Bildung, religiöse
(erstellt: Januar 2015)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Bildung_religise.100082
Das Nachdenken über religiöse Bildung führt ins Zentrum der Religionspädagogik und lässt sich mit vielen grundlegenden Fragestellungen und Problemhorizonten des Faches in Beziehung setzen. Die Näherbestimmungen religiöser Bildung sind dabei zunächst mit den Grundlagen des Bildungsbegriffes verbunden und haben zugleich an seiner Vielstimmigkeit und seinen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und Entwicklungen Anteil, die unterschiedlich akzentuiert von biblischen Traditionen über die Mystik Meister Eckarts und die Reformation, die Aufklärung und den Neuhumanismus bis zu den modern-kritischen Fortschreibungen rekonstruiert werden können (Rittelmeyer, 2012; Fraas, 2000). Als relevante Dimensionen eines in dieser Weise entwickelten Verständnisses von Bildung als Rahmenbedingung religiöser Bildung können folgende gelten: die anthropologische Voraussetzung der grundsätzlichen Bildsamkeit des Menschen, die Orientierung am Subjekt (→ Subjekt
1. Biblische und theologische Deutungsmuster religiöser Bildung
Das Besondere des Bildungsbegriffes ist unter anderem darin zu sehen, dass er zunächst selbst aus christlich-religiösen Deutungsmustern hervorgegangen ist, bevor er sich in den modernen Bildungstheorien verselbständigt hat – freilich ohne sich von diesen Wurzeln ganz lösen zu können. Insofern sind Theologie (→ Theologie
1.1. Biblische und reformatorische Motive: Gottebenbildlichkeit, Rechtfertigung, Glaube und Verstehen als Ausdruck von Ermöglichung und Selbstbegrenzung von Bildung
In jüdisch-christlicher Perspektive ist der Bildungsgedanke zunächst mit dem biblischen Motiv der Gottesebenbildlichkeit des Menschen verbunden (Gen 1,27
Diesem schöpfungstheologischen Deutungsmuster der verdankten Bildsamkeit korrespondiert die Vorstellung der Rechtfertigung beziehungsweise der Annahme des Menschen allein aus Gottvertrauen und Glauben – und nicht aus dem heraus, was er selbst zu leisten in der Lage ist (Röm 1,17
Jenseits dieser limitierenden Grundgedanken, die sich aus biblischen Motiven speisen und als regulative Ideen im Bildungsprozess verstanden werden können, lassen sich biblisch aber auch ganz konkrete Spuren ausmachen, die den religiösen Vollzug mit Bildungsansprüchen verbinden. Unabhängig von zeitbedingten und heute sehr zweifelhaften Ansätzen der Weisheitsliteratur, die Gottesfurcht und Züchtigung beziehungsweise Disziplinierung miteinander verbinden, sind dies vor allem Traditionen, die im Kontext der „Wertschätzung nachfolgender Generationen“ auf eine Weitergabe von Glaubenstraditionen rekurrieren, die „den ausdrücklichen Übergang zum Lehren und Lernen sowie zu einer am Verstehen orientierten Vermittlung“ (Schweitzer, 2006, 22) vollziehen, wie sie sich im Rahmen des jüdischen Verständnisses einer Lerngemeinschaft im Glauben (Schröder, 2012, 224) in der Grundstruktur des Deuteronomiums 6,20
Der hier angedeutete Zusammenhang von Glauben und Verstehen wird in der → Reformation
Das Verständnis religiöser Bildung im elementaren Sinne hat Luther jedoch vor allem durch seine beiden Katechismen – den Kleinen und den Großen (1529) – nachhaltig geprägt. Diese Katechismen (→ Katechismus
Eingedenk dieser Grenzbestimmung ist die besondere Affinität zwischen → Protestantismus, Individuum und Bildung vielfach dargelegt worden bis hin zu der Konstatierung eines Bildungsdilemmas der evangelischen Kirche, weil sich die individuell Gebildeten eben auch institutionenkritisch und institutionenfern als Christen verstehen können, was auf das Teilhabeverhalten an kirchlichen Veranstaltungen erhebliche Auswirkungen hat. Inzwischen wird jedoch auch katholischerseits der Bildungsbegriff intensiv adaptiert und mit der eigenen Tradition verbunden (Platzbecker, 2013).
