Ethische Bildung und Erziehung
(erstellt: Februar 2016)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Ethische_Bildung_und_Erziehung.100188
1. Definitionen und Begriffsbildungen
1.1. Ethische Bildung und Erziehung, Moralische Bildung und Erziehung, Wertebildung und Erziehung
Ethische Bildung ist Einübung in eigenständige ethische und moralische Urteils-, Entscheidungs- und Bewertungsfähigkeit. Sie ist ferner Befähigung zur eigenständigen Begründung von Werten, Normen, Regeln und Tugenden; und schließlich Erarbeitung von eigenständigen Handlungsmaximen in eigenen und fremden Lebenssituationen. Darüber hinaus möchte sie auch zum eigenständigen moralischen Handeln und Verhalten hinführen, insofern Bildung immer als Selbstbildung, Selbstgestaltung, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, Selbstdefinition, Selbstkonstruktion und somit als „Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung und Autonomie“ (Klafki, 2007, 19f.) zu verstehen ist. Ihre weiteren Ziele sind Hilfe zur moralischen Identitätsbildung, zu ethischer Dialogkompetenz, zum Umgang mit ethischem Pluralismus und zur Befähigung ethischer Symbolisierung.
Ethische Erziehung hat dagegen die Aufgabe, ethisches Urteilen, Entscheiden, Bewerten und Begründen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen so nahe zu bringen, wie es Gesellschaft und Kultur erwarten. Ethische Erziehung enthält oft einen Anteil Fremdbestimmung, während Ethische Bildung allein Selbstbestimmung fördern möchte.
Wie sollen Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler mit dieser Spannung umgehen? Ethische Bildung möchte Selbstkompetenz, Ethische Erziehung möchte gesellschaftliche Verhaltenskompetenz fördern. Beide müssen sich ergänzen. Ethische Erziehung sollte der Ethischen Bildung vorangehen (Mendl, 2012, 13, der allerdings nur zwischen Ethischer Bildung und Moralischer Erziehung, nicht aber zwischen Ethischer Bildung und Ethischer Erziehung unterscheidet). Um ein Beispiel zu nennen: Bei der Frage „Militärische Intervention, Ja oder Nein?“ sollten zuerst die Normen Verfolgte muss man schützen und mit Gewalt kann man keinen Frieden stiften durch Ethische Erziehung erlernt werden. Den Widerspruch dieser Normen kann man aber nur durch Ethische Bildung bearbeiten; z.B. durch die Einsicht, dass für die Erhaltung des Rechts begrenzte Gewalt oder eben gewaltloser Friedensdienst erforderlich sind.
Ethik reflektiert dabei die Moral und Sitte einer Gesellschaft und Kultur, sowohl in selbstbestimmter als auch in fremdbestimmter Reflexion. Sie stellt die Theorie der jeweiligen Moral und Sitte dar.
Begriffsverwandt mit Ethischer Bildung und Erziehung sind Moralische Bildung und Erziehung sowie →
Wertebildung
Bezogen sich Ethische Bildung und Erziehung als auch Moralische Bildung und Erziehung nicht nur auf Werte, sondern auch auf Normen, Regeln und Tugenden, so konzentrieren sich Werte-Bildung und Erziehung allein auf Werte. Werte-Bildung ist ein Prozess, der immer subjektiv und ich-orientiert verlaufen sollte. Sie leitet zu eigenständigem Werten an. Sie ist eine Wertungs-Bildung. Werte-Erziehung dagegen möchte in die geltenden Werte einer Gesellschaft und Kultur direkt einüben, ohne deren Rechtfertigung reflektieren zu müssen. Sie sollte nicht lehren, zu werten und zu bewerten, sondern sie sollte Werte lehren. Werte-Bildung bzw. Wertungs-Bildung ist selbstbestimmt und Werte-Erziehung ist teilweise fremdbestimmt ausgerichtet.
Um wieder ein Beispiel zu nennen: Werte-Erziehung lehrt, dass der Wert des Lebens niemals durch Tötung vernichtet werden darf. Das kollidiert aber mit dem Wunsch mancher Schwerkranker, ihr Leben frühzeitig zu beenden. Nur Werte-Bildung kann zu einem Urteil verhelfen, ob hier Sterbehilfe oder Sterbebegleitung angesagt ist.
