Gesetz und Evangelium – Evangelium und Tora
(erstellt: Februar 2016)
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1. Hinführung
Das Verhältnis von
Gesetz und Evangelium wirft in erster Linie systematisch-theologische Fragen auf, doch hat dessen Bestimmung erhebliche Folgewirkungen für die Praxis und Theorie religiöser Bildung in Schule und Gemeinde. Entscheidend ist, was genau unter Gesetz verstanden werden soll und ob bzw. in welchem Sinn sich die Rede vom Gesetz von der Rede vom Evangelium als überlieferter Frohbotschaft Jesu Christi unterscheidet. Hier stellt sich insbesondere die Frage, ob Gesetz im Evangelium eingeschlossen ist oder durch dieses überboten wird. Gegenüber den klassisch-theologischen Debatten hat das Thema in jüngster Zeit dadurch an Virulenz und Brisanz gewonnen, dass es nicht mehr losgelöst von einer neuen Verhältnisbestimmung von jüdischer und christlicher Überlieferung sowie deren jeweiliger religiöser Praxis diskutiert werden kann. Aus diesem Grund ist das Verhältnis von Gesetz und Evangelium heute im Kontext religiöser Bildung auch als zentrales Element christlich-jüdischer Lernprozesse (→ Judentum
2. Gesetz im Judentum: Tora
Wenn heute von Gesetz im Zusammenhang mit Religion die Rede ist, wird dies meist negativ konnotiert. Religionen, die auf Gesetze pochen, werden der Gesetzlichkeit im Sinne des Legalismus bezichtigt, wozu dann der Gegensatz einer freiheitlichen Orientierung aufgebaut wird. Die Begriffe →
Freiheit
Nicht selten wird die jüdische Religion als ein Glaubenssystem wahrgenommen, das ihren Gläubigen eine Unmenge an Regeln und Gesetzen auferlegt (613 Ge- und Verbote). Die Fokussierung auf Speisegesetze ( koscher, kaschrut) oder Sabbatgesetze (Lichtschalter, die nicht betätigt werden dürfen, Verbot von Autofahren und Benutzung elektronischer Geräte etc.) ist bedauerlicherweise auch im Unterricht über das Judentum und in Unterrichtsmaterialien zu finden. Demgegenüber versteht sich das Judentum als „Religion der Tora“ (Petuchowski, 1989, 127), wobei Tora neben den Grundbedeutungen wie Lehre, Weisung, Offenbarung auch die Bedeutung Gesetz haben kann. Im Vordergrund jedoch steht die Wegweisung für das Leben, weshalb Martin Buber und Franz Rosenzweig ihre Verdeutschung des Pentateuchs „die fünf Bücher der Weisung“ nennen (Buber/Rosenzweig, 1987).
Die Übersetzung des Begriffs Tora ins Griechische durch die Septuaginta und im Neuen Testament erfolgt konsequent durch das Wort nómos (Gesetz), was jedoch nicht alle Bedeutungen von Tora umgreift. Die Gefahr liegt in einer Verkürzung des Tora-Verständnisses auf Gesetz und damit die Festlegung des Judentums auf eine Gesetzesreligion oder auf Werkgerechtigkeit. Hier liegt die Ursache für eine Vielzahl von Missverständnissen in der Interrelation zwischen Judentum und Christentum quer durch die Jahrhunderte, auch in der Zeit der Reformation.
Im rabbinischen Judentum wird für ein Leben nach den Gesetzen die Wendung Halacha bevorzugt, was so viel bedeutet wie das Gehen, das Wandern, der Weg. Dies impliziert ein viel dynamischeres Verständnis als die reine Einhaltung von Gesetzen. „Gerade durch die peinliche Gesetzeserfüllung kann man die lebendige Gegenwart Gottes vergessen sowie die Tatsache, dass das Gesetz nicht um seiner selbst willen, sondern um Gottes willen da ist. […] Halacha darf nicht um ihrer selbst willen beobachtet werden“ (Heschel, 2000, 251; Berkovits, 2007). Wer den jüdischen Glaubensweg nicht länger missverstehen will, muss sich dem jüdischen Selbstverständnis der Gebote nähern. Die vielfältigen Mitzwot (Gebote), die observante Juden befolgen, bedeuten keineswegs unterjochende Gesetzlichkeit, sondern sind Erinnerungshandlungen und Erinnerungszeichen, die auf die Tora verweisen und damit auf Gott: „Alle Mitzwot sollen in uns das Bewusstsein wecken, dass wir in der Nähe Gottes leben, im Bereich des Heiligen“ (Heschel, 2000, 274). In jeder Tat des Menschen, der Befolgung von Speisegesetzen ebenso wie in der Hinwendung zum Bedürftigen, begegnen sich Heiliges und Menschliches. Das Tun der Mitzwot bedeutet das Erfüllen der Tora und ist damit Ausdruck der Gottesbeziehung im alltäglichen Leben. Tora ist nicht knechtendes Gesetz, sondern „Wegweisung, Weisung zum Leben“ (Wengst, 2014, 162).