1.2. Kommunikationsbedingungen religiöser Bildung in der Tradition der Aufklärung und des Neuhumanismus
Im Kontext der Katechismen Luthers ist bereits deutlich geworden, dass Bildungsprozesse nicht nur durch die Gehalte, sondern auch durch die Form der Vermittlung mitgeprägt werden. Dieses Bewusstsein ist im Neuhumanismus durch Humboldt weiter befördert worden, der insbesondere Freiheit als notwendige Kommunikationsvoraussetzung betont hat: „Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlassliche Bedingung. Allein ausser der Freiheit erfordert die Entwickelung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, Mannigfaltigkeit der Situationen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus“ (Humboldt, 1903, 106). Freiheit und vielfältige Gelegenheiten für einen geöffneten Sinn als Bedingungen möglichst vielfältiger Bildungsprozesse hat Friedrich Schleiermacher als Zeitgenosse Humboldts auf die Voraussetzungen religiöser Bildung übertragen. In seiner Programmschrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ nimmt er bereits das Bildungsdilemma auf, indem er den durch die → Aufklärung geprägten Menschen seiner Zeit zeigen will, warum sich Bildung und Religion nicht widersprechen müssen, sondern gerade ein aufgeklärtes, bildungsaffines Verständnis von Religion möglich ist. Zu einem solchen Religionsverständnis gehört eine Vorstellung religiöser Bildung, die kein anderes Mittel kennt, als „daß sie sich frei äußert und mittheilt“ (Schleiermacher, 1984, 248). Religiöse Bildungsbemühungen haben zu respektieren, dass religiöse Überzeugungen anderen nicht „aufzudringen“ (ebd.) sind, sondern dass lediglich im Modus des Angebots von Deutungen zu kommunizieren ist. Allerdings hält Schleiermacher grundlegend fest, dass religiös gedeutete existenzielle Erfahrungen nicht nur einen besonderen Kommunikationsraum brauchen, sondern selbst wieder auf Kommunikation hin angelegt sind. Denn da es beim religiösen Sinn immer um das Ganze von Leben und Welt geht, das er aber niemals vollkommen erfassen kann, drängt er in die Mitteilung, um das notwendig Offene und Begrenzte der eigenen Sicht mit Sichtweisen anderer Menschen abzugleichen. Dabei kann das Bewusstsein für das unhintergehbar individuelle Moment religiöser Überzeugungen nach Schleiermacher Verstehen und Toleranz von religiöser Pluralität befördern. Zugleich lässt sich Religion in dieser Perspektive weder als reine Fertigkeit noch als objektiviertes Sachverhaltswissen vermitteln. Deshalb gilt Schleiermacher ein Religionsunterricht, der sich darauf beschränkt, Meinungen und Lehrsätze nach- und anzubilden, als ein „abgeschmacktes und sinnleeres“ Unternehmen. Allerdings verlangt auch der Vollzug freier religiöser Mitteilung spezifische, wenngleich über reine Wissensvermittlung hinausgehende Bildungsanstrengungen. Dazu gehört in erster Linie, den Sinn frei- und offenzuhalten beziehungsweise Muße und Raum für Selbstbesinnung zu schaffen, damit das Streben des Menschen, über den unmittelbaren Wirklichkeitshorizont hinaus zu fragen, nicht im Keim durch permanente Agilität in Arbeit und Freizeit erstickt wird. Schleiermacher polemisiert damit gegen übertriebene Perfektibilitäts- und Nützlichkeitserwägungen, die sich schon in der Aufklärung gezeigt haben und die heute in der Leistungsgesellschaft nach wie vor präsent sind.
