Alltag
(erstellt: März 2024)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.400024
1. Alltag – begriffliche Annäherungen
Theologie beschäftigt sich auf unterschiedlichen Ebenen mit dem Alltag von Menschen. Dass Theologie sich mit Alltag auseinandersetzt, ist eine neuere Entwicklung, die eng mit der Entwicklung des Bürgertums und der damit einhergehenden Privatisierung und Individualisierung des Lebens im 19. Jahrhundert zusammenhängt. Mit Kristin Merle kann Alltag dabei verstanden werden im Sinne „routinierte[r] und somit (zyklisch) wiederkehrende[r] Abläufe im Leben von Menschen“ (Merle, 2011, 22). Mit dem Begriff Alltag ist, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auch der Kontrast zwischen Alltäglichem und Außeralltäglichem angesprochen: Der Alltag erscheint theologisch als das (etwa durch einschneidende biographische Erfahrungen, aber auch durch Feste) Unterbrochene. Innerhalb der Theologie wird der Begriff bislang insbesondere, wie in 3.2 zu zeigen sein wird, im poimenischen Diskurs aufgegriffen. Dass er auch in anderen Kontexten zum Erkenntnisgewinn beitragen kann, sollen die folgenden Überlegungen zeigen.
Offensichtlich handelt es sich um eine Begriffswolke mit unscharfen Rändern, wobei manche Begriffe sowohl in der Alltags- als auch in der Fachsprache synonym gebraucht werden: So begegnen etwa im theologischen Diskurs Überschneidungen unter Stichworten wie → Lebenswelt
2. Was ist Alltag? Interdisziplinäre Modelle
2.1. Mythen des Alltags
In seinem Werk „Mythen des Alltags“ unterzieht der französische Philosoph Roland Barthes (1915-1980) ausgewählte Phänomene einer methodischen Relektüre, bei der er scheinbare Selbstverständlichkeiten aufrütteln möchte, mit denen diese Phänomene täglich wahrgenommen werden: Er möchte „dem ideologischen Mißbrauch auf die Spur kommen, der sich nach meinem Gefühl in der dekorativen Darstellung des Selbstverständlichen verbirgt“ (Barthes, 2012, 11). Alltägliche Phänomene sind nach Barthes im Sinne komplexer Zeichensysteme – nach Barthes wären dies Mythen – zu deuten. So untersucht er exemplarisch einige Mythen aus dem Alltag, wie zum Beispiel die Hochzeit, die im Alltag immer auch für „soziales Prestige“ (Barthes, 2012, 62) stehe. Neben der Hochzeit untersucht Barthes als ein weiteres Alltagsphänomen Spielsachen. Er deutet Spielsachen im Sinne von Abbildern jener Gegenstände, mit denen Erwachsene sich umgeben; sie seien „verkleinerte Reproduktionen von Dingen aus der Erwachsenenwelt, als ob in den Augen des Publikums das Kind eigentlich nur ein kleinerer Mensch wäre, ein Homunkulus, dem man Gegenstände liefern muß, die seiner Größe entsprechen“ (Barthes, 2012, 74). Mit seiner Alltagsanalyse verbindet sich oft auch eine sozialkritische Perspektive, etwa wenn er kritisiert, das Spielzeug sei „im allgemeinen ein Imitationsspielzeug, es will aus den Kindern Benutzer, nicht Schöpfer machen“ (Barthes, 2012, 75). Der Alltag ist für Barthes ein kommunikatives System von Phänomenen, die in ihrer Vieldeutigkeit Anlass zur semiotischen Analyse geben. Der Gedanke, dass dem Alltag eine Tiefenstruktur innewohnt, zeigt sich auch in den beiden im Folgenden betrachteten Ansätzen.