Wenn demnach Tora in einem weiten Sinne als „Gottes menschenfreundliche Zusage“ (Limbeck, 1997, 114) an sein Volk verstanden wird, ist deutlich, dass die Gebote und Gesetze für die alttestamentliche und jüdische Glaubensauffassung zwar nicht unwesentlich, aber von der Rangfolge eindeutig einzuordnen sind: An erster Stelle stehen Gottes Verheißung und Heilstat im Exodus (Rettung aus der Sklaverei) sowie in der Erwählung durch Gott. Erst danach kommen die Gebote (Hossfeld, 1995, 581). Das von Gott geschenkte Heil ist vorausgehend, ja Voraussetzung für die Gabe der Tora am Sinai und die damit verbundene Gabe der Gebote. Zuerst kommt das Heil, dann das Gesetz – so kann die heilsgeschichtliche Komposition des Pentateuch und der weiteren jüdischen Tradition zusammengefasst werden.
3. Gesetz im Neuen Testament: Tora
Dieser Linie folgt das Neue Testament „als Evangelium aus den heiligen Schriften der Juden“ (Frankemölle, 2013). Immer wenn im Neuen Testament von
Gesetz die Rede ist, wird vor dem jüdischen Verstehenshintergrund im Kontext der Genese der neutestamentlichen Schriften klar, dass die Tora oder zumindest ein Teilaspekt der Tora gemeint war (Krauter, 2013; Hahn, 2011, 337; Theobald, 2000, 133). Für Jesus (→ Jesus Christus, bibeldidaktisch, Grundschule
Dies gilt auch für Paulus (→
Paulus II
Für Paulus ist das Gesetz „heilig, gerecht und gut“ (
Röm 7,12
Das Verhältnis des Paulus zum Gesetz, zur Tora, wurde jedoch in der christlichen Auslegungstradition meist als Antinomismus gedeutet und Paulus deshalb in einen scharfen Gegensatz zum jüdischen Tora-Verständnis gestellt. „Immer wieder leitete man aus der Paulinisches Theologie schiefe Urteile über das Judentum ab: Nomismus, Fleischlichkeit, Legalismus, Leistungsideologie, Werkgerechtigkeit, verstocktes, irdisch denkendes Volk u.ä.“ (Petuchowski, 1989, 283). Unter Berufung auf Paulus konnte die christliche Theologie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine extreme antijüdische Haltung vertreten. Davon ist auch die Geschichte der protestantischen Theologie nicht ausgenommen.
4. Verhältnisbestimmung von Gesetz/Tora und Evangelium
Die für Luther grundlegende Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium wird von ihm in eine unmittelbare Verbindung mit der Unterscheidung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament gebracht (Wengst, 2014, 41). Diese Verbindung jedoch birgt die Gefahr der dualistischen Gegenüberstellung von Altem und Neuen Testament und damit der „vornehmlichen Bestimmung des Alten Testaments als ‚Gesetz‘ und der Festlegung der „Juden auf Werkgerechtigkeit“ (Wengst, 2014, 42). Nach der Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses in der 2. Hälfte des 20. Jahrhundert ist diese Tendenz unbedingt zu korrigieren. Denn nach protestantischem Selbstverständnis ist die Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium keine entscheidende Unterscheidungskategorie zwischen Altem und Neuem Testament bzw. Altem und Neuem Bund, sondern zwischen katholischer Lehre und evangelischer Kritik bzw. theologischer Neuinterpretation. Diese kritische Grundunterscheidung gewinnt ursprünglich ihre Schärfe nicht primär durch die immer wieder herangezogenen historischen Beispiele einer monetär aufgeladenen Werk- und Leistungsgerechtigkeit samt dem berühmt-berüchtigten Ablasswesen. Sondern ihr liegt vielmehr die Überzeugung der Reformatoren zugrunde, dass die zentrale biblische Erkenntnis der von Gott her ergehenden Rechtfertigung in der katholischen Sünden-, Erlösungs- und Versöhnungslehre kategorial unterbestimmt ist.
Mit der Formel
Gesetz und Evangelium ist dem reformatorischen Theologieverständnis zufolge zu allererst die Grundherausforderung der sachgemäßen Bestimmung des Verhältnisses Gottes zum Menschen angesprochen (Kertelge, 1995, 589) – und auf Seiten des Menschen die Frage des → Glaubens
Erst von dort her bekommen alle menschlichen Handlungen im Rahmen weltlicher Ordnungen, Pflichten und Liebe ihren rechten Ort. Nach Luther sind somit
Werke des Gesetzes für die Existenz des Menschen vor Gott keineswegs unbedeutsam. Allerdings sind sie als Früchte des Glaubens zu bestimmen, die der von Gott her vorauslaufenden Gnade bestenfalls ihren irdischen Ausdruck und Beleg zu geben vermögen. Grundsätzlich dient das Gesetz aber im Sinn eines usus elenchticus (= zur Sünde überführender Gebrauch) bzw. usus theologicus lediglich dazu, dem Menschen die Begrenztheit und Sündhaftigkeit des eigenen Lebens und Tuns vor Augen zu führen. Mit dieser – insbesondere nach Luther (→ Martin Luther
Auf reformierter Seite hingegen ist es, nicht zuletzt durch eine grundsätzliche höhere Affinität zur Überlieferung des Alten Bundes, von Beginn an zu einer stärker integrativen Sichtweise von Gesetz und Evangelium gekommen. Dies zeigt sich vor allem im systematischen Ausbau des sogenannten tertius usus legis bzw. des usus legis in renatis, d.h. in der positiven Bestimmung des Gesetzes als Möglichkeit des Menschen, den Weg der Heiligkeit vor Gott zu beschreiten (Schwöbel, 2000, 864; Freudenberg, 2011, 220).
Im Unterschied zu einem schroffen Konfrontationsmodell erlangt hier die Orientierung am Gesetz den Charakter eines menschlichen Beitrags zur Weltwirklichkeit und auch zur Weltheiligung, ohne dass dabei die primäre Verwiesenheit auf Gottes Schöpfungswillen und seine zuvorkommende Gnade zur Disposition gestellt würden. Dies zeigt sich exemplarisch in Karl Barths Ansatz einer substantiellen Verbindung zwischen Gesetz und Evangelium, wenn dieser formuliert: „Wirklich als ein Zweites, Anderes tritt das Gesetz immer wieder neben das Evangelium, gleich wahr und gebieterisch und notwendig, weil der eine Gott hinter beiden steht, weil der eine Heilige Geist beides dem Menschen schenkt: die Gewissheit der Rechtfertigung des Sünders vor Gott und den Antrieb zur Heiligung desselben Sünders vor demselben Gott“ (Barth, 1923, 241). Dies hat eine ihrer prägnantesten materialen Konsequenzen im Doppelpaar von Christengemeinde und Bürgergemeinde gefunden hat (Barth, 1946; Barth, 1935).
Angesichts des heute immer wichtiger werdenden substantiellen interkonfessionellen Dialogs sowie des jüdisch-christlichen Gesprächs, stehen insbesondere die systematisch-theologischen Begriffsklärungen vor der Aufgabe, die klassische Engführung des Gesetzesbegriffs zu vermeiden und nach angemessenen Differenzierungen dieser Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium zu suchen. Für eine solche systematisch-theologisch begründete Differenzierung lohnt es sich, auf die jüngeren Annäherungsschritte zwischen katholischer und protestantischer Kirche zu blicken, wie sie etwa in der Arbeit und der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre aus dem Jahr 1999 manifest werden: Auch wenn es dabei lediglich zu einem Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre gekommen ist, heißt es u.a.: „Wir bekennen gemeinsam, dass der Mensch im Blick auf sein Heil völlig auf die rettende Gnade Gottes angewiesen ist. Die Freiheit, die er gegenüber den Menschen und den Dingen der Welt besitzt, ist keine Freiheit auf sein Heil hin. Das heißt, als Sünder steht er unter dem Gericht Gottes und ist unfähig, sich von sich aus Gott um Rettung zuzuwenden. Rechtfertigung geschieht allein aus Gnade“ (Gemeinsame Erklärung, 2009, 279; zur kritischen Erläuterung Jüngel, 1999). Im Blick auf das anstehende Reformationsjubiläum 2017 hätte jedenfalls die weitere Annäherung zugleich auch erhebliche kirchenpolitische und öffentliche Signalwirkung im Blick auf die Stärkung der Gemeinsamkeiten, ohne dass dabei die je spezifischen Auslegungstraditionen negiert werden müssten.
Zudem lässt sich für die weitere theologische Reflexionsarbeit gerade auch auf ihre religionspädagogischen Implikationen hin zweifellos an das oben entfaltete Verständnis von Tora als Weg und Weisung anknüpfen, das dazu dienen kann, hier keinen Gegensatz aufzubauen, sondern die Nähe von Gesetz und Evangelium herauszustellen und für ein „Christsein mit Tora und Evangelium“ (Wengst, 2014) zu plädieren.
5. Bedeutung für christlich-jüdische Lernprozesse
Auf den ersten Blick ist die Thematik von Gesetz und Evangelium für die Lebenswelten heutiger Schülerinnen und Schüler kaum von zentraler Bedeutung. Schon beide Begrifflichkeiten allein bilden keine festen Pfeiler alltagsweltlicher Kommunikation Jugendlicher – bestenfalls haben Jugendliche eine Vorstellung davon, mit dem (nota bene weltlichen) Gesetz in Konflikt zu kommen.
Allerdings lassen sich die oben erwähnten theologischen Grundfragen nach dem Gottesverhältnis im Sinn der bedingungslosen Annahme des Menschen und die damit verbundende Begrenzung aller menschlichen Selbstrechtfertigungsversuche durchaus in die Lebenswirklichkeit junger Menschen einspielen, wenn sie auf die offenen Fragen der je individuellen Lebensführung und auch Lebensgewissheit bezogen werden (Adam, 2012, vor allem 289-291).
Für die Thematisierung von Gesetz und Evangelium in religiösen Bildungsprozessen (→
Bildung, religiöse
Die religionsdidaktische Kunst besteht somit darin, die Verkündigung des Gesetzes – von dem bekanntermaßen kein Jota genommen werden soll (
Mt 5,18
Von diesen konkreten und ambivalenten Lebenserfahrungen Jugendlicher aus kann dann die von der Befreiung Gottes her gedachte Freiheitszusage eine kommunikative Praxis befördern, in der Schülerinnen und Schüler sich selbst und ihre Lebensführung im Licht des Evangeliums deuten und neu verstehen lernen. Dies bedeutet in grundsätzlicher Hinsicht, alle ethischen Thematisierungen und Unterrichtsprozesse, die auf Wertorientierung (→
Ethik
Grundsätzlich lässt sich folglich am spannungsreichen Begriffspaar von Evangelium und Gesetz eine Unterscheidungs- und Differenzkompetenz von Kindern und Jugendlichen einüben, d.h. dafür sensibilisieren, dass jüdische Überlieferung (Tora als Befreiung) und christliche Überlieferung ( Evangelium als Befreiung) durch die Geschichte hindurch der immer neuen, abwägenden Interpretationen bedürfen und zugleich durch solche abwägenden Prozesse auch die üblichen alltäglichen Sicherheiten sowie Selbstverständlichkeiten immer wieder kritisch hinterfragt werden können.
Darüber hinaus kann die Formel „Christsein mit Tora und Evangelium“ (Wengst, 2014) bei Lehrenden und Lernenden im Feld religiöser Bildung ein neues, vertieftes Bewusstsein dafür wecken, dass christliche Glaubensexistenz, die sich vom Evangelium her gespeist weiß, gleichzeitig immer auch an der Tora orientiert ist. Beides, Gedenken bzw. Vergegenwärtigung der Tora und des Evangeliums, gehören untrennbar zusammen und können weder in der Lehre (markionitische, antijüdische Tendenzen, auch in der heutigen Theologie) noch im Leben (Antisemitismus als bleibende gesellschaftliche und kirchliche Herausforderung) als überwunden gelten (Boschki/Schlag, 2015). Die Frage nach dem Verständnis und Verhältnis von Gesetz/Tora und Evangelium wird damit zum Testfall christlich-jüdischer Lehr-Lernprozesse.
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