kirchengeschichtsdidaktik
1.1. Nachhaltige Bildung und Ästhetik
Von nachhaltiger Bildung im ästhetischen Kontext kann gesprochen werden, wenn – im Gegensatz zum oberflächlichen, mechanisch-habituierten Lernen – die Tätigkeit des lernenden Subjekts innerlich-aktiv und selbstständig ist. Friedrich Schleiermacher spricht in diesem Zusammenhang von der Selbstorganisation des Geistes (Schleiermacher, 1967, 102f.), durch welche diese innere Tätigkeit frei und tiefgründig im Sinne einer autopoiesis (Nipkow, 2010, 324) geschieht und mit der Religion gleich gesetzt werden kann: „Aus dem Innersten seiner Organisation muss alles hervorgehen, was zum wahren Leben des Menschen gehören und ein immer reger und wirksamer Trieb in ihm sein soll. Und von dieser Art ist die Religion; in dem Gemüth, welches sie bewohnt, ist sie ununterbrochen wirksam und lebendig, macht alles zum Gegenstande für sich, und jedes Denken und Handeln zu einem Thema ihrer himmlischen Phantasie“ (Schleiermacher, 1967, 102f.). Der affektiven Wirkungsweise der Religion im Inneren des Menschen als Prozess der freien Selbstorganisation des Lernenden können für den Lehrenden die Dichtung, die Musik, die darstellenden und reproduzierenden Künste gegenüber gestellt werden. Als Medium in der Kunst des Unterrichtens ermöglichen sie durch die Anwendung von Kunstregeln im individuellen Schöpfungsakt freien Gestaltungsraum – professionstheoretisch (→ Professionsforschung
1.2. Erinnerungsfunktion von Musik
Überträgt man das bisher Gesagte in einen neurowissenschaftlichen Kontext, so muss vor dem Hintergrund nachhaltiger Bildung, insbesondere für die Kirchengeschichtsdidaktik, von den sogenannten Gedächtnissystemen gesprochen werden. Geht es beispielsweise um die Aneignung von Fakten, Themen und Sachen aus der Geschichte, wird das semantische Gedächtnis als Langzeitgedächtnis des Wissenssystems aktiv (Piefke/Fink, 2013, 14). In diesen Kontexten kann Musik, insbesondere aufgrund ihrer Symbolsprache (→ Symboldidaktik
2. Lernwege und Lernorte
2.1. Didaktische Entfaltungen
Kirchengeschichtliche Themen können unter Berücksichtigung der Entwicklung des jeweiligen historischen Verständnisses der Lernenden (→ Geschichtsvorstellungen
Auf der anderen Seite ist Musik Bestandteil von beziehungsweise Quelle in Religion und Geschichte, vor allem wenn es um den großen Bereich der Kirchenmusik geht. Musik wird somit selbst zum historischen Dokument (in Abbildung 1 ist sie im Bereich B. Religions- und Kirchengeschichte enthalten), entstehungsgeschichtlich hat sie einen Sitz im Leben von Menschen in den unterschiedlichen Zeitkontexten und bietet mit ihrem Wort-Ton-Verhältnis Einblicke in bestimmte Deutungen von Ereignissen, die in der Vergangenheit liegen. Die Choräle des Evangelischen Gesangbuches oder des Gotteslobs spiegeln klingende Gemeindegeschichte durch die Jahrhunderte wider, in der Dichter und Musiker ihre Glaubenserfahrungen im jeweiligen zeitlichen Kontext manifestieren und – ästhetisch im Liedgut geformt – für die liturgisch-performative Ingebrauchnahme zur Verfügung stellen (weitere Beispiele sind unter Punkt 2.2 zu finden). Diese Lieder erfahren je nach historischem Kontext unterschiedliche Bedeutungszuweisungen. Werden sie performativ, das heißt aktiv, rezipiert am Lernort Schule und Gemeinde (→ performativer Religionsunterricht
2.2. Methodische Umsetzungen
Der Prozess historischen Denkens wird durch die Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft angeregt (Hasberg, 2015, 2.). Als Lernwege zum differenzierten, kritischen und vernetzten Denken, welches die Fähigkeit zum → Perspektivenwechsel
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
- Kirchengeschichtsdidaktische Transformationsprozesse von Sprache und Musik als Ausdrucksform und Medium religiösen und geschichtlichen Sprechens © Copyright Heike Lindner
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