2. Religiöse Bildung im religionspädagogischen Diskurs
Die Grundzüge religiöser Bildung, die aus der christlichen Binnenperspektive exemplarisch rekonstruiert worden sind, und ihre Impulse für den gegenwärtigen Bildungsdiskurs im Sinne von Sinnkonstitution, grundlegender Selbstbegrenzung und Abwehr von Absolutsetzungen im Bildungsprozess reichen allerdings noch nicht aus, um religiöse Bildung – gerade im öffentlichen Raum der Schule – allgemein gesellschaftlich akzeptiert als unverzichtbaren Bestandteil allgemeiner Bildung auszuweisen und zu legitimieren. Dazu bedarf es vielmehr einer den Bedingungen der pluralen Gesellschaft adäquaten Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der Argumente, die sich dann in verschiedenen religionspädagogischen Diskursen verdichten und zuspitzen lassen. Solche Kristallisationspunkte der Begründung und Entfaltung religiöser Bildung seien im Folgenden dargestellt.
2.1. Religiöse Bildung und Allgemeinbildung
Wenn man religionspädagogisch begründen will, warum religiöse Bildung einen unverzichtbaren Platz im Rahmen allgemeiner Bildung beanspruchen kann, werden verschiedene Argumente angeführt. Im Anschluss an Friedrich Schweitzer (2012, 94f.) lassen sich folgende Begründungsmuster zusammenstellen: Religion als anthropologisch unabdingbare Dimension des Menschseins im Sinne einer Transzendenzoffenheit, Religion und → Religionsfreiheit
Quer zu diesen Einzelbestimmungen haben jedoch interessanterweise gerade die Debatten im Anschluss an die PISA-Studien nicht nur für eine Kompetenz- und Bildungsstandarddiskussion in der Religionspädagogik gesorgt, sondern aus bildungstheoretischer Sicht auch ein neues Modell für die Begründung religiöser Bildung im Kontext von Allgemeinbildung angeboten. Der Bildungsforscher Jürgen Baumert (2002, 100-150) hat festgehalten, dass es verschiedene Modelle und Formen der Welterschließung gibt, die sich in verschiedenen Fächerverbänden der Schule niederschlagen und nur gemeinsam den Horizont allgemeiner Bildung darstellen können. Dazu gehört die Einsicht in die je eigene Weise und Unersetzbarkeit der verschiedenen Modi der Weltbegegnung, die er wie folgt unterscheidet: „kognitiv-instrumentelle Modellierung der Welt“, „ästhetisch-expressive Begegnung und Gestaltung“, „normativ-evaluative Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Gesellschaft“ und „Probleme konstitutiver Rationalität“ (dazu Dressler, 2006, 110f.). Die je eigenen Zugangsweisen zur Welt schließen verschiedene Weisen der Wirklichkeitswahrnehmung, -deutung und -gestaltung beziehungsweise der Kommunikationsformen in diesen Domänen des Wissens ein. Die Fächer Philosophie und Religion gehören gemeinsam zur Domäne „konstitutiver Rationalität“. Das heißt, in ihnen wird über die Bedingungen menschlicher Erkenntnis und menschlichen In-der-Welt-Seins nachgedacht. Trotz dieser Gemeinsamkeit, dass es in beiden Fächern um Daseinshermeneutik geht, unterscheiden sie sich jedoch wesentlich in der Art der Kommunikation und der inhaltlichen Bestimmtheit. In den verschiedenen Religionen und ihren kulturellen Praxen tritt nicht nur inhaltlich immer ein erkennbarer Transzendenzbezug in Erscheinung, der ja auch in der Philosophie durchaus im Blick sein kann, sondern das Transzendente wird im Rahmen von menschlichen Grunderfahrungen ausgelegt, so dass die existenzielle Beziehung zu dieser Dimension zentral wird. Es gehört zum Proprium dieses existenziellen Involviertseins, dass es sich nicht nur argumentativ diskursiv äußert, sondern sich vor allem in den Formen symbolischer Kommunikation einschließlich kultischer Praxen darstellt. Am Ort der → Familie