2.2. Alltägliche Transzendenzen
Im Sinne der beiden Soziologen Alfred Schütz (1899-1959) und Thomas Luckmann (1927-2016, Schütz‘ Schüler, der dessen Werk posthum fertigstellte) stellt der Alltag eine tradierte Ordnung lebenswichtiger Strukturen dar, „denn eben im Alltag sind wir nicht allein und nicht die ersten“ (Schütz/Luckmann, 2003, 590). Diese Ordnungen werden erst dann vollkommen bewusst, wenn sie als fragil erlebt werden. Die menschliche Grunderfahrung, dass alltägliche Ordnungen als zerbrechlich erfahren werden können, bezeichnen Schütz/Luckmann mit dem Begriff der Transzendenz: „Jedermann weiß um die ‚Transzendenz’ der Welt, in der er lebt, jedermann weiß um die Grenzen seines Lebens in ihr. Wir leben in einer Welt, von der wir wissen, daß wir in ihr sterben werden“ (Schütz/Luckmann, 2003, 590). Dabei unterscheiden sie drei Formen von Transzendenzen: kleine, mittlere und große. Während kleine Transzendenzen alltägliche Grenzerfahrungen wie z.B. Erinnerungslücken bezeichnen, beziehen sich große Transzendenzen auf die großen Fragen des Lebens wie jene nach dem Tod. Mittlere Transzendenzen hingegen beziehen sich auf die alltägliche Verständigung zwischen Menschen, konkret auf solche Momente, in denen die Kommunikation stockt. Die alltägliche Transzendenz zeigt sich nach Schütz und Luckmann insbesondere in der Kommunikation – dies ist ein Gedanke, der sich später in homiletischen und vor allem poimenischen Theorien zeigen wird und der, wie im nächsten Absatz skizziert wird, bei Bernhard Waldenfels Anklang findet.
2.3. Das alltägliche Mehr an Bedeutung
Nach dem Philosophen Bernhard Waldenfels kommt allen Phänomenen ein „alltägliche[s] Mehr an Bedeutung […] aufgrund ihres Verweisungscharakters“ (Waldenfels, 1997, 358) zu. Deutlich wird dies bei Waldenfels an Beispielen des Alltags wie jenem der Gabe, die auf alltäglicher Ebene zu bestimmten Anlässen erscheint, gleichzeitig aber den Alltag auf mannigfaltige Weise überschreitet: zum Beispiel, indem die Gabe zum Symbol interpersoneller Beziehungen wird (vgl. Waldenfels, Un-ding). Von solchen alltäglichen Phänomenen unterscheidet Waldenfels religiöse Praktiken und rituelle Handlungen mit einem „außeralltäglichen Bedeutungsüberschuss“ (Waldenfels, 1997, 358). Das Religiöse besteht für Waldenfels allerdings nicht in einer unterschiedlichen Konstitution auf Ebene des Phänomens, sondern vielmehr in einer bestimmten Deutungsperspektive: Die Alltagsphänomene sind nicht per se religiös, sondern sie werden „als religiös verstanden“ (Waldenfels, 1997, 359). Manche Phänomene laden aber besonders zu einer hyperphänomenalen Deutung ein, nämlich „Einbrüche und Durchbrüche, die das normale Verhalten unterbrechen“ (Waldenfels, 1997, 367) wie zum Beispiel Geburt und Tod, Liebe und Hass, Begegnung und Abschied. Das Hyperbolische einer solchen Erfahrung verdeutlicht Waldenfels sprachlich, insofern es seinen Ausdruck weder im Superlativ oder Elativ findet, sondern vielmehr in „Formulierungen […] wie ‚zu groß’, die wir dann gebrauchen, wenn etwas unsere Fassungskraft übersteigt“ (Waldenfels, 1997, 71).
3. (Praktisch-)theologische Zugänge zum Alltag
3.1. Kirche mitten im Alltag
Im engeren Sinne wurde das Thema Alltag für die evangelische Theologie im Zuge der theologischen Neuorientierungen in den 1960er-Jahren relevant. In kritischer Auseinandersetzung mit der Wort-Gottes-Theologie war Ernst Lange (1927-1974) einer der ersten Theologen, die sich theoretisch und praktisch dafür einsetzten, dass Theologie bzw. Kirche nicht einer gebildeten Minderheit vorenthalten bleibt und sich mit weltfremden Themen auseinandersetzt, sondern dass sie sich mit den alltäglichen Fragen von Menschen beschäftigt. In Berlin-Spandau gründete er die sogenannte Ladenkirche, eine Kirche mitten im Stadtleben in einem ehemaligen Geschäft: „ein Programm für eine Kirche nah an der Straße, nah am Leben, in den wirklichen Konflikten des wirklichen Alltags von Menschen“ (Lange, 2011, 330).
Insbesondere die kirchliche Predigt sieht er herausgefordert, mit den Anforderungen des Alltags umzugehen. Ziel einer Predigt ist es aus seiner Sicht nicht, dass die Predigerin oder der Prediger um jeden Preis bestimmte, vorgegebene Themen positioniert. Sondern am Anfang steht für ihn vielmehr die Predigthörerin und der Predigthörer in seiner alltäglichen Situation: „Welche Relevanz hat die Christusverheißung im Hic et Nunc des Hörers?“ (Lange, 1982, 28). Der Prediger ist nicht primär Anwalt von Kirche und Theologie, sondern er ist „zunächst Anwalt der Hörergemeinde, denn es ist die homiletische Situation, durch die der homiletische Akt jeweils herausgefordert wird“ (Lange, 1982, 30). Damit meint Lange die konkrete, lebensweltliche Situation, in die der Bibeltext hineingepredigt wird, wozu eben auch der Alltag der Hörerinnen und Hörer gehört. Um diese homiletische Situation sensibel zu erschließen, bedarf die predigende Person unter anderem der genauen Kenntnis ihres Adressatenkreises, konkret etwa der „Kenntnis der alten Leute, die da sitzen, und des Problems des Altwerdens und Altseins in der Leistungsgesellschaft; Kenntnis der Konfirmanden, der Jugendlichen, die da sitzen, und ihrer außerordentlich komplizierten Übergangssituation“ (Lange, 1982, 73), kurzum: Die predigende Person sollte sich bewusst darüber sein, mit welcher Art von Menschen sie es zu tun hat und was diese Menschen wiederum in ihrem unterschiedlich gearteten Alltag beschäftigt.
3.2. Der fragliche Alltag
In der Tradition eines Alltagsverständnisses, wie Schütz und Luckmann es entwerfen (siehe oben), legt Henning Luther (1947-1991) in seinem Werk „Religion und Alltag“ den Fokus auf die Bruchlinien im Alltag, auf jene Momente, in denen die Selbstverständlichkeiten des Alltags plötzlich fraglich werden. Es sind religiöse Fragen, die nach H. Luther in solchen Momenten präsent werden – religiös in jenem Sinne, dass eine Distanz zum Alltag aufgemacht wird: „Religiöse Fragen [...] gehen auf Distanz zur Welt insgesamt. Sie artikulieren Differenz zur Welt, um einen (neuen) Bezug zur Welt zu gewinnen.“ (Luther, 1992, 25) Damit ist keine kritische Distanz gemeint, mit der Religion den Alltag abwerten oder beurteilen würde, sondern es ist vielmehr eine interessierte, öffnende Distanz, mit der bestehende Selbstverständlichkeiten hinterfragt und neue Perspektiven auf die „Welt insgesamt“ ermöglicht werden. Religion ist nach H. Luther daher „im Kern gerade nicht Sinnstiftung oder Bewältigung von Kontingenz“ (Luther, 1992, 27), weil sie die Fraglichkeiten des Alltags nicht abschließt, sondern: „Religion bewahrt vielmehr die Zerissenheit, aus der sie lebt. Sie ist Trost nur, insofern sie mit der Erinnerung an das ‚Versprechen’ den Einspruch gegen eine Welt wachhält, die ohne Tränen der Trauer ist“ (Luther, 1992, 27). Der Alltag ist deshalb so eng mit Religion verknüpft, weil er im Sinne H. Luthers der Ursprung religiösen Fragens ist: Religion bedeutet dann nicht, „Sinn für eine (die) andere Welt zu haben, sondern die Welt anders zu sehen, einen anderen Sinn für die Welt zu bekommen“ (Luther, 1992, 29). H. Luthers Ansatz ist also keine Alltagstheologie im Sinne jener Ansätze, die im Folgenden vorgestellt werden, sondern aus H. Luthers Schriften spricht die Intention, den Alltag gleichsam als Ansatz wie als Kritikpunkt theologischen Nachdenkens in den Blick zu nehmen.
3.3. Alltagstheologie und Alltagsdogmatik
In der neueren Theologie wurde der Alltagsbegriff vor allem durch Wolfgang Steck und seine Schülerinnen und Schüler etabliert. Im Jahr 2014 hielt Steck fest: „In den vergangenen Jahrzehnten hielt der ‚Alltag’ Einzug in die Studierstuben der praktischen Theologen“ (Steck, 2005, 195). Dies macht er fest an einem weiten, alltagsphänomenologischen Themenspektrum, dem sich die „Alltagstheologen“ (Steck, 2005, 195) in jüngerer Zeit widmen. Theologie setze sich eben nicht mehr ausschließlich mit biblischen oder dogmatischen, sondern auch mit ganz alltäglichen Themen wie Popularmusik oder Sport auseinander. Die theologische Praxisperspektive und -erfahrung ist für Steck der Grund, weshalb Theologinnen und Theologen (speziell in der Praktischen Theologie) einen von anderen Fachperspektiven unterschiedenen Blick auf den Alltag besitzen. Theologie nähert sich dem Alltag der Menschen nicht nur von außen, sondern sie ist für viele Menschen selbst Teil des Alltags. Ein Pfarrer oder eine Pfarrerin befindet sich in diesem Sinne in einem charakteristischen Spannungsverhältnis, ist er oder sie doch einerseits Partizipant der Alltagswelt, ein „Alltagsmensch[…]“ (Steck, 2005, 197), betrachtet diese Welt aber andererseits aus einer reflexiven Distanz. Dieses Dazwischen zeigt sich nach Steck besonders im Seelsorgegespräch, in dem aus einem „Smalltalk“ plötzlich eine „eine ernsthafte Unterredung“ (Steck, 2005, 198) werden kann. Mit diesem Übergang vom Alltags- zum Seelsorgegespräch haben sich Praktische Theologen in der Tradition Stecks aus poimenischer Perspektive auseinandergesetzt, wie noch zu zeigen sein wird.
Eine weitreichende theologische Perspektive auf den Alltag bietet jene der Alltagsdogmatik an, die ebenfalls von Wolfgang Steck geprägt wurde.Mit Alltagsdogmatik meint Steck jedoch nicht primär, traditionelle dogmatische Denkfiguren für theologische „Laien“ verständlich zu machen. Sondern Alltagsdogmatik bedeutet, dass Alltag und Dogmatik in ein konstruktives Gespräch gebracht werden, wobei nicht dogmatische Topoi normativ auf den Alltag projiziert werden, sondern vielmehr umgekehrt versucht werden soll, „die in die Alltagspraxis verwobenen Gestalten religiösen Wissens hinsichtlich ihrer spezifischen Sinngehalte zu entschlüsseln“ und über die Anregung einer Selbstreflexion von Theologinnen und Theologen letztlich „einen Beitrag zur Fortentwicklung der protestantischen Religionskultur, zu ihrer alltagsverbundenen wie zu ihrer wissenschaftlich avancierten Selbstreflexion, zu leisten“ (Steck, 2005, 291).
3.4. Theologie als Religionshermeneutik des Alltags
Zur selben Zeit, als auch Wolfgang Steck und Henning Luther ihre theologischen Alltagstheorien entwarfen, entwickelte Wilhelm Gräb eine ebenfalls alltagszugewandte Theologie unter dem Oberbegriff der Religions(kultur)hermeneutik. In der Tradition von Schütz und Luckmann setzt er den religionshermeneutischen Fokus auf Erfahrungen der Grenze – etwa „der Grenzen unserer analytischen Fähigkeiten“, jener „unserer ethischen Sicherheit“, oder auch „der Grenzen unserer Leidensfähigkeit“ (Gräb, 2006, 38). Religiöse Fragen brechen dort auf, wo die „scheinbare Selbstverständlichkeit unseres alltäglichen Lebensgangs“ (Gräb, 2006, 38) fraglich wird. Anders als H. Luther zögert Gräb nicht, Religion auch als funktionales Phänomen zu beschreiben: „Sie arbeitet an der Deutung des Sinns unseres kontingenten, individuellen menschlichen Lebens“ (Gräb, 2006, 37). In der Tradition Gräbs zeigt sich Religion in der konkreten und historisch veränderlichen Gestalt menschlicher Kultur, das heißt gerade auch: der Alltagskultur.
Im Jahr 2008 erschien unter dem Titel „Der verborgene Sinn“ eine Festschrift für Wilhelm Gräb, die die von ihm begründete religionskulturhermeneutische Tradition in jenem Sinne weiterdenkt, als sie sie mit der Idee der Alltagsdogmatik nach Steck verbindet. Die darin enthaltenen Beiträge zielen darauf ab, den Überschuss an Sinn, das Transzendente in ebenjenen Momenten des Alltags sichtbar zu machen, in denen sie aufbrechen: Inwiefern bricht beim Aufstehen die Frage nach dem Sinn auf, offenbart sich im Falle einer Zugverspätung die Kontigenz des Lebens oder wird am Beispiel des Weihnachtsgeschenks eine anthropologische Grundstruktur des Dankens ersichtlich? Die Grundüberlegung dieser alltagshermeneutischen Tiefenbohrungen ist jene, dass „der Alltag hochgradig von verborgenem Sinn durchzogen“ (Korsch/Charbonnier, 2008, 12) ist. Diesem verborgenen Sinn nachzuspüren, der sich insbesondere an den Kontingenzen des Lebens zeigt, ist die Aufgabe theologischen Nachdenkens. Alltagsdogmatik steht damit für einen hermeneutischen Zugang zu einer Grundspannung, die dem Alltag im Sinne der vorgestellten Positionen immer schon eingeschrieben ist: Alltag lebt von seinen lebensweltlichen Grenzen, an denen das Außeralltägliche beginnt, und auf diese Grenzen verweist der Alltag und durch sie definiert er sich selbst.
4. Handlungsfeldbezogene Zugänge: Religionspädagogik und Alltagsseelsorge
4.1. Religionspädagogik und Alltag
Grundsätzlich baut das von Karl Ernst Nipkow und Friedrich Schweitzer entwickelte religionspädagogische Konzept der Elementarisierung auf der Idee auf, dass Schülerinnen und Schüler sich dann Inhalte besonders gut aneignen können, wenn diese nicht auf einer abstrakten Ebene, sondern auf einer konkret-lebensweltlichen, eigene Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler aufnehmenden Ebene vermittelt werden. Als elementare Erfahrungen sind nach Nipkow zweierlei Erfahrungsebenen zu verstehen: „die Erfahrungen der Schüler heute und der ‚Erfahrungsgrund’ (G. Ebeling) der überlieferten Zeugnisse von damals“ (Nipkow, 1996, 102; Hervorhebung im Original). Ziel der didaktischen Ergründung dieser Erfahrungsebenen sei es, dass „die Lebens- und Glaubenserfahrungen (und in dieser Konkretion die ‚Offenbarung’ Gottes) hinter und in den Texten und die Erfahrungen vor und mit den Texten in eine lebendige Korrelation geraten“ (Nipkow, 1996, 102, Hervorhebung im Original). Zum Beispiel könne „die Rechtfertigungslehre des Paulus auf seine Rechtfertigungserfahrung in seiner Biographie zurückgeführt und mit den elementaren Erfahrungen von Leistungsanforderung, Selbstzwang und Angenommenwerden heute korreliert werden“ (Nipkow, 1996, 102). Elementarisierung im Sinne Nipkows meint damit eben keine (oder zumindest nicht ausschließlich eine) Reduktion der Lerninhalte, sondern das Herstellen von Anschlussmöglichkeiten im Sinne einer wechselseitigen Erschließung zwischen dem zu Lernenden und der Erfahrungswelt der Kinder und Jugendlichen. Diese Erfahrungswelt lässt sich nicht von ihrem Alltag trennen. Gott verstehen Kinder zum Beispiel nicht als eine abstrakt-metaphysische Entität, sondern vielmehr konkret-lebensweltlich als „ein zwischenmenschliches Geschehen, ein emotionales Ereignis, eine sprachliche Entdeckung, eine Gewissensangelegenheit und eine intellektuelle Herausforderung“ (Nipkow, 1987, 39). Berührungspunkte zur Idee der Elementarisierung finden sich etwa in Konzepten wie jenem der Symboldidaktik, die davon ausgeht, dass Kinder und Jugendliche immer vermittelt über eine dem eigenen Alltagskontext entstammenden Zeichenwelt wahrnehmen und lernen. Aber auch an die → alltagsintegrierte religiöse Bildung
Diese Anforderung spiegelt sich auch in den Lehrplänen und Kerncurricula der einzelnen Bundesländer, wie an den Beispielen Bayern und Hessen gezeigt werden soll. So wird im Fachprofil des bayerischen LehrplanPLUS als Ziel des evangelischen Religionsunterrichts unter anderem benannt, „Motive und Elemente in der (Alltags-)Kultur zu identifizieren und mit ihnen kritisch umzugehen“ (LehrplanPLUS Bayern, o.S.). Bezugnehmend auf den oben zitierten Ansatz H. Luthers wird als Aufgabe des Religionsunterrichts die Erschließung von „Religion als Möglichkeit, das Ganze der Wirklichkeit in den Blick zu nehmen und aus solchem ‚Weltabstand‘ heraus neue Perspektiven auf die Alltagswelt zu gewinnen“ (LehrplanPLUS Bayern evangelisch, Gymnasium, o.S.) genannt. Insbesondere an der Luther-Referenz wird deutlich, dass mit der Alltagskritik keine Abwertung des Alltags gemeint ist, sondern vielmehr eine methodische Distanznahme im Sinne einer Wahrnehmung von Bruchstellen und Transzendenzmomenten im Alltag, auf die auch die oben referierten soziologischen und philosophischen Alltagstheorien den Wahrnehmungsfokus richten.
Auch im katholischen LehrplanPLUS wird der Alltag explizit als Reflexionsgegenstand des Religionsunterrichts benannt. So werden als Orte, an denen die Schülerinnen und Schüler „Begegnungen mit Religion und Glaube“ sammeln, genannt: „im alltäglichen Zusammenleben in der Familie, in einer Vielzahl von Anlässen innerhalb des sozialen, gesellschaftlichen und kirchlichen Lebens, in Eindrücken der Medien, an Festtagen des Kirchen- bzw. Kalenderjahres, auch in kirchlichen Aktionen, die sich an Heranwachsende wenden“ (LehrplanPLUS Bayern katholisch, Realschule, o.J.). Die beschriebenen Erfahrungen sollen im Religionsunterricht „reflektiert“ werden, um „eine fundierte persönliche Glaubensentscheidung zu ermöglichen“ (LehrplanPLUS Bayern katholisch, Realschule, o.J.).
Im hessischen Kerncurriculum für die gymnasiale Oberstufe wird (wie in nahezu allen anderen Bundesländern) der zu erwerbende Kompetenzbereich „Wahrnehmungs- und Darstellungsfähigkeit“ angegeben, der darauf abzielt, „religiös bedeutsame Phänomene wahr[zu]nehmen und [zu] beschreiben“ (Hessisches Kultusministerium, o.J., 13). Auch, wenn hier nicht explizit von Alltagsphänomenen die Rede ist, so würde sich doch gerade der Alltag als Erfahrungsort der Schülerinnen und Schüler zum Gegenstand einer religionshermeneutischen Deutung anbieten. In ähnlicher Weise zielt auch der Kompetenzbereich „Deutungsfähigkeit“ darauf ab, im weitesten Sinne alltägliche Phänomene – genannt wird „religiös bedeutsame Sprache und Zeugnisse“ (Hessisches Kerncurriculum, 13) – theologisch begründet zu deuten. Explizit wird mit Blick auf das erste Kurshalbjahr der Oberstufe die Wahrnehmung von „Religion und Religiosität […], so wie sie im Alltag gelebt werden“ (Hessisches Kultusministerium, o.J., 30), als Lernziel benannt. Insgesamt entsteht jedoch der Eindruck, dass mit Blick auf die Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler weniger vom Alltag, sondern eher von der „Lebenswelt“ (Hessisches Kerncurriculum, z. B. 21, 29 oder 30) die Rede ist.
Bemerkenswerterweise werden im religionspädagogischen Diskurs die Begriffe Alltag und Lebenswelt teilweise synonym verwendet. Ausgehend von den oben zitierten philosophischen und soziologischen Alltagsverständnissen wäre jedoch zwischen beiden Begriffen stärker zu unterscheiden, wobei der Begriff des Alltags sich besonders in solchen Kontexten anbietet, in denen seine Unterbrechung im Sinne des Außeralltäglichen mitgedacht wird.
4.2. Alltagsseelsorge
Im Bereich der Poimenik wurde der Begriff des Alltags breit rezipiert; die folgenden Überlegungen sind auch religionspädagogisch insofern relevant, als sie sich nicht nur für die Schulseelsorge, sondern auch für die Gesprächsführung im Religionsunterricht fruchtbar machen lassen. Wiederum ist es Wolfgang Steck, der bereits 1987 das Alltagsgespräch als die „Ursprungssituation des pastoralen Seelsorgegesprächs“ (Steck, 1987, 175) beschreibt. Dabei unterscheidet sich das Seelsorge- vom Alltagsgespräch allerdings nicht in dem Sinne, dass es hinsichtlich seiner Kommunikationsstruktur komplett unterschiedlich wäre. Sondern es ist in erster Linie die Definition sozial bestehender Rollen, die den Übergang zum Seelsorgegespräch definieren: jene nämlich „des Seelsorgesuchenden und des Seelsorgers“ (Steck, 1987, 179). Auch, wenn sich die Situation des Seelsorgegesprächs strukturell nicht von jener anderer Alltagsgespräche unterscheidet, so verändert doch das vorab definierte Rollenverständnis die Gesprächsdynamik, indem eine besondere Intimität und Intensität entstehen kann, die jedoch aufgrund des institutionell bestimmten Rollenverhältnisses nicht in Konkurrenz zu intimen Kontakten wie etwa zum Ehepartner steht: „Wenn einer mit dem Gesprächspartner intimer redet als mit seinem Lebenspartner, so bedeutet dies keineswegs, dass er mit ihm auch intimer ist“(Steck, 1987, 180).
Eberhard Hauschildt entwickelte in Weiterführung der theologischen Linie Stecks das Konzept der Alltagsseelsorge. Seelsorge bedient sich nicht nur alltäglicher Themen, sondern sie gehört wiederum „zum alltäglichen Handeln der Kirche“ (Hauschildt, 1996, 11). Dabei schildert er das Verhältnis von Theologie bzw. Kirche und Alltag als ein doppelseitiges: (Pastoraler) Alltag ist zum einen das Seelsorgegespräch aufgrund seiner professionellen Verankerung, zum anderen bildet der Alltag den konstitutiven Rahmen des Seelsorgegesprächs. Besonders deutlich wird dies am Beispiel von Geburtstagsbesuchen, wie Hauschildt sie analysiert: In scheinbar alltäglichen Gesprächen ergeben sich in der Kommunikationsstruktur plötzlich Mikromomente, in denen der Gesprächsmodus wechselt und ein „Fenster der Transzendenz“ (Hauschildt, 1996, 273) aufgeht – beispielsweise dann, wenn eine Gesprächspartnerin oder ein Gesprächspartner plötzlich den Tod thematisiert.
Das von Steck und Hauschildt geprägte Konzept der Alltagsseelsorge führt Timm H. Lohse weiter, indem er eine methodische Anleitung für sogenannte Kurzgespräche entwickelt. Kurzgespräche sind Gespräche, die sich „im Alltag zu jeder Zeit und an allen Ecken und Kanten des Lebens“ (Lohse, 2006, 14) – buchstäblich zwischen Tür und Angel – ergeben und eine gleichsam komprimierte Form der Kommunikation darstellen. Kennzeichnend für solche Kurzgespräche ist die Asymmetrie zwischen den Interaktanten: Auf der einen Seite steht die ratsuchende, auf der anderen Seite die beratende Person, wobei die Überwindung des Machtgefälles ein Ziel des Gesprächs ist. Das Kurzgespräch ist funktional und zielorientiert gedacht: Das Mandat der seelsorgesuchenden Person – die Bitte um ein kurzes Gespräch – wird wörtlich genommen und es wird in einem kurzen Gespräch versucht, der anderen Person neue Perspektiven aufzuzeigen. Kurzgespräche sind also ein Beispiel, wie Seelsorge im Alltag verankert ist – aber auch, wie alltägliche Themen und Anlässe Gegenstand seelsorglicher Begegnung werden können.
In derselben Tradition entwickelt Rolf Theobold das Konzept der sogenannten Kurzzeitseelsorge. Diese sei „hervorragend geeignet für alle Formen von Alltagsseelsorge“ (Theobold, 2015, 141), was mit der niedrigen methodischen Hürde solcher Gespräche zusammenhängt. Wie Lohse plädiert Theobold dafür, die seelsorgesuchende Person nicht zu vertrösten, sondern „die Gunst des Augenblicks (Lohse spricht vom ‚kairos’) zu nutzen“ (Theobold, 2015, 31) und das Mandat anzunehmen. Sofern der Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin dies wünscht, sei die Kurzzeitseelsorge lösungsorientiert zu gestalten.
Denkt man dieses poimenische Konzept alltagstheologisch weiter, so zeigen sich auch in Gesprächssequenzen, die nicht im engeren Sinne eine Seelsorgefunktion erfüllen, kommunikative Strukturen, die im Sinne der unter 1 vorgestellten Konzepte als Transzendenzmomente bzw. Hyperphänomene beschrieben werden könnten. Kommunikation schießt zum Beispiel insofern über, „als eine Dimension des Unverfügbaren angesprochen wird“ (Grill, 2020, 309) – wenn in ihr plötzlich und wie aus dem Nichts existenzielle Themen aufscheinen. Dies korreliert mit der anfangs skizzierten Überlegung, dass das Transzendente mitten in der Kommunikation auftritt. Das „Überschießende“ alltäglicher Kommunikation verweist nicht auf einen essenziell religiösen Gehalt von Kommunikation, sondern es stellt vielmehr eine Deutungsperspektive dar: Jede Form alltäglicher Kommunikation besitzt das „Potential […], einen sinndeutenden Rahmen anzunehmen“ (Grill, 2020, 18), insofern in ihr existenzielle Themen angelegt sind und sich jederzeit Fenster der Transzendenz öffnen können. Insofern könnte von einer religiösen Grundierung des Alltags gesprochen werden: Zwar sind nicht die Alltagsphänomene an sich „religiös“, aber der Alltag bietet immer wieder Momente, die sich religionshermeneutisch (wie etwa die Autorinnen und Autoren des Buches „Der verborgene Sinn“ [Korsch/Charbonnier, 2008] dies intendieren) deuten lassen.
Der Gedanke eines in alltäglichen kommunikativen Vollzügen aufscheinenden „überschießenden“ Potentials ist wiederum für den religionspädagogischen Bereich anschlussfähig. In vielen Landeskirchen und Diözesen ist die Institution der Schulseelsorge etabliert. Daneben finden sich Religionslehrkräfte aber auch im Schulalltag häufig in Situationen wieder, in denen sie zwischen Tür und Angel gefragt sind: etwa im Kurzgespräch nach der Unterrichtsstunde, oder auch im schnellen Plausch mit der Kollegin oder dem Kollegen im Lehrerzimmer. Handelt es sich auch um einen institutionell vorgegebenen Rahmen, so sind es dennoch nicht nur vorab definierte Rollen, durch welche die Dynamik in solchen Gesprächen mitten im Schulalltag bestimmt wird. Sondern es ist vielmehr ein besonderer, überschusssensibler Kommunikationsstil, der von Religionslehrkräften in den beschriebenen alltäglichen Schulsituationen – ebenso wie von Pfarrerinnen und Pfarrer in der homiletischen Situation – gefordert ist. Am Beispiel des Alltagsbezugs wird die besondere Verbindung zwischen Religionsunterricht und Seelsorge deutlich, die nicht nur auf institutioneller Ebene im Bereich der Schulseelsorge, sondern eben auch im Falle der Gesprächsführung in Religionsunterricht und Schulalltag hervortritt.
Literaturverzeichnis
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