Deutsche Bibelgesellschaft

Andere Schreibweise: Bioethics; Biomedizinische Ethik

(erstellt: Februar 2021)

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1. Begriffsbestimmung und Verortung

1.1. Bioethik, Biomedizinische Ethik und Medizinethik

Begriffsgeschichtlich finden sich im deutschsprachigen Raum erste Verwendungen von Bio-Ethik in den 1920er Jahren (Sturma/Heinrichs, 2015b, 1). Mit der Gründung des Hastings Center in New York 1969 und des Kennedy Institute of Ethics in Washington D.C. sowie dem Erscheinen der Beiträge Bioethics (1970; 1971) von Van Rensselaer Potter markieren die Jahre 1960 bis 1970 die sogenannte „formative Phase“ (Rehmann-Sutter, 2002, 247f.;252) in der Entwicklung der Bioethik (Sturma/Heinrichs, 2015b, 1; Knoepffler, 2007, 151). 1974 nimmt die Library of Congress unter Verweis auf Callahan (Callahan, 1973) das Schlagwort bioethics auf (Knoepffler, 2007, 151; Düwell/Steigleder, 2003, 21).

Allerdings bleibt die Verwendung des Begriffes uneinheitlich, zuweilen wird sie auf Biomedizin und/oder Biotechnologie bezogen; von biomedizinischer → Ethik ist ebenfalls die Rede, womit Überschneidungen zur → Medizinethik impliziert sind. In diesem Sinne stellt Bioethik „eine Erweiterung und Transformation der traditionellen medizinischen Ethik dar, indem sie das klassische Berufsethos des Arztes verbindet mit einer ethischen Bewertung der modernen Möglichkeiten biomedizinischer Forschung und der Biotechnik“ (Honecker, 2002, 85).

Weitere Überlappungen ergeben sich mit Wissenschafts-, Pflege-, Technik- und Umweltethik (Rehmann-Sutter, 2002, 247; Wiesing/Marckmann, 2002, 268). Insgesamt kann unterschieden werden zwischen einem „weiten Begriff von Bioethik […], der Medizin-, Tier- und Umweltethik umfasst, oder einem engen Begriff, der auf Medizinethik beschränkt ist und Umwelt- und Tierethik als davon unabhängige Bereichsethiken auffasst“ (Düwell, 2008, 19).

Die vorliegenden Ausführungen gelten dem weiten Begriffsverständnis von Bioethik als derjenigen „Teildisziplin der Angewandten Ethik [...], die sich in methodischer und reflektierter Weise mit den Sachverhalten befasst, die ‚den verantwortlichen Umgang des Menschen mit Leben‘ und seiner Umwelt betreffen“ (Knoepffler, 2007, 152; Korff/Beck/Mikat, 2000, 7; → Leben). Bioethik „analysiert und bewertet den wissenschaftlichen Umgang mit Leben. In ihren Teildisziplinen, insbesondere in der Medizinethik, Tierethik und Umweltethik, untersucht sie die Auswirkungen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen auf einzelne Personen, die Gesellschaft sowie auf andere Lebensformen und die Umwelt“ (Sturma/Heinrichs, 2015b, 1).

1.2. Charakteristika

Dass Bioethik ein derart komplexes Feld darstellt, liegt an den sie kennzeichnenden Charakteristika. So unterliegt Bioethik erstens rasanten Veränderungsprozessen, die sowohl die weltweiten biotechnologischen Entwicklungen als auch die damit verbundenen ethischen Relevanzzuschreibungen betreffen. Dabei sind diese Entwicklungen nur sehr bedingt prognostizierbar und infolgedessen mit hohen Unsicherheitswerten verbunden; es ist dessen ungeachtet jedoch notwendig, Forschungsziele zu definieren und diese auch bioethisch zu bewerten (Düwell, 2008, 1;5f.).

Angesichts eines damit verbundenen wachsenden Reflexionsbedarfs im Blick auf rechtliche wie ethische Standards ist Bioethik zweitens institutionalisiert. Neben der Entwicklung der Angewandten → Ethik als akademischer Disziplin wurden und werden national wie international Ethikkommissionen in Politik und Forschung ebenso wie im klinischen Alltag eingesetzt als „Orte, die einen moralisch verantwortbaren Umgang mit schwierigen Handlungssituationen ermöglichen sollen“ (Düwell, 2008, 3; Sturma/Heinrichs, 2015a, 459-467).

Bioethik ist drittens diskursiv insofern unterschiedlich lokalisiert, als sie sich im Schnittfeld von akademischer und öffentlicher Debatte bewegt, wobei deren Verhältnisbestimmung uneindeutig bleibt bzw. kritisch zu bewerten ist (Sturma/Heinrichs, 2015b, 1; Arnold, 2015; Düwell, 2008, 2-5; Krones, 2008, 10f.). Der gesellschaftliche Diskurs umfasst sowohl den Beitrag von Politik, Kirchen und Interessenverbänden als auch ethische Einzelfallentscheidungen auf der Basis wachsender plural und multi- bzw. areligiös fundierter Werte – Bioethik ist damit viertens sowohl interkulturell (Sturma/Heinrichs, 2015a, 467-471; Düwell, 2008, 154-159) als auch interreligiös (Voigt, 2010a; Voigt, 2010b, 10f.; Holznienkemper, 2005; Wick, 2004), wobei in der christlichen bzw. christlich-orthodoxen Theologie und den darin verorteten kirchlichen Stellungnahmen variierende Zugänge wie Positionen auszumachen sind (Eberl, 2017; Westphal, 2015; Knoepffler, 2014; Anselm, 2010; Voigt, 2010b; Sardaryan, 2008; epd, 2002; Honecker, 2002; Herms, 2002; Mandry, 2002).

Insbesondere für die Bioethik als akademische Disziplin gilt schließlich fünftens, dass sie interdisziplinär agiert (Sturma/Heinrichs, 2015a, 439f.); beteiligt sind neben Theologie und Philosophie die Disziplinen Biowissenschaften (Life Sciences) und Medizin ebenso wie Rechtswissenschaft, Soziologie bzw. Sozialwissenschaften, Politikwissenschaft und Religionswissenschaft. „Interdisziplinarität im Bereich der Bioethik bedeutet inzwischen die umfassende Beteiligung von Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften“ (Voigt, 2010b, 13), was auch die Verhältnisbestimmung von Ethik und Empirie (Krones, 2008) impliziert. Die Urteilsfindung erfolgt entsprechend als „gemischtes Urteil“, wobei „die Berechtigung dieser Urteile in unterschiedlichen Disziplinen und Diskursen geprüft wird“ (Düwell 2008, 9) und sich das Urteil in der Regel – und unter Berücksichtigung aller genannten Charakteristika – auf diese Kernaspekte bezieht: 1. Prüfung naturwissenschaftlicher und technischer Verfahrensoptionen, 2. Technikfolgenabschätzung inklusive sozialwissenschaftlicher und gesellschaftstheoretischer Interpretation, 3. Klärung juristischer Regelungsmöglichkeiten und -bedarfe, 4. medizinische Bewertung und 5. philosophisch- bzw. theologisch-ethische Bewertung (Düwell, 2008, 5-10).

1.3. Methoden

Bioethik will dabei „weder herausfinden, was der Fall ist, noch was der Fall sein wird, sondern vielmehr, wie wir handeln sollen. Insofern ist sie keine deskriptive, sondern eine präskriptive Disziplin“ (Düwell, 2008, 8; Hervorhebungen im Original). In methodischer Hinsicht gilt für die gesamte Bioethik das, was bereits für die → Medizinethik festgehalten ist; unterschieden und kritisch reflektiert werden drei Hauptströmungen: der tugendethische, der deontologische und der konsequentialistische Ansatz sowie ergänzend der utilitaristische Ansatz (Sturma/Heinrichs, 2015b, 2f.). Mittlerweile hat sich in vielerlei Hinsicht ein Methodenmix etabliert, der sich der unterschiedlichen Ansätze bedient. Als prominentes Beispiel vermögen in der Bioethik Beauchamp/Childress (2019) zu gelten, die mit Autonomie, Wohltun/Fürsorge, Nichtschaden und Gerechtigkeit die Orientierung an Prinzipien fokussieren; ihr Ansatz findet sich auch in der prinzipienorientierten Falldiskussion wieder (Haen/Krimmer, 2015; Marckmann, 2013). Darüber hinaus gibt es weitere bereits etablierte ethische Positionen wie beispielsweise Jonas’ Prinzip der Verantwortung (Sturma/Heinrichs, 2015b, 3; Jonas, 1979). Auch in methodischer Hinsicht erfolgt die Urteilsbildung also häufig als eine „gemischte“; und die „konkrete Arbeit in der Bioethik verhält sich gegenüber all diesen moralphilosophischen Unterschieden nicht neutral. Insofern kann man erwarten, dass die theoretischen Alternativen einigermaßen vorurteilsfrei zur Kenntnis genommen werden und das eigene Vorgehen unter Würdigung der Alternativen begründet wird“ (Düwell, 2008, 99).

1.4. Verhältnisbestimmungen

Neben der sich interdisziplinär stellenden Verhältnisbestimmung zwischen Ethik und Empirie im Sinne einer kontextsensitiven Bioethik (Krones, 2008, 341) betreffen weitere Zusammenhänge – auch und gerade vor dem Hintergrund „gemischter Urteile“ – das Verhältnis der Bioethik zur Moralphilosophie und zur normativen Ethik, insofern die normativen Geltungs- und Legitimierungsvoraussetzungen der erfolgenden Urteilsbildung selbstreflexiv offenzulegen sind (Düwell, 2008, 25-99;28).

Das Verhältnis zu Religion und Theologie (Anselm, 2010; Fuchs, 2010, 133-140) ist schließlich insbesondere dort zu bestimmen, wo es in bioethischen Diskursen „um das Verständnis der Grenzen des Lebens und menschlicher Einwirkungen darauf geht, also um Aspekte, die religiös konnotiert sind […] geraten auch die religiösen Aspekte mit in den Blick, sei es affirmativ oder kritisch, sowohl in normativer wie analytischer Absicht“ (Voigt, 2010b, 1). Nicht zuletzt in der Etablierungsphase der Bioethik hat die Theologie deshalb eine maßgebliche Rolle gespielt (Krones, 2008, 45-47; Düwell, 2008, 160). Zwischenzeitlich steht sie zum einen vor der „Frage, wie unter der unabdingbaren Voraussetzung von Interdisziplinarität in den bioethischen Diskursen zugleich disziplinäre Identität entwickelt und bewahrt werden“ (Voigt, 2010b, 6) bzw. wie ein spezifisch theologisches Profil aussehen kann (Zimmermann-Acklin, 2012). Sie steht zum zweiten vor der Aufgabe, „Grundelemente für ein Bild des Menschen zu umreißen, die ein Sinnerschließungspotenzial für das Handeln auch in den Grenzsituationen des Lebens bereitstellen und in diesem Sinne die Grundlage für eine als angewandte Anthropologie verstandene Ethik bilden können“ (Anselm, 2010, 78). Je zu prüfen ist dabei, wie sich die unterschiedlich gelagerten Diskursfelder wissenschaftlicher Theologie und kirchlicher Institution zueinander verhalten bzw. welchen Beitrag sie jeweils zu leisten vermögen (Düwell, 2008, 160-166).

2. Bioethische Konflikt- und Diskursfelder

2.1. Medizinethik

Insofern Bioethik einen „Beitrag zur Weiterentwicklung des Menschenbildes und des kulturellen Selbstverständnisses [leistet]“ (Sturma/Heinrichs, 2015b, 1), ist sie in besonderer Weise auch mit anthropologischen (→ Anthropologie) Fragen befasst (Düwell, 2008, 130-141). Die sich hier stellenden medizinethischen Wertekonflikte eröffnen sich zu Lebensbeginn (Reproduktionsmedizin) und Lebensende (Sterbehilfe), zu Fragen der Organgewinnung und Organtransplantation, der Stammzellforschung, Gendiagnostik und -therapie sowie zu Enhancement und generell zur Mittel- und Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen (Jütte, 2018; Sturma/Heinrichs, 2015b, 4f.; Düwell, 2008, 176-244; → Medizinethik).

Konfligierende Werte betreffen zum einen die Patientenautonomie und damit verbunden das Konzept des „informed consent“ (Jütte, 2018), zum zweiten Fragen der Verhältnismäßigkeit und (Verteilungs-)Gerechtigkeit, u.a. im Rahmen einer sich etablierenden Public Health Ethik (Inthorn/Kaelin/Apfelbacher, 2019) sowie zum dritten Fragen der Zuordnung (Schicktanz, 2015), Normierung und wachsenden Standardisierung und damit verbundener Responsibilisierungsprozesse und Verantwortungszuweisungen (Inthorn/Kaelin/Apfelbacher, 2019; → Medizinethik).

2.2. Tierethik

Dieser bioethischen Teildisziplin kommt seit einigen Jahren wachsende Bedeutung zu (Kunzmann, 2014, 60f.). Tierethische Wertekonflikte betreffen die generelle Verwendung von Tieren in der Forschung (Wolf, 2015; Düwell, 2008, 232f.) – speziell von Primaten angesichts ihrer biologischen Verwandtschaft zum Menschen sowie speziell von Nagetieren angesichts der fraglichen Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse auf den Menschen (Sturma/Heinrichs, 2015b, 5). Als ethisch kritisch gilt überdies die Entwicklung von Chimären und Hybriden (Düwell, 2015) sowie Bestrebungen, mittels synthetischer Biologie künstlich → Leben zu schaffen (Lanzerath, 2015). Neben dem wachsenden Bedürfnis nach einem verantwortlichen Umgang mit Nutztieren (Deutscher Ethikrat, 2020; Düwell, 2008, 234) geraten jüngst auch „Formen des Mensch-Tier-Verhältnisses“ in Zoos und im Zirkus sowie als Haus- bzw. Wildtiere in den Fokus ethischer Anfragen (Sturma/Heinrichs, 2015b, 5, → Tierethik).

Trotz der in der Forschung mit Tieren etablierten 3r-Prinzipien replace, reduce, refine (Replacement – Ziel: Tierversuche vollständig vermeiden; Reduction – Ziel: Zahl der Versuchstiere weitestmöglich beschränken; Refinement – Ziel: Leiden in Versuchen auf das unerlässliche Maß beschränken; Bundesinstitut für Risikobewertung, o.J.; Düwell, 2008, 234) bleiben konfligierende Werte im Blick auf die Leidensfähigkeit und Interessen von Tieren sowie auf ihren rechtlichen wie moralischen Status bestehen (Sturma/Heinrichs, 2015b, 5; Düwell, 2008, 228-232). Die zugehörige Debattenlage ist indes derart kontrovers, dass sie darin sogar die Vereinbarkeit von Tierschutz und → Tierethik zur Disposition stellt (Kunzmann, 2014, 60f.).

2.3. Umweltethik (Ökologische Ethik)

Die Umweltethik reflektiert das Verhältnis der menschlichen zur nicht-menschlichen Natur, wobei die jeweilige ethische Bewertung auf der Basis variierender umweltethischer Positionen erfolgt: „anthropozentrische Ansätze [gehen] davon aus, dass alle umweltethischen Forderungen sich an […] Interessen und Bedürfnissen des Menschen orientieren müssen, wogegen pathozentrische Ansätze alle leidensfähigen Wesen, biozentrische Ansätze alle lebenden Wesen und ökozentrische Ansätze auch Ökoysteme [sic!] moralisch berücksichtigen“ (Düwell, 2008, 236f.).

Der ökologischen Ethik (→ Ökologische Ethik) kommt ebenfalls wachsende Bedeutung zu – im Blick auf die Landwirtschaft und Fragen der Nutztier- bzw. Massentierhaltung auch in Überschneidung mit der → Tierethik. Vor dem Hintergrund begrenzter Rohstoffe einerseits und wachsender Klimaveränderungen andererseits zielt die ethische Auseinandersetzung insbesondere auf Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit. Die ökologischen Wertekonflikte betreffen wesentlich Ökologie und Naturschutz (Ott, 2015) sowie Belange der Biodiversität (Gutmann/Lanzerath, 2015) und des Klimaschutzes (Hubig, 2015).

Ein zweiter großer Bereich gilt Fragen der Nahrungsmittelproduktion in der Landwirtschaft, insbesondere mit Blick auf die Anwendung von Gen- und Biotechnologie (Tambornino, 2015; Düwell, 2008, 241-243). Verstärkt reflektiert werden mittlerweile auch eine ethisch angemessene Lebensmittelverarbeitung sowie das Konsumverhalten auf Verbraucherseite. Die sich massiv ausdifferenzierende Ernährungslandschaft findet ihre ethische Diskursabbildung im Bereich Food Ethics (Food Ethics, 2016f.).

Bereichsübergreifende konfligierende Werte betreffen den Wert der Natur sowie die Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen (Sturma/Heinrichs, 2015b, 5f.).

2.4. Forschungsethik und Querschnittsfragen

Als zu den genannten Teildisziplinen querliegendes Feld zählt die Forschungsethik. Sie befasst sich generell mit guter wissenschaftlicher Praxis einerseits und dem Verhältnis von Gesellschaft und Wissenschaft andererseits. Darüber hinaus reflektiert sie die ethischen Probleme der biomedizinischen sowie der sozialwissenschaftlichen Forschung, beispielsweise hinsichtlich der Arbeit mit biologischem Material bzw. der Forschung an Mensch und Tier (Sturma/Heinrichs, 2015b, 6).

Über die Teildisziplinen hinweg stellen sich zudem Querschnittsfragen; sie beziehen sich auf die Auseinandersetzung um den moralischen Status, auf die Diskussionen um Natur und → Leben bzw. um Mensch und Kultur (inklusive Theologie/Religion) sowie auf neue Technologien und die Reichweite der Verantwortung (Düwell, 2008, 100-175).

3. Bioethik-Didaktik

3.1. Thematische Schwerpunkte

Im Kontext ethischen Lernens bildet Bioethik die vorrangig bearbeitete Bereichsethik in der Religionsdidaktik (Fuchs, 2015a, 220); der Großteil der Veröffentlichungen bezieht sich dabei auf medizinethische Fragestellungen (u.a. Loccumer Pelikan, 2020; Husmann/Zimmermann, 2014; Schaede, 2014). Tier- und Umweltethik spielen hingegen eine deutlich untergeordnete Rolle, wobei – im Unterschied zu den 1980er Jahren – insbesondere dem umweltethischen Aspekt einer Bewahrung der Schöpfung in den frühen 2000er Jahren keine Bedeutung beigemessen wird (Fuchs 2015a, 226f.).

Ungeachtet der je bearbeiteten Einzelthemen ergibt sich didaktisches Reflexionspotenzial in dreifacher Hinsicht: zum einen im Blick auf die Rolle der schulischen Bioethik zwischen Fachspezifik und Fächerverbund, zum zweiten im Blick auf das Einbringen und die Rolle von Wissen, Normen und Werten in den Urteilsbildungsprozess und damit einhergehende Lebensdeutungen (→ Leben) sowie – damit verbunden – zum dritten im Blick auf Fragen der Subjektivität, die auch anthropologische Komponenten beinhalten (Manz/Schmid, 2009). Aus diesem Reflexionshorizont leiten sich wiederum Lernziele und -modelle sowie empirische Erkenntnisinteressen ab.

3.2. Lernziele und -modelle

Bioethik-Didaktik zielt – nicht zuletzt auch hinsichtlich einer hohen lebensweltlichen Verankerung gerade der medizinethischen (→ Medizinethik) Debatten – in spezifischer Weise auf die ethische Urteilsbildung von Schülerinnen und Schülern (→ Schülerinnen und Schüler) im Sinne der Trias „Bewerten – Urteilen – Entscheiden“ (Fuchs, 2010, 196). Damit einher gehen notwendigerweise sowohl die Schulung von Wahrnehmungs- und Deutungskompetenz (Ulrich-Riedhammer, 2017) als auch das Einüben von Argumentations- und Dialogkompetenz (Haen/Krimmer, 2015; Kubitza, 2010). Die dazu beschrittenen Lehr-Lern-Wege gelten deshalb wesentlich der Arbeit mit Dilemmageschichten (Schmid, 2015; Fuchs, 2010, 204-226; Kuld/Schmid, 2001) oder mit Fallgeschichten bzw. Fallstudien (Fuchs, 2020; Schmid, 2009; Horlacher/Luther-Kirner, 2007). Für den konkreten Einsatz im Unterricht ist dabei insofern bedeutsam, ob es sich um konstruierte oder reale Dilemmata bzw. Fallbeispiele handelt, als Realfälle am Ende einer Lerneinheit aufgelöst werden können (Fuchs, 2020; Fuchs, 2010, 218-220). Zumindest in Teilen lässt sich so die Hypothetizität der unterrichtlichen Urteilsbildung bei ausbleibender tatsächlicher Handlung einholen (Fuchs, 2010, 277f.; 281; 366-368).

Zwar unterscheidet sich die unter didaktischer Prämisse erfolgende Urteilsfindung in ihrer Abfolge von der „gemischter Urteile“, nimmt jedoch Bezug auf deren Kernaspekte (siehe 1.2.). Entsprechend steht zunächst die Konzeption und Entwicklung von Modellen (bio-)ethischer Urteilsbildung (u.a. Bögeholz/Hößle/Langlet/Sander/Schlüter, 2004; Bender, 1995) im Zentrum der Forschung. Die vergleichende Analyse von Urteilsbildungsmodellen unterschiedlicher Fachdidaktiken (Pfeifer, 2003; Bayrhuber/Lucius, 1997, 83f.; Tödt, 1977/1988) sowie der → Medizinethik (Haen/Krimmer, 2015, 156f.; Marckmann, 2013; Baumann-Hölzle, 1999) ergibt ein in Ablauf und Bausteinen weitgehend übereinstimmendes didaktisches Modell in fünf Schritten: 1. Sachanalyse (Situation, Problem, Kontext), 2. Handlungsmaßstäbe (Normen, Werte), 3. Abwägung (Güter, Lösungs-/Verhaltensalternativen), 4. Urteilsfindung sowie 5. Reflexion und Rücküberprüfung des Urteils (Fuchs, 2010, 196-201).

3.3. Empirische Zugänge

Weil sich wiederum die konkrete Praxis ethischer Urteilsbildung im subjektiven Lernprozess zwischen Wissenserwerb und Einstellungsveränderung vollzieht (Fuchs, 2010, 274-276) – wobei mögliche Quellen, Umfang und Qualität eines diesbezüglichen Wissens sowie damit verbundener Sinnhorizonte aufseiten der Lernenden im Vorfeld kaum bis gar nicht prognostizierbar sind (Fuchs, 2015a, 159) – ist für die fachdidaktische empirische Forschung zur Bioethik im Weiteren von Interesse, inwiefern Einstellung, Sachwissen und Kriterien vorliegen und wie sich diese verändern bzw. beeinflussen lassen, um darüber die ethische Reflexions- und Bewertungskompetenz fördern zu können.

Vorliegende Ergebnisse zur bioethischen Urteilsbildung im Religionsunterricht lassen sich systematisieren hinsichtlich bereichsbezogener (Kategoriensystem), gruppenspezifischer (Geschlecht, Konfession, Lerngruppe) sowie prozessbezogener (Argumentationsmuster, Ebenen von Lernprozessen, Lehrergesprächsverhalten) Befunde (Fuchs, 2010). Studien anderer Fachdidaktiken geben Auskunft zur Wirkung und didaktischen Reflexion von Schüleremotionen (Weidenbach, 2005) sowie von Alltagsfantasien (Born, 2007) und zur ethischen Urteilsbildung angesichts von Globalisierung (Ulrich-Riedhammer, 2017).

Spezifisch biologiedidaktische Untersuchungen gelten der Strukturierung, den Niveaus und der Ausdifferenzierung von Bewertungskompetenz (Reitschert, 2009; Mittelsten Scheid, 2008) sowie Schülervorstellungen von Gesundheit und Krankheit (Schwanewedel, 2011). Darin enthaltene Befunde zu religiös bzw. theologisch relevanten Sinnhorizonten verweisen auf die Schwierigkeit der Lernenden hinsichtlich einer Anerkennung und Integration solcher Werte (Fuchs, 2015b, 161-164).

Insgesamt ergibt die bislang empirisch belegte Beschreibung des Zusammenspiels von Einstellung, Sachwissen und Kriterien im bioethischen Urteilsbildungsprozess sechs relevante Bereiche, die weiterführende Forschungsbedarfe implizieren (Fuchs, 2015b, 171f.):

1. Einflussfaktor Emotion & Alltagsfantasie

Emotionen und Alltagsvorstellungen sind als den Lernprozess begleitende Einflussfaktoren nachweisbar wirksam.

2. Basiskonzepte der Lernenden

Sie bilden die Grundlage der Argumentationsmodi und -inhalte von Schülerinnen und Schülern (→ Schülerinnen und Schüler).

3. Differente Bewertungsebenen und -ausprägungen

Die von den Schülerinnen und Schülern eingezogenen Bewertungskriterien liegen auf unterschiedlichen Ebenen, schließen sich in der Vorstellung des/der Einzelnen aber gerade nicht aus, sondern existieren gleichzeitig. Innerhalb von Lerngruppen werden diese Kriterien in zum Teil höchst gegenteiliger Ausprägung vertreten.

4. Fachliche vs. individuelle Sprachfähigkeit/implizite & explizite religiöse Orientierung

Die sachgerechte Verwendung von Fachvokabular ebenso wie die Integration ethischer Theorien ist als defizitär zu konstatieren; zugleich sind Lernende dahingehend sprachfähig, eigene Basiskonzepte formulieren zu können, wobei offen ist, inwiefern sich dahinter auch implizite und explizite religiöse Orientierungen verbergen.

5. Relevant-wirksame Kommunikationsstrukturen

Die innerhalb beschrittener Lehr-Lern-Wege genutzten, unterschiedlichen Kommunikationsstrukturen haben Auswirkungen bzw. sind abbildbar.

6. Frage- und Gesprächsverhalten der Lehrkräfte

Die unterrichtliche Gesprächsführung einer Lehrkraft hat Einfluss auf den Lernerfolg (Fortschritt bzw. Stagnation/Rückschritt).

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