Dabei kann auch die Kunst eines vielfältigen Perspektivenwechsels als zentrales Element religiöser Bildung verstanden werden (Dressler, 2006, 144-150; Dressler, 2008). Dazu gehört zunächst die Grundunterscheidung zwischen einer religiösen Binnenperspektive – dem religiösen Reden – und einer Außenperspektive – dem Reden über Religion. Beide Elemente sind im Prozess religiöser Bildung gleichermaßen notwendig und immer auch auf einander zu beziehen, wenn man Religionen in ihrem Eigensinn verstehen will. Dabei ist umstritten, welchen Stellenwert theologische Reflexion in diesem Spannungsfeld hat. Man kann sie sowohl als Teil des religiösen Sprachspiels in diskursiver Form begreifen als auch als eine gegenüber den genuinen symbolischen, narrativen und metaphorischen Formen des Ausdrucks religiöser Erfahrung sekundäre Form, die auf die Seite des Redens über Religion gehört. Darüber hinaus müssen im Prozess religiöser Bildung sowohl → Perspektivenwechsel
2.2. Religiöse Bildung im Zeichen von Pluralität und Heterogenität
Religiöse Bildung muss sich als kompatibel mit den Voraussetzungen einer pluralen Gesellschaft erweisen (Nipkow, 1998; Pohl-Patalong, 2003). Dazu gehört nicht nur, dass sie Formen interreligiöser Bildung in sich aufzunehmen hat, sondern auch eine differenzierte Wahrnehmung der subjektiven Bildungsvoraussetzungen, die eben nicht in der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Religionsgemeinschaften aufgehen, sondern ausdifferenzierte und sehr unterschiedliche Zugänge zum Phänomenfeld Religion erkennen lassen, auch bei denen, die keiner Konfession mehr angehören. Gerade die zuletzt genannte Gruppe, die in sich noch einmal plural verfasst ist, ist für die Anregung religiöser Bildungsprozesse am Ort der Schule besonders interessant und eine Herausforderung zugleich (Käbisch, 2014), weil für viele von ihnen dort jenseits einer familiären oder religiös-gemeinschaftlichen Sozialisation ein Erstkontakt mit expliziter Religion stattfindet – wobei der vorgängige und begleitende Einfluss medialer Vermittlung religiöser Vorstellungen eigens zu bedenken ist. Im Rahmen religiöser Bildungsangebote muss demnach sehr elementar und erfahrungsnah gezeigt werden können, warum Menschen Religion als Ressource einer sinnvollen Lebensgestaltung begreifen können und wie sich religiöse symbolisch-metaphorisch-narrative, rituelle und diskursive Kommunikationsformen so erschließen lassen, dass sie als besondere Deutungsweisen existenzieller Erfahrungen, die an individuelle Lebenserfahrungen heute anschlussfähig sind, verstanden werden können. Sensibilisieren, Plausibilisieren und Vor-Augen-Führen der möglichen Relevanz religiöser Deutungsmuster und Gestaltungsformen können dabei wesentliche Elemente sein (Domsgen, 2013). Religiöse Bildungsprozesse am Orte der Subjekte des Unterrichts können sich jedenfalls nur dann ereignen, wenn sich die Lebensbedeutsamkeit religiöser Weltbegegnung erschließt. Dazu bedarf es eines sensiblen Umgangs mit Differenzerfahrungen. Differenzkompetenz im Rahmen religiöser Bildung bedeutet dabei eine wechselseitig dynamisierte Durchdringung von Eigenem und Fremdem, die damit rechnet, dass im Zwischenraum etwas Neues entstehen kann (Kumlehn, 2012) und zugleich auch eine Wahrnehmung möglichen Konfliktpotenzials im Aufeinandertreffen verschiedener Lebensformen im Spannungsfeld von religiöser und areligiöser Selbst- und Fremddeutung (→ Fremdheit
2.3. Religiöse Bildung und Wahrnehmungs-, Deutungs-, Urteils- und Gestaltungskompetenz
Die veränderten Voraussetzungen religiöser Bildung haben eine Pluralisierung (→ Pluralität/Pluralisierung
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