Welche dieser Formen von Bildung und Erziehung sind spezifische Aufgaben der Religionspädagogik? Wenn Religionspädagogik zur Reflexion und Deutung der Wirklichkeit anleiten möchte, dann gehören Ethische Bildung und Werte-Bildung besonders zu ihren Aufgaben; denn auch diese beiden fordern zur Reflexions- und Deutungskompetenz heraus, zwar nicht zur religiösen, aber zur ethischen Deutungskompetenz. Ethische, moralische und Werte- Erziehung dagegen sollten in denjenigen Fächern und Unterrichtssequenzen praktiziert werden, in denen es um Einübung von Regeln und Normen geht, z.B. Sozialkunde und natürlich auch Ethik- und Religionsunterricht.
1.2. Werte, Normen, Regeln und Tugenden
Was sind Werte, Normen, Regeln und Tugenden und wie sind sie in diese Systeme einzuordnen?
Für Werte sind drei Aspekte wichtig: Sie sind zum einen aus der Kulturgeschichte hervorgegangene Kriterien bzw. Bewertungsmaßstäbe (z.B. frei, friedlich, tolerant, harmonisch, gewaltfrei, ordentlich, sauber, ehrlich u.a.), um zu beurteilen, was richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht, schön oder hässlich, gut oder böse, wahr oder unwahr oder einfach besser oder schlechter sein könnte. Sie sind zum anderen Lebensziele (z.B. Freiheit, Friedfertigkeit, Gerechtigkeit, Toleranz, Wahrhaftigkeit u.a.; früher genannt: Primärtugenden), die niemals vollendet und abgeschlossen, sondern immer im Werden eines Menschen, einer Gruppe, einer Gesellschaft, eines Volkes oder einer Kultur begriffen sind. Und sie sind zum dritten Alltagsstandards (z.B. Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Fairness, Ehrgeiz, Gesundheit, Chancengleichheit u.a.; früher genannt: Sekundärtugenden), mit deren Hilfe alltäglich erwünschte Zustände erreicht werden sollen.
Alle drei Aspekte spielen bei Ethischer Bildung und Erziehung eine Rolle. Weil es aber bei Ethischer Bildung um eigenständige Bewertung und Entscheidung geht, spielen bei ihr Werte als Bewertungsmaßstäbe und als Lebensziele eine besondere Rolle. Bei Ethischer Erziehung dagegen geht es mehr um den Aspekt der Alltagsstandards, weil Erziehung in alltägliche Standards einüben möchte. Das Gleiche gilt für Moralische Bildung und Erziehung und für Wertebildung und Werte-Erziehung.
Normen und Regeln sind gesellschaftlich entstandene Verhaltensstandards, die zum Zwecke eines komplexitätsreduzierenden Zusammenlebens mit der Funktion zur Orientierung, Entlastung und Legitimation, die von Einzelnen, Gruppen oder Gesellschaften massenhaft praktiziert und im Falle ihrer Nichteinhaltung sanktioniert werden, versehen sind. Bei Ethischer und Moralischer Bildung geht es wieder um eine Anleitung zu eigenständiger Reflexion der Sinnhaftigkeit dieser Normen und Regeln. Bei Ethischer und Moralischer Erziehung dagegen sollen die Adressatinnen und Adressaten direkt in die Praxis dieser Normen und Regeln eingeübt werden.
Tugenden (abgeleitet von taugen) bezeichnen die Tauglichkeit, Eigenschaft und Haltung einer Person, um moralisch Gutes realisieren zu können. Bei Ethischer und Moralischer Bildung sollten sich die Adressatinnen und Adressaten mit der Sinnhaftigkeit z.B. klassisch-christlicher Tugenden (wie z.B. Demut, Barmherzigkeit, Keuschheit, Mäßigung, Geduld) und bürgerlicher Tugenden (wie z.B. Ordentlichkeit, Sauberkeit, Sparsamkeit, Pünktlichkeit) auseinandersetzen. Bei Ethischer und Moralischer Erziehung sollten diese Tugenden direkt eingeübt werden.
2. Säkulare Modelle und Methoden Ethischer Bildung
Bei der nachfolgenden Darstellung unterschiedlicher moralpädagogischer Modelle in der Forschung konzentriere ich mich auf Ethische Bildung, weil sie am intensivsten verhandelt wird. Dabei lassen sich sechs Modelle Ethischer Bildung unterscheiden (Mokrosch/Regenbogen, 2009, 35-39; Mokrosch, 2011, 42-45).
2.1. Modell einer Vermittlung von Werten und Normen
Das Modell einer Vermittlung von Werten und Normen basiert auf der Überzeugung, dass es überzeitlich geltende Wert-, Normen- und Tugend-Ideen gibt, die in der abendländischen Geschichte realisiert worden sind und durch Information und Belehrung an jede Generation weiter vermittelt werden sollten. Es setzt voraus, dass jeder Mensch werturteils- und verantwortungsfähig ist, sofern er in die ontologisch und a priori vorgegebenen Werte und Normen am Werte- und Normen-Himmel eingewiesen worden ist. Toleranz, Gerechtigkeit, Glück und Solidarität, oder Respekt vor Älteren, Höflich sein u.a. werden als klar bestimmbare Werte und Normen verstanden, die vermittelt werden müssen. Was unter Gerechtigkeit, Gehorsam, Toleranz, Familie usw. zu verstehen sei, muss in diesem Ansatz nicht hinterfragtwerden.
Das Modell wurde zuerst in der materialen Wert-Ethik Max Schelers und Nicolai Hartmanns axiologisch begründet (Scheler, 1913; Scheler, 1916).
Es repräsentiert einen Werte- und Normen-Objektivismus, der im heutigen ethischen Pluralismus (→
Pluralisierung
2.2. Modell einer Klärung von Werten, Normen und Tugenden
Das Modell einer Klärung von Werten, Normen und z.T. auch Tugenden möchte erreichen, dass Werte, Normen und Tugenden nicht übernommen, sondern subjektiv erlebt, erfahren und geklärt werden. Die Adressatinnen und Adressaten sollen selbst klären, welche Werte sie präferieren, wie sie sie verstehen und ob und wie sie sie realisieren können, statt konkrete Werte und Normen zu lernen.
Entwickelt wurde das Modell u.a. von Louis Raths (Raths/Harmin/Simon, 1976). Es setzt ebenfalls voraus, dass jeder Mensch verantwortungsfähig ist, ein Rechtsbewusstsein besitzt und sich selbst zu einer moralischen Lebensführung verpflichten kann. Aufgabe Ethischer Bildung in der Schule ist es, mit den Schülern und Schülerinnen deren eigenes Werte- und Normen-Gebäude durchzubuchstabieren und dieses zu stärken.
Kritikerinnen und Kritiker dieses Modells befürchten einen ethischen Subjektivismus, weil die Menschen sich mit Werten, Normen und Tugenden in einem geschichts- und kulturfreien Raum auseinandersetzen, der möglicherweise zu subjektivistischer Beliebigkeit verführt.
2.3. Modell einer Entwicklung von Werten und Normen im Bewusstsein
Das Modell einer Entwicklung von Werten und Normen im Bewusstsein geht davon aus, dass sich die Fähigkeit zu moralischem und ethischem Urteilen, Entscheiden, Bewerten und Begründen im Lebenslauf entwickelt (→
Entwicklungspsychologie
- 1. Niveau: Auf einem vorkonventionellen, heteronom-moralischen Niveau orientiert sich das Kind an dem, was Autoritätspersonen für gut oder böse, richtig oder falsch erachten und an den von ihnen dazu aufgestellten Regeln, Ge- und Verboten.
- 2. Niveau: Auf einem konventionell-regelkonformen Niveau übernimmt der oder die Jugendliche konventionelle Ordnungsschemata und Rollenfunktionen anderer, um die bestehende soziale Ordnung zu wahren und bestehende Normen zu erfüllen.
- 3. Niveau: Auf der Ebene eines nachkonventionellen, autonom-prinzipienorientierten Niveaus schließlich eignet sich der erwachsene Mensch moralische Normen, Werte und Prinzipien an, die über seine eigene Gruppe und Gesellschaft hinaus gültig sind, und versucht, in autonomer Verantwortung danach zu urteilen und zu handeln.
Zur Weiterentwicklung von Niveau zu Niveau muss nach diesem Modell ein Disäquilibrium (Ungleichgewicht) der moralischen Argumentation stimuliert werden. Wenn z.B. ein Jugendlicher, der Waffengebrauch ablehnt, erfährt, dass durch Waffen Menschen gerettet werden können, gerät er moralisch aus dem Gleichgewicht und sucht nach einer anderen Lösung. Das zwingt die Adressatinnen und Adressaten zu neuer Argumentation und führt sie in ihrer moralischen Entwicklung (hoffentlich) weiter. Die Diskussion von möglichen Lösungen in einem Dilemma wird dafür als eine gute Methode beschrieben.
Aufgabe Ethischer Bildung ist es demnach, die ethische und moralische Urteils-, Entscheidungs- und Begründungsfähigkeit der Adressatinnen und Adressaten von Niveau zu Niveau zu fördern. Das Ziel ethischer Bildung ist nach diesem Ansatz ethische Entwicklung.
An diesem Punkt setzt die Kritik des Modells an. Es argumentiert, so wird beanstandet, rein formalistisch. Moralische Entwicklung verlaufe zudem diskontinuierlich, nicht kontinuierlich. Schließlich seien Dilemmata realitätsfern und rein kognitiv, so dass sie nicht direkt zu moralischem Urteilen und Handeln im Alltag führten.
2.4. Modell eines Erfühlens von Werten und Normen
Das von Siegfried Uhl (1996, 40-50) entwickelte Modell eines Erfühlens von Werten und Normen möchte das Gefühlsleben, besonders Sympathie, Empathie und Rollenreziprozität, fördern, um zu einem Urteilen und Entscheiden
mit dem Herzen zu bewegen. Es sollen soziale und moralische Gefühle bei den Adressatinnen und Adressaten geweckt werden, um soziale und moralische Einstellungen zu erzeugen. Aufgabe Ethischer Bildung sei es, die Gefühlswelt → Schülerinnen und Schüler
Kritisiert wird hier, dass moralisches und ethisches Urteilen und Entscheiden im Gefühl stecken bleiben und nicht ausreichend reflektiert werden. Zudem könne man nicht zu Gefühlen bilden oder erziehen.
2.5. Modell einer Analyse zur moralischen Konfliktlösung
Das Modell einer Analyse zur moralischen Konfliktlösung fordert dazu auf, die Voraussetzungen, Bedingungen, Folgen und implizite Normen und Werte eines Konflikts zu analysieren, bevor man ein Urteil fällt und entscheidet. Erarbeitet wurde es von Wolfgang Bender und Hans Schmidt (Bender, 1988). Im Stil analytischer Prozedural-, z.T. auch Diskurs- und Kommunikationsethik sollen folgende Elemente des Konflikts erarbeitet werden:
- 1. Analyse der Situation aller Beteiligten in diesem Konflikt;
- 2. Auflistung der elementaren Lebensbedingungen der Beteiligten und der Nicht-Beteiligten;
- 3. Aufstellung einer Rangordnung der Werte, Normen und Tugenden, die bei der Konfliktlösung beachtet werden sollten;
- 4. Überlegungen zu den Auswirkungen des Konflikts und seiner möglichen Lösungen auf Betroffene und Nicht-Betroffene; und
- 5. Urteilsbildung und Entscheidung.
Aufgabe Ethischer Bildung ist es, mit den Schülerinnen und Schülern diese fünf Analyse-Stationen abzuarbeiten.
Kritisiert wird hier der Formalismus dieses Modells: Menschen würden auf diesem Wege nur zu einer Verfahrensordnung, nicht aber zu einer inhaltlichen Wertung angeleitet. Diese bleibe ihnen selbst überlassen.
2.6. Modell zur Sensibilisierung für Überlebensverantwortung
Das Modell zur Sensibilisierung für Überlebensverantwortung von Hans Jonas und Alfred Treml basiert auf einer kosmozentrischen und nicht mehr anthropozentrischen Ethik (Jonas, 1979). Jeder Mensch sei für das Überleben von Menschheit und Natur und das Wohl der Noch-nicht-Geborenen verantwortlich. Ethische Bildung solle im Sinne einer Unterlassensethik (frei nach Wilhelm Busch: „Das Gute, das steht fest, ist nur das Schlechte, das man lässt“) zu globaler Für- und Vorsorge anleiten. So müsse die Ausbeutung der Natur und die Manipulation der Erde unterlassen werden, wozu mit den Adressatinnen und Adressaten Zukunftsszenarien mit forcierter Nachhaltigkeit entfaltet werden.
Kritisch zurückgefragt wird, ob hier nicht individuelle Bedürfnisse verdrängt werden, während die Befürworterinnen und Befürworter darin ihre Forderung „Denke global und handle lokal!“ erfüllt sehen.
2.7. Modell einer Entstehung von Werten und Normen im Bewusstsein
Das Modell einer Entstehung von Werten und Normen im Bewusstsein wurde von Arnim Regenbogen entwickelt (Regenbogen, 2001) und von mir weiter geführt. Es geht davon aus, dass Werte und Normen erst nach einem Wertungsakt im Bewusstsein des Wertenden virulent und real werden. Dieser Wertungsakt sei ein dreifacher: 1. Wertung des gewerteten Objekts, 2. Wertung des wertenden Subjekts und 3. der Wertungsakt selbst:
- 1. Das gewertete Objekt ist ein erwünschtes Gut, z.B. eine friedliche Gesellschaft, eine harmonische Familie, ein gerechter Staat etc. Die Werte Frieden, Harmonie und Gerechtigkeit werden für Gesellschaft, Familie und Staat erst real, wenn jemand sie entsprechend wertet.
- 2.
Das
wertende → Subjekt
bringt durch seine Wertung die jeweiligen Werte und Normen für sich selbst zum Leben. Denn unabhängig vom eigenständigen Werten erfährt die einzelne Person gegebene Standards nicht als deren eigene Werte. Sie macht sie – freilich nur für sich selbst – lebendig. Gleichzeitig erstellt sie (bewusst oder unbewusst) eine Rangfolge derjenigen Werte und Normen, die ihr wichtig sind: z.B. Frieden, Harmonie und Gerechtigkeit stellt sie – für sich selbst – an oberste Stelle, weil ihr das für Gesellschaft, Familie und Staat besonders wichtig ist. - 3.
Der
Wertungsakt (in der Einheit von gewertetem Objekt und wertendem Subjekt) ist ein Wertschöpfungsakt. Er erhält intersubjektive Allgemeingültigkeit, wenn andere sich von dieser Wertung und deren Argumenten überzeugen lassen: wenn auch sie meinen, dass z.B. eine jeweilige → Gesellschaft
friedlich, eine jeweilige Familie harmonisch und ein jeweiliger Staat gerecht ist oder sein sollte.
Aufgabe ethischer Bildung entsprechend diesem Modell ist es, Schülerinnen und Schüler zum Werten zu animieren. Sie sollen durch eigenständige Wertung die Werte lernen. Dazu müssen ihnen besonders Werte als Bewertungsmaßstäbe nahe gebracht werden.
3. Christliche Modelle und Methoden Ethischer Bildung
Auch im Bereich Religiöser Ethischer Bildung gibt es unterschiedliche Modelle, von denen vier dargestellt werden sollen.
3.1. Weitergabe göttlicher Werte und Normen (neuscholastisches Modell)
Das katholisch-neuscholastische Modell "Weitergabe göttlicher Werte und Normen" aus den 1920/30er Jahren, entwickelt von F. W. Förster (besonders Förster, 1918), basiert – wie das säkulare Vermittlungsmodell – auf einer metaphysisch-materialen Wert-Ethik: Normen und Werte seien in Gott gegründete Seins- und Handlungsvorgaben ( Agere sequitur esse): Das Handeln folgt dem von Gott geschaffenen Sein der Werte und Normen. Damit steht für alle Zeiten fest, was z.B. eine Familie ist, also müsse man entsprechend handeln, um eine Familie zu gründen. Oder: Seinsmäßig stehe fest, was z.B. Glück, Gerechtigkeit, Toleranz usw. bedeute, also müsse man entsprechend handeln, um glücklich, gerecht und tolerant zu sein.
Solche theologische Seinslehre wird außerhalb des römisch-katholischen Lehramtes heute weitgehend abgelehnt, da Werte als Kulturprodukte begriffen werden.
3.2. Ethik und Moral allein aus Glauben (klassisches lutherisches Modell)
Das protestantisch-lutherische Modell "Ethik und Moral allein aus Glauben" setzt Glaube an eine göttliche Kraft und einen göttlichen Geist zum Tun des Guten voraus. Solcher Glaube erwächst nach Luther aus einem Gewissensprozess in fünf Phasen (Mokrosch, 1996, 284-297):
- 1. Der Christ erlebt angesichts der moralisch-christlichen Anforderungen an ihn (10 Gebote, Bergpredigt) seine Ohnmacht und Unfähigkeit.
- 2.
Er quält sich mit seinem geknechteten, bösen → Gewissen
. - 3.
Er bittet um Gottes Hilfe (→ Gott
) und empfindet – durch den Zuspruch eines Mitmenschen – Rechtfertigung und Trost in seinem getrösteten Gewissen. - 4. Er fühlt sich befreit, befriedet und beruhigt.
- 5. Er kann neu versuchen, die an ihn gestellten Forderungen der 10 Gebote, der Bergpredigt und der Nächstenliebe zu erfüllen – mit Gottes Hilfe.
Mit diesem Glauben an Gottes Hilfe, der aus Verzweiflung an sich selbst erwachsen ist, können Christinnen und Christen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten um gutes Handeln bemühen.
Ethische Bildung setzt also Glaubensbildung voraus. Da letztere nur persönlich erfahren werden kann, ist Ethische Bildung im protestantisch-lutherischen Sinn nur als persönliche, ja seelsorgliche Begleitung möglich und kann am Lernort Schule nicht vermittelt werden.
3.3. Entstehung religiöser Werte aus religiöser Wertung (Wertungsmodell)
Das Modell einer "Entstehung religiöser Werte aus religiöser Wertung" (Mokrosch, 2013, 46-53) geht davon aus, dass kein religiöser Wert metaphysisch vorgegeben ist, sondern aus den Wertungsakten der Gläubigen hervorgeht. Wenn ein gläubiger Mensch ein Objekt, einen Vorgang oder eine Erfahrung religiös deutet, dann erhalten diese eine religiöse Werthaftigkeit. Wer z.B. Natur als →
Schöpfung
Es entsteht die Frage, ob Schöpfung etwas anderes als Natur, Schöpfungsbewahrung etwas anderes als Naturschutz, Gottebenbildlichkeit etwas anderes als Menschenwürde und →
Erlösung
3.4. Ethischer Pluralismus in der Nachfolge Jesu (Modell im Anschluss an D. Bonhoeffer)
Ich habe im Anschluss an Dietrich Bonhoeffers Ethik (1939-1943), die dem Prinzip der Nachfolge Jesu folgt, ein religionspädagogisches Konzept Ethischer Bildung im heutigen Pluralismus (→
Pluralisierung
Grundlegend für Bonhoeffers Ethik sind folgende Forderungen: Wie Jesus müssten auch Christinnen und Christen staatliche Gesetze, wenn sie denn unmenschlich sind, durchbrechen (Bonhoeffer, 1992, 125-136;289-299). Sie müssten wie Jesus bereit sein, schuldlos schuldig zu werden und bei Übertretung unmenschlicher Gesetze Strafe zu erleiden (Bonhoeffer, 1992, 275-289). Sie müssten wie Jesus Widerstand gegen Unmenschlichkeit leisten, stellvertretend für diejenigen, die zu feige dafür sind (Bonhoeffer, 1992, 256-258). Sie müssten, weil Jesus Kinder selig gesprochen habe, bereit sein, „mit dem Gewissen eines Kindes“ und nicht mit einem prinzipienorientierten kantischen Gewissen ethisch und moralisch zu handeln (Bonhoeffer, 1992, 276-283). Sie müssten wie Jesus, der auf die unmenschliche Situation, nicht aber auf die gerade herrschende Massenmoral seiner Zeit achtete, allein auf die Situation, z.B. der Entrechteten, und nicht auf, z.B. kantische, ethische Prinzipien achten (Bonhoeffer, 1992, 372-381). Und sie sollten wie Jesus, der allein auf Wort und Weisung seines Vaters gehört habe, allein auf Gottes Wort und nicht auf staatliche Weisungen und Worte hören (Bonhoeffer, 1992, 329-333;381-391).
Diese Nachfolge-Ethik ist heute hoch aktuell für christliche Ethische Bildung im Pluralismus. Universale, situations- und zeitübergreifende ethische Prinzipien sind heute nicht mehr möglich (Conrad, 2008). Ethische Standpunkte, Entscheidungen und Handlungen sind im ethischen Pluralismus an Situationen, Kontexte und Personen gebunden. Sie sind subjektiv. Eine objektiv gültige Vorstellung vom Guten gibt es nicht mehr (Herms, 1999, 1623). Außerdem herrschen nicht nur in verschiedenen Situationen, sondern auch in verschiedenen Lebensbereichen je verschiedene Einstellungen vor: Wirtschaft, Politik, Gesundheit, Familie, Freundeskreis, Bildungsinstitutionen u.a. haben ihre je eigene (Berufs-)Ethik. Walzer unterscheidet elf Bereichssphären (Walzer, 2006). Christliche ethische Bildung muss heute im Pluralismus bestehen.
Genau dieser Herausforderung wird Bonhoeffers Ethik gerecht. Sie kann zwar in den konkreten Inhalten nicht als direkte Vorlage für religionspädagogische Ethische Bildung dienen, aber die Intentionen Bonhoeffers sind m.E. religionspädagogisch fruchtbar. Grundlage Ethischer Bildung wäre demnach ein Einblick in Glaube und Wirken Jesu Christi, besonders in die damalige Auslegung jüdischer Gesetze. Danach sollte Schülerinnen und Schülern bewusst gemacht werden, dass es zu fast allen anstehenden ethischen Fragen plurale Standpunkte gibt, die zu einem eigenen Standpunkt herausfordern: zu den Fragen militärischer Intervention, der Sterbehilfe, des Schwangerschaftsabbruchs, der Ehe zwischen homosexuellen Menschen usw. Anschließend können Beispiele erarbeitet werden, wie Christinnen und Christen und Nicht-Christinnen und Nicht-Christen – nicht zuletzt Bonhoeffer selbst – in Vergangenheit und Gegenwart unmenschliche Gesetze durchbrochen haben, dabei schuldlos schuldig geworden sind, stellvertretend für die Masse Widerstand gegen Unmenschlichkeit geleistet haben, mit einfachem Gewissen sich für die Opfer einsetzten und sich nicht an geltende Gesetze und Prinzipien hielten.
4. Ausblick: Ist Ethische Bildung und Erziehung in der pluralen Gesellschaft möglich?
Jedes der referierten säkularen und christlich-religiösen Modelle geht von der prinzipiellen Bildbarkeit und von der Möglichkeit einer Realisierung des Guten aus, erkennt aber auch Grenzen der Ethischen Bildung und Erziehung. Einflüsse der heutigen Gesellschaft mit ihrer pluralen Verfasstheit, aber auch Devianzen in der persönlichen Entwicklung von Schülerinnen und Schülern können Ethische Bildung erschweren oder gar verunmöglichen. Es gibt ja nicht nur eine Entwicklung, Förderung, Klärung und Bildung des moralischen, sondern auch des unmoralischen Urteils. Oft fehlt es an einem Rechts- und Unrechtsbewusstsein, an einem Wahrheits- und Unwahrheitsinteresse, an einem Schuld- und Unschuldsempfinden und an Gewissenssensibilität. Deshalb müssen bei Ethischer Bildung auch gesellschaftliche und persönliche Fehlentwicklungen, Triebstrukturen, globale Störfaktoren und verwirrende plurale Standpunkte mit berücksichtigt werden.
Ethische Bildung und Erziehung müssen immer wieder neu versucht und neu erarbeitet werden in der Überzeugung, dass sie trotz situativer Schwierigkeiten eine prinzipiell realistische Chance haben.
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