Deutsche Bibelgesellschaft

Individuum/Individualität

(erstellt: Februar 2017)

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Das Individuum wird im Grundgesetz mit unantastbarer Würde (Art. 1 GG), mit dem Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 GG), auf Glaubens- und Meinungsfreiheit (Art. 4 und 5 GG) sowie auf Privatheit (Art. 10 und 13 GG) geschützt. Diesen Status hat es als Person, ein Titel, der ihm nicht als einem besonders durchsetzungsfähigen Naturwesen, sondern als einem vernunft- und sprachfähigen Mitglied der menschlichen Gesellschaft zukommt. Individualität hängt nicht davon ab, ob sie von anderen zugeschrieben wird, aber sie besteht in der Anerkennung anderer und durch andere.

1. Individualität aus soziologischer Sicht

1.1. Möglichkeitszuwachs

Individualisierung meint erstens die Freisetzung des einzelnen Menschen aus Herkunftsabhängigkeit, z.B. ständisch geprägten Schichten oder Familienbanden. Im 20. Jahrhundert hat sich der Anteil der Einpersonenhaushalte von 8 % auf 36 % aller Privathaushalte gesteigert (Hradil, 1995, 19). Viele Grundvollzüge der Lebensführung – wie Berufs-, Orts- und Partnerwahl – werden zu entscheidbaren Variablen. Die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung bringt den einzelnen ein Mehr an individuellen Möglichkeiten, aber auch den Zwang zur Flexibilität. In der Moderne besitzt jedes Individuum rechtlich dieselben Bildungs-, Berufs- und Konsumchancen. Jeder kann sich eine Yacht kaufen. Dass derartige Aussichten ökonomisch als unwahrscheinlich, aber dennoch als möglich gesehen werden, motiviert Menschen dazu, individuell zu streben. Man soll lebenslang durch Weiterbildung, durch Fitnessübungen, durch Selbstkritik an sich arbeiten. Die Werbung stabilisiert diese Entwicklung durch Reizung des Selbstbewusstseins der einzelnen, sei es durch eine Leistungs-Individualität („Entdeck’, was in dir steckt“), sei es durch Anspruchs-Individualität („Man gönnt sich ja sonst nichts“). Einzelne erwarten viel für sich und von sich, weil sie wissen, dass auch die anderen viel von ihnen erwarten.

1.2.Verantwortungszuwachs

Je mehr Möglichkeiten es gibt, desto deutlicher werden dem Individuum die versäumten. Der kalte Hauch des Zufälligen umweht jedes Selbstbewusstsein und muss irgendwie verarbeitet werden. Die Kehrseite der Wahlfreiheit (→ Freiheit) ist die Zunahme des Fehlerrisikos und eine Verunsicherung der Lebensläufe. Man kann den falschen Beruf, die falsche Kapitalanlage, den