Deutsche Bibelgesellschaft

Feministische Theologie

(erstellt: Februar 2017)

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1. Problemanzeigen und Klärungen

1.1. Überholte Kategorie?

Gender en vogue – Feminismus out, Gender = Gegenwart – Feminismus = Vergangenheit: Dieser Eindruck kann entstehen angesichts der Fülle einschlägiger Publikationen zum theologischen Genderdiskurs, zu Gender in der Religionspädagogik und → Gender als Kategorie empirischer religionspädagogischer Forschung, während es um die Feministische Theologie eher ruhig geworden ist. Weitere Dichotomien scheinen naheliegend: Das Genderparadigma nimmt alle in den Blick, die Feministische Theologie (nur) Frauen; Gender fokussiert auf das Geschlechterverhältnis, Feministische Theologie auf Frauenthemen; mit Gender verbinden sich Diversität und Intersektionalität, Feministische Theologie hat diese nur ansatzweise reflektiert. Vor allem: Gender hat Dekonstruktionstheorien hervorgebracht, die Feministische Theologie hat sich dagegen an Weiblichkeitskonzeptionen abgearbeitet; Gender weiß um die Vielzahl und Vielfalt geschlechtlicher Identitäten, die Feministische Theologie blieb der Zweigeschlechtlichkeit verhaftet. Die Dekonstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und die Auflösung der Geschlechterrollen scheint die Feministische Theologie darum grundlegend infrage zu stellen. Nicht zuletzt: Gender ist eine anerkannte wissenschaftliche Analysekategorie, Feministische Theologie hat, wie alle „ismus-Bewegungen“, nach wie vor etwas von einem Kampfbegriff an sich.

1.2. Nach wie vor bleibende Relevanz

In der Tat wurde die Feministische Theologie auf die Perspektive Gender hin geöffnet und weiterentwickelt; diese wäre ohne sie kaum möglich gewesen. Andererseits erschöpft sich die Bedeutung der Feministischen Theologie keineswegs nur in der Rolle der Vorläuferin und Wegbereiterin; umgekehrt haben Gender-Theorien und Theologien die feministische Theologie keineswegs abgelöst oder verdrängt. Auch wenn die feministische Theologie nicht mehr die gleiche Breitenwirkung erzielt wie zu ihren Hoch-Zeiten und die Diskussion um sie deutlich unaufgeregter geworden ist, ist sie nicht nur ein historisch wichtiges Kapitel auf dem Weg zum Genderparadigma, sondern hat bleibende Relevanz. Denn feministische Ansätze stellen → Frauen und Mädchen ins Zentrum – gegen ihre Unsichtbarmachung, Unterdrückung und Diskriminierung, dort, wo es nötig ist, ihrer Stimme Gehör zu verleihen bzw. sie überhaupt erst zum Sprechen zu bringen, ihnen Würde zu verleihen, sie ernst zu nehmen. Dies stellt auch nach über vierzig Jahren der Ursprünge Feministischer Theologie eine Herausforderung und Notwendigkeit dar, die keineswegs vollständig eingelöst und erledigt und darum auch nicht geschichtlich überholt ist. Mit gutem Grund sind die Lehrstühle für Altes Testament und Theologische Frauenforschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster und für Feministische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Hochschule Neuendettelsau nicht zu Gender-Lehrstühlen umgewidmet worden, existieren feministisch-theologische Zeitschriften und Kommentarreihen.

2. Geschichtliche Hintergründe und Entwicklungen

2.1. Säkulare Frauenrechts- und Frauenbefreiungsbewegung

Feministische Theologie verdankt sich der säkularen Frauenbewegung. Ihre erste Welle am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war eine Frauenrechtsbewegung im Kampf um gleiches Recht auf politische Teilhabe, vor allem Wahlrecht und den Zugang zu politischen Ämtern, im Kampf um das Recht auf Bildung, besonders Mädchenbildung, im Kampf um freie Berufswahl und um den Zugang zu Berufstätigkeit. 1896 wurden erstmals Frauen als Gasthörerinnen an Universitäten zugelassen, regulär studieren durften sie erstmals in Preußen ab 1900, in anderen Ländern erheblich später; 1918 wurde das Frauenwahlrecht eingeführt, 1949 im Grundgesetz die Gleichberechtigung von Frauen und → Männern festgeschrieben, 1954 das Beschäftigungsverbot für verheiratete Frauen im öffentlichen Dienst abgeschafft, 1957 das Letztentscheidungsrecht durch den Ehemann, 1958 schließlich der sog. „Lehrerinnenzölibat“, der Lehrerinnen zur Ehelosigkeit und bei Heirat zur Aufgabe ihres Berufs verpflichtete. Erst in den späten 1950er-Jahren wurde in den Schulen die Koedukation eingeführt.

Die zweite Welle der Frauenbewegung in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts verstand sich als Frauenbefreiungsbewegung. Denn obwohl rechtlich zumindest auf dem Papier weitgehend gleichgestellt, erlebten sich Frauen nach wie vor als diskriminiert und unfrei: durch ungleiche Bildungschancen – zu der Zeit besuchten noch mehr Jungen als Mädchen die Gymnasien, studierten deutlich mehr Männer als Frauen; durch schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt; in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit sahen sie sich dem Vorwurf der „Doppelverdiener“ ausgesetzt oder wurden gar nicht eingestellt, auch wegen möglicher Ausfälle durch Schwangerschaft; durch niedrigere Löhne für die gleiche Arbeit; nicht zuletzt durch die Doppel- oder Mehrfachbelastung von Familie, Beruf und Pflege von Angehörigen. Frauengerechte Sprache rückte in den Fokus der Aufmerksamkeit, Frauenbeauftragte wurden gewählt, Frauenförderpläne geschrieben, Frauenförderprogramme etabliert.

2.2. Aufbruch von Frauen in den Kirchen

Die zunächst rein säkulare Frauenbewegung wirkte hinein in den Raum der Kirchen und sensibilisierte Frauen beider Konfessionen für ihre Situation in Bezug auf Religion, Glaube und Kirche. Sie charakterisierten sie vielfach als „Unterdrückung“ und „Diskriminierung“, als „Nicht-zu-Wort-Kommen“ und „Nicht-gehört-Werden“, als Marginalisierung und Verdrängung. Frauen erlebten sich und ihre Lebenswirklichkeit als unzureichend repräsentiert in kirchlichen Institutionen, in besonderer Weise durch den Ausschluss von den Weiheämtern und damit von der Teilhabe an Entscheidungsvollmacht, als zu wenig berücksichtigt in Liturgie und Predigt, in kirchlichen Verlautbarungen und Moralvorschriften, in religiösen Themen und Texten, im Religionsunterricht und im theologischen Wissenschaftsbetrieb. Der christliche Glaube geriet unter das Verdikt, patriarchal (= an den Vätern orientiert) und androzentrisch (= männerzentriert) zu sein.

Eine radikale Alternative, eher von einer Minderheit bevorzugt, war ein dezidiert postchristlicher Feminismus, der sich vom Christentum verabschiedete. Die weniger radikale Reaktion war der bewusste Verbleib innerhalb der christlichen Tradition, verbunden mit dem Ziel einer vom Feminismus getragenen Erneuerung. Die betreffenden Frauen begannen nach verschiedenen Möglichkeiten zu suchen, aus Frauenperspektive und auf der Grundlage von Frauenerfahrungen ihrem Glauben Ausdruck zu verleihen: Sie entwickelten eigene Frauenliturgien, schrieben Frauengebete und -lieder, kreierten Rituale als Hilfe zur Bewältigung spezifisch weiblicher Lebenssituationen und auch Lebenskrisen. Sie legten Wert auf eine Sprache, die Frauen sichtbar macht und nicht einfach als „Brüder“ mitmeint. Sie forderten Mitsprache- und Mitgestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Kirche ein und nahmen gezielt die Möglichkeiten wahr, die sich ihnen boten.

3. Zum Selbstverständnis Feministischer Theologie

3.1. Anliegen und Ziele

Die theologisch-akademische Antwort auf die skizzierten Entwicklungen war die Feministische Theologie. Ausgehend von den Vereinigten Staaten gegen Ende der Siebziger- und vor allem in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts suchte sie, die Anliegen des säkularen Feminismus in die → Theologie und in die einzelnen theologischen Disziplinen zu integrieren (Kassel, 1988; Strahm, 1990; Scherzberg, 1995; Meyer-Wilmes, 1996). Ihr Ausgangspunkt war die Unterdrückung oder Marginalisierung von Frauen, ihr Anliegen eine Theologie aus der Perspektive von Frauen für Frauen, ihr Ziel Frauenbefreiung. Das Wörterbuch der Feministischen Theologie von 1991, das den Diskussionsstand der 1980er-Jahre widerspiegelt, umschreibt diese Art von Theologie folgendermaßen: „Feministische Theologie ist eine Theologie von feministisch orientierten Frauen, die das Patriarchat in Gesellschaft, Kirche und Zusammenleben erkennen, benennen, kritisieren und überwinden wollen. In der Feministischen Theologie stehen Frauen im Zentrum des Interesses; sowohl Glaubens- und Lebenserfahrungen von Unterdrückung, Verschwiegenwerden und Marginalisierung als auch von Befreiung und gelungener Menschwerdung kommen in ihr theologisch zur Geltung. Feministische Theologie ist eine kontextuelle Theologie, die mit der Historizität von Lebenssituationen und der Begrenztheit von theologischen Aussagen rechnet. Sie ist keine Theologie der Frau, die ein abstraktes Wesen oder ein Wissen über etwas spezifisch Weibliches voraussetzt, sondern bei der Brüchigkeit weiblicher Identität ansetzt und starre Rollenzuschreibungen verwirft. Sie ist Kritik und Neuentwurf. Sie versteht sich nicht als Ergänzung traditioneller Theologie, sondern als Neukonzeption von Theologie überhaupt“ (Halkes, 2002, 102).

3.2. Merkmale

Wesentliche Merkmale Feministischer Theologie sind in dieser Definition benannt: Als Theologie von und für Frauen tritt sie als dezidiert interessensgeleitete Theologie auf, wobei sie geltend macht, dass jede Art von Theologie absichts- und interessensgeleitet ist, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst ist und sich selbst darüber keine Rechenschaft ablegt. Sie ist damit zugleich parteiische Theologie, die eintritt für Frauen und Mädchen. Sie ist erfahrungsorientierte Theologie, die sich ausdrücklich auf deren Erfahrungen bezieht. Sie versteht sich als kontextuelle Theologie, analog zu anderen kontextuellen Theologien wie der black theology, die weiß, dass es die Frau nicht gibt, sondern Frauen in unterschiedlichsten Lebenssituationen und kulturellen, religiösen, sozialen und ökonomischen Zusammenhängen sowie mit unterschiedlichsten Interessen. Sie teilt etliche Gemeinsamkeiten mit der Befreiungstheologie, insofern sie zur Befreiung von Frauen und Mädchen beitragen möchte. Sie ist keine Theologie der Frau, sondern eine Theologie von Frauen, betrieben für Frauen und Mädchen, die nicht ohne Auswirkungen auf die von Männern betriebene Theologie bleibt.

Aufgrund dieser Merkmale gibt es nicht die eine Feministische Theologie, sondern je nach Kontext, Erfahrungshorizont und Kultur einen Plural von Feministischen Theologien. Der Singular ist jedoch insofern gerechtfertigt, als diese in ihrer unterschiedlichen Ausrichtung als gemeinsames Ziel verfolgen, Frauen und Mädchen in den Mittelpunkt zu stellen.

Nicht zuletzt versteht sie sich als Kritik und Neuentwurf. Ihr Ziel war nicht die Etablierung einer eigenen Teildisziplin neben den anderen theologischen Fächern, wenngleich dies in den Anfängen oftmals der einzige Weg war, an den Hochschulen überhaupt Fuß zu fassen. Ihr Ziel war vielmehr die Etablierung eines neuen theologischen Paradigmas, das auf alle theologischen Disziplinen anwendbar ist und eine Neuausrichtung der gesamten Theologie zur Folge haben sollte.

3.3. Gegenwärtige Standortbestimmung

Im 21. Jahrhundert präsentiert sich die Feministische Theologie als „Inter-Diskurs“, weil sie „interdisziplinär, interkonfessionell, international, interkulturell und interreligiös“ (Meyer-Wilmes, 2002, 150) ausgerichtet ist. Sie ist interdisziplinär, weil sie den Anschluss an verschiedene Wissenschaftsdisziplinen sucht. Sie ist noch stärker interkonfessionell ausgerichtet als in ihren Anfängen. Sie ist international und interkulturell ausgerichtet, insofern zu den (nach wie vor dominierenden) Stimmen aus Nordwesteuropa und Nordamerika vermehrt Stimmen von Frauen aus Süd- und Osteuropa und der gesamten südlichen Hemisphäre getreten sind. Sie wird schließlich nicht mehr nur von Christinnen betrieben, sondern es existieren mittlerweile auch (erste) Ansätze jüdisch-feministischer Revisionen der eigenen Tradition und Aufbrüche islamischer Theologinnen.

Feminismus und feministische Theologie ist keine auf Frauen beschränkte Angelegenheit, sondern zwingt Männer zur Auseinandersetzung mit ihrem Selbstverständnis und Selbstbild, mit ihrem Glauben und ihrer Spiritualität, mit ihren Rollen im privaten und beruflichen Leben, in Gesellschaft und Kirche. Aus diesem Grund blieben und bleiben Männer davon nicht unberührt. Im wissenschaftlichen Diskurs erstreckt sich das Spektrum von dezidierter Ablehnung über die Ignorierung und Nichtrezeption Feministischer Theologie bis hin zum sich ernsthaft-kritischen Abarbeiten an feministischen Ansätzen und ihrer inhaltlichen und methodischen Befürwortung. So wie die Frauenbewegung mit Verzögerung eine Männerbewegung zur Folge hatte, wenn auch nicht in vergleichbarer Weise ausgeprägt, trat ergänzend zur Frauen- die Männerforschung. Allerdings erzielt sie längst nicht dieselbe Breitenwirkung wie die der Frauen; und kann den Nimbus des Exotischen nicht ganz ablegen.

3.4. Unterschiedliche Feminismuskonzepte

3.4.1. Gleichheitsfeminismus

Innerhalb der Feministischen Theologie (und feministischer Bewegungen in Gesellschaft, Theologie und Kirche) begegnen uns zwei unterschiedliche Richtungen, um die von ihr anvisierten Ziele zu erreichen. Sie werden als Gleichheitsfeminismus und Differenzfeminismus umschrieben.

Das Leitwort des Gleichheitsfeminismus könnte lauten: „Wir sind gleich gut, intelligent, fähig etc. wie Männer!“ Zwischen Mann und Frau bestehe nichts als der viel zitierte „kleine Unterschied“, eben als kleiner Unterschied von rein sexueller Bedeutung ohne weitere Relevanz. Feminismus realisiert sich demnach als möglichst weitgehende Angleichung an männliche Vorgaben, männliche Normen, männliche Rahmenbedingungen, männliche Vorbilder, männlichen Lebensstil, männliche Berufskarrieren, bis in die Mode hinein. Dieses Ziel hat seine Berechtigung und birgt zugleich Gefahren. Frauen, die diesen Lebensentwurf wählen, gleich ob eher unbewusst oder gezielt, womöglich einer potenziellen Karriere in Wirtschaft oder Management geschuldet, wollen hinter den Männern nicht zurückstehen. Aber gleichzeitig machen sie das Männliche zum Maß aller Dinge und tun damit genau das, wovon sich der Feminismus ursprünglich distanziert und was er zu bekämpfen sucht. Innerhalb von Theologie und Kirche begegnet die Argumentation mit dem Konzept des Gleichheitsfeminismus vor allem als Forderung nach gleicher Teilhabe an der Macht, speziell in der katholischen Kirche als Forderung nach Zugang zu den Weiheämtern.

3.4.2. Differenzfeminismus

Der Gleichheitsfeminismus evozierte eine gegenläufige Bewegung, die sich als Differenzfeminismus umschreiben lässt und die agiert nach dem Motto „Wir sind (mindestens) gleichwertig, aber anders“. Dabei gibt es nicht den einen Differenzfeminismus, sondern unterschiedliche Ausprägungen, die durch unterschiedliche Interpretationen der Geschlechterdifferenz begründet sind.

Befürworterinnen des sog. Polaritätsmodells halten klar die Differenz zwischen Männern und Frauen aufrecht, wehren sich jedoch gegen die Hierarchisierung dieser Differenz und die damit verbundene Abwertung des Weiblichen. Stattdessen verstehen sie das Männliche und das Weibliche als zwei verschiedene, aber gleichberechtigte und einander ergänzende Pole. Ihr Ziel ist es, dass Frauen als Frauen – und gerade nicht in der Angleichung an Männer – jenseits von männlichen Zuschreibungen ihre eigene Identität entwickeln können. Diese Ausprägung des Differenzfeminismus war und ist Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion, aber vermutlich noch mehr Gegenstand gelebter Praxis. Frauen, die sich diese Überzeugung zu eigen gemacht haben, betonen ihre weibliche Wesensart und ihre besonderen weiblichen Qualitäten. Sie wollen sich gerade nicht dem Verdikt des Männlichen unterwerfen, sondern ihr „Eigenes“ entwickeln. Vielfach ist diese Profilierung des Weiblichen mit einer positiven Konnotation verbunden, ohne freilich die Frauen generell für das bessere oder gar höherwertige Geschlecht zu erklären. Aber: Weiblicher Führungsstil in Kirche und Schule erscheint als etwas Qualitätsvolles und zu Kultivierendes; Frauen gelten als sensibler als die meisten Männer, als besonders gute Zuhörerinnen usw. Dieser Ansatz hat seine Berechtigung und birgt zugleich Gefahren: Wirkt das Insistieren auf der Unterschiedlichkeit identitätsstiftend, läuft es zugleich Gefahr, doch wieder in alte Stereotypen und Rollenmuster zu verfallen.

Einen anderen Ansatz verfolgen die differenzfeministischen Konzepte, vorgelegt in Frankreich von der Psychoanalytikerin und Kulturwissenschaftlerin Luce Irigaray (1996) und vor allem in Italien von der an der Universität Verona angesiedelten Philosophinnengruppe Diotima. So wie diese eine Schau der ganzen Wirklichkeit anstrebt, vertreten auch die Philosophinnen ein ganzheitliches Konzept. Sie verstehen die Differenz zwischen Frau und Mann als Grunddifferenz im Menschsein, jedoch nicht essentialistisch als Wesensbestimmung. Aus diesem Grund lehnen sie eine Definition weiblichen Wesens strikt ab. Weiblichkeit stellt sich für sie als Leerstelle dar, die nur individuell ausgefüllt werden kann und nicht mit den traditionellen Vorstellungen von Weiblichkeit inhaltlich gefüllt werden darf. Dieser Ansatz ist einerseits theologisch insofern anschlussfähig, als er auf die Individualität der jeweiligen Person abzielt; andererseits vermochte er die Frage nach der Geschlechterdifferenz nicht befriedigend zu lösen.

3.4.3. Postchristlicher gynozentrischer Feminismus

Eine Randerscheinung innerhalb der Theologie und eher einem postchristlichen Feminismus zuzurechnen ist ein gynozentrischer Feminismus, der von der Höherwertigkeit des weiblichen Geschlechts überzeugt ist. Seine Vertreterinnen, teils Matriarchatsforscherinnen, teils feministische Theologinnen (Mulack, 1998; Göttner-Abendroth, 2011) berufen sich auf Göttinnenkulte und die Verehrung weiblicher Gottheiten in der Früh- und Religionsgeschichte und die Ergebnisse der Matriarchatsforschung. Inwieweit diese durch die Altertumswissenschaften nachgewiesen werden können, ist allerdings in höchstem Maße umstritten. Kritisch anzufragen ist der gynozentrische Feminismus insofern auch, als er das von ihm so heftig monierte androzentrische Konzept einfach umkehrt und damit das selbst vollzieht, was er an den Männern bemängelt.

4. Arbeitsfelder Feministischer Theologie

4.1. Themen und Inhalte

Insofern Feministische Theologie sich nicht als Teil der Theologie, sondern als Neukonzeption von Theologie versteht, bezieht sie sich auf alle theologischen Disziplinen.

Die Feministische Exegese unterzieht die Schriften des AT und NT einer kritischen Relecture, ausgehend von einer Hermeneutik des Verdachts, die von der Vermutung ausgeht, dass die Texte oder einzelne Teile oder Argumentationsmuster patriarchal gefärbt sind. Sie untersucht die Wirkungsgeschichte biblischer Texte und deckt androzentrische Auslegungstraditionen auf. Nicht zuletzt gilt ihr Interesse den bekannten und unbekannten biblischen Frauengestalten. In ähnlicher Weise sucht die Feministische Kirchengeschichte nach Frauengeschichte und Frauengeschichten und macht wenig bekannte Frauen sichtbar.

Innerhalb von → Dogmatik und Fundamentaltheologie befasst sich die Feministische Theologie in der Gotteslehre (→ Gott) mit patriarchalen Gottesbildern, entwickelt ökofeministische Ansätze in der Schöpfungslehre, arbeitet in der → Anthropologie an einem feministischen Sündenkonzept und innerhalb der Christologie (→ Christus) vor allem an einer feministischen Revision von Kreuzes-, Sühne- und Opfertheologie. In der Ekklesiologie steht in beiden → Konfessionen die Frage nach Frauen in kirchlichen Leitungsfunktionen auf der Agenda, auf katholischer Seite verschärft durch die Unmöglichkeit der Teilhabe an den Weiheämtern. In der → Ethik befasst sich die Feministische Theologie mit der Frage nach weiblicher Moral, nach einer Wirtschaftsordnung, die Frauen → Gerechtigkeit widerfahren lässt, sowie mit Themen, die um → Leiblichkeit, Körperlichkeit und → Sexualität kreisen.

Im Bereich der Praktischen Theologie hat die Feministische Theologie am stärksten eine Außenwirkung entfaltet: durch das Bemühen um frauengemäße Seelsorgekonzepte in der Pastoral, durch die Entwicklung eigener Frauenliturgien, durch Gebete und Lieder von und für Frauen, durch Frauenpredigten.

Erkenntnisse und Methoden der Feministischen Theologie sind auf diese Weise – trotz teilweiser Nichtbeachtung und sogar gezielter Negierung – in die verschiedenen Disziplinen in unterschiedlichem Maße eingeflossen und dort Allgemeingut geworden. Allgemeingut insofern, weil heute vielfach nicht mehr bewusst ist, dass sich bestimmte Erkenntnisse innerhalb der Theologie der Feministischen Theologie verdanken, Allgemeingut auch insofern als männliche Theologen sie selbstverständlich rezipiert haben. Exegese lässt sich heute nicht mehr betreiben ohne feministische → Bibelhermeneutik, Kirchengeschichte nicht ohne Aufmerksamkeit für die Frauen in den verschiedenen Epochen, Systematische Theologie nicht ohne frauenkritische Anfragen, Praktische Theologie nicht ohne Frauenperspektive (Moltmann-Wendel, 2008; Matthiae/Jost/Janssen, 2008).

4.2. Feministische Religionspädagogik

Feministische → Religionspädagogik bezieht feministisches Erkenntnisinteresse auf die Situation von Mädchen sowohl im Kontext von Schule wie von außerschulischer Jugendarbeit und Katechese. Es ist ihr besonderes Verdienst, die Aufmerksamkeit dafür geweckt zu haben, dass Bildung sich nicht geschlechtsneutral vollzieht und dass eine vermeintliche Geschlechtsneutralität zur Folge hat, dass Jungen als das „Normale“ angesehen werden, sodass das Männlichkeitsparadigma dominiert. Sie erforscht die Lebens- und Glaubenswelten sowie die geschlechtsspezifische → Sozialisation von Mädchen und deckt die Androzentrik auf, die viele Bildungsprozesse bestimmt. Sie macht Mädchen und Frauen sichtbar und fordert dazu auf, ihre spezifischen Erfahrungen und Bedürfnisse in religiöse Lernprozesse einzubeziehen. Sie analysiert → Schulbücher und Unterrichtsmaterialien, und zwar nicht nur auf die Frage hin, ob Frauen und Mädchen dort überhaupt vorkommen, sondern auch, in welchen Rollen und Situationen, ob mit Gestaltungsmöglichkeiten oder als passive Opfer, ob als Zuschauerinnen oder als aktiv Handelnde. Sie deckt die Bilder von Mädchen und Frauen in Materialien zu Katechese und Erwachsenenbildung auf und fragt nach den jeweiligen Konstellationen des Geschlechterverhältnisses. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Aufhebung der Benachteiligung von Mädchen und Frauen in → religiösen Bildungsprozessen.

5. Gender und Feministische Theologie: Unterschiedliche Akzentuierungen – und offene Fragen

5.1. Unterschiedliche Perspektiven

Weder schließen Feministische Theologie und Gender-Theologie einander aus oder stehen in Konkurrenz zueinander, noch machen Gender-Ansätze feministische Zugänge überflüssig. Wohl aber nehmen beide unterschiedliche Perspektiven ein, wie das folgende Beispiel aus der Feministischen Exegese (Wacker, 2016, 23) vor Augen führt:

„Wenn beispielsweise Jeremia daran erinnert, dass sein Vater hocherfreut war, als er die Nachricht erhielt, ein Knabe, ein Sohn sei ihm geboren (vgl. Jer 20,15), dann hätte die klassisch-feministische Auslegung dieses Verses das Unsichtbar-Machen der Mutter des Kindes beklagt. Sie hätte darin die Bestätigung gefunden, dass der Bibel mit einer Hermeneutik des Verdachts begegnet werden muss (ein Begriff, den Elisabeth Schüssler-Fiorenza in den feministisch-theologischen Diskurs eingebracht hat) und Frauen nur durch die feministische Kritik hindurch zur ‚guten Nachricht‘ der Bibel vorstoßen können.

Eine → gegenderte Analyse würde demgegenüber darauf abheben, dass die Freude des Vaters dem entspricht, was in einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung zu erwarten ist, dass diese Freude die vorhandenen gesellschaftlichen Muster aber auch wiederum bestätigt und stabilisiert. Der gegenderte Blick auf den Vers könnte sodann bei der doppelte Benennung des neugeborenen Kindes als ‚Knabe‘ und als ‚Sohn‘ ansetzen und zeigen, dass die Bezeichnung mit ‚Knabe‘ das Kind nach seinem Geschlecht (Sex) benennt, die Bezeichnung mit ‚Sohn‘ dagegen eine familiale Beziehung (Gender) in den Vordergrund stellt. Das bedeutet aber insbesondere auch, dass das Neugeborene nach bestimmten Kriterien als ‚männlich‘ identifiziert und ihm damit ein Geschlecht (Sex) zugewiesen wurde. Auch im Alten Israel begann die soziale oder kulturelle Prägung von Sex durch Gender mit der Benennung des Geschlechts eines Neugeborenen.

Unter der Gender-Perspektive könnte man des Weiteren die gesellschaftlichen und auch psychischen Folgen bedenken, die die Bevorzugung männlicher Nachkommen für die Erziehung von Knaben wie Mädchen haben. Auch die Frage, wie stark das Selbstbild von Frauen im Alten Israel von der gesellschaftlichen Erwartung, Mutter von Söhnen zu werden, geprägt gewesen sein muss und welcher Druck auf den Frauen gelastet haben wird, gehört in diesen Zusammenhang. Wenn gegenwärtig Exegetinnen (oder Exegeten) ihre eigene Arbeit als ‚gender-sensibel‘ oder ‚gender-bewusst‘ bezeichnen, dann ist damit oft dieser umrisshaft vorgestellte Ansatz einer Auslegung biblischer Texte (oder auch einer Rekonstruktion der Sozial- oder Religionsgeschichte der biblischen Epochen) gemeint. Frauen stehen dabei nicht mehr selbstverständlich im Zentrum, können aber auch unter der Gender-Perspektive durchaus ins Zentrum gerückt werden.“

5.2. Unterschiedliche Zielsetzungen

Theologischer Feminismus und Gender nehmen nicht nur unterschiedliche Perspektiven ein, sondern verfolgen auch unterschiedliche Anliegen. Feministische Theologie ist von ihrem Selbstverständnis her notwendigerweise parteilich, kämpferisch, herrschaftskritisch und insofern politisch. Denn sie geht davon aus, dass das Geschlechterverhältnis ein Ungleichheits- und Machtverhältnis ist und zielt ab auf dessen Veränderung, auf die Befreiung von Frauen von Unrechts- und Ungleichheitsstrukturen. Gender-Theologie kann auch parteilich, kämpferisch, herrschaftskritisch sein, dort wo sie explizit für → Geschlechtergerechtigkeit eintritt. Sie ist es aber nicht notwendigerweise, sondern kann ggf. rein deskriptiv Geschlechterverhältnisse analysieren, ohne die Machtfrage zu stellen. Wenn Feministische Theologie auf der Notwendigkeit feministischer Ansätze insistiert, geschieht dies aus Sorge, die Benachteiligung von Frauen und Mädchen in Theologie und Kirche sowie in religiösen Bildungsprozessen könnte angesichts von Gender-Theorien in Vergessenheit geraten und eine Gleichstellung zwischen den Geschlechtern suggerieren, die de facto noch nicht eingelöst ist. Umgekehrt: Wenn Vertreterinnen und Vertreter der Gender-Theologie Feministische Theologie bisweilen für überholt erklären, geschieht dies aus Sorge, sie könnte mit ihrem Ansatz Frauen dauerhaft auf die Rolle der Unterdrückten und der Opfer festlegen – eine Zuschreibung, die vielfach der Erfahrung der Frauen von heute nicht mehr entspricht. Die Feministische Theologie der Gegenwart ist sich allerdings bewusst, dass Herrschaft nicht mit „Männerherrschaft“ identisch, sondern durch eine Vielzahl sozialer, politischer und kultureller Herrschaftsformen strukturiert ist, dass auch Frauen, bewusst oder unbewusst, Herrschaft ausüben und als (Mit-)Täterinnen an der Unterdrückung anderer beteiligt sind. Die Verhältnisbestimmung von Feministischer Theologie und Gender-Theologie ist damit keineswegs ausdiskutiert, sondern stellt eine bleibende Aufgabe dar.

Literaturverzeichnis

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  • Irigaray, Luce, Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt a. M. 6. Aufl. 1996.
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  • Meyer-Wilmes, Hedwig, Zwischen lila und lavendel. Schritte feministischer Theologie, Regensburg 1996.
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  • Mulack, Christa, Die Weiblichkeit Gottes. Matriarchale Voraussetzungen des Gottesbildes, Stuttgart 1998.
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  • Scherzberg, Lucia, Grundkurs feministische Theologie, Mainz 1995.
  • Schüngel-Straumann, Helen, Feministische Theologie und Gender. Interdisziplinäre Perspektiven, Frankfurt a. M. 2015.
  • Strahm, Doris, Aufbruch zu neuen Räumen. Eine Einführung in feministische Theologie, Freiburg/Schweiz 3. Aufl. 1990.
  • Wacker, Marie-Theres, Frauen ins Zentrum stellen. Zum Stand der christlich-feministischen Exegese, in: Marias Töchter. Die Kirche und die Frauen. Herder-Korrespondenz spezial (2016) 1, 22-25.
  • Wendel, Saskia, Von der Frauenfrage zum Geschlechterdiskurs. Eine Standortbestimmung theologischer Gender-Forschung, in: Marias Töchter. Die Kirche und die Frauen. Herder-Korrespondenz spezial (2016) 1, 38-41.

Arbeits- und Materialbücher

  • Ahrens, Sabine/Pithan, Annebelle, KU – weil ich ein Mädchen bin. Ideen – Konzeptionen – Modelle für einen mädchengerechten Konfirmationsunterricht, Gütersloh 2. Aufl. 2000.
  • Jakobs, Monika/Löffler, Irene/Rembold, Annette, Vater Gott und Mutter Kirche. Bausteine für den feministischen Religionsunterricht, Münster 1995.
  • Leicht, Irene/Rakel, Claudia/Rieger-Goertz, Stefanie (Hg.), Arbeitsbuch Feministische Theologie, Gütersloh 2003.
  • Kohler-Spiegel, Helga/Schachel-Raber, Ursula, Wut und Mut. Feministisches Materialbuch für Religionsunterricht und Gemeindearbeit, München 1991.

Theologisch-Feministische Zeitschriften

  • Bible and woman. Online unter: http://www.bibleandwomen.org/DE/, abgerufen am 31.10.2016.
  • FAMA. Feministisch-theologische Zeitschrift der Schweiz.
  • Feminist theology. The journal of the Britain and Ireland School of Feminist Theology.
  • Journal of feminist studies in religion.
  • Lectio difficilior. Europäische elektronische Zeitschrift für Feministische Exegese. Online unter: www.lectio.unibe.ch, abgerufen am 31.10.2016.
  • MARA. Tijdschrift voor feminisme en theologie.
  • Schlangenbrut. Zeitschrift für feministisch und religiös interessierte Frauen (erschien bis 2014, letzte Ausgabe: Heft 121).
  • Wisdom commentary. Online unter: http://www.wisdomcommentary.org/, abgerufen am 31.10.2016. (Feministische Kommentarreihe zu den Schriften des katholischen Kanons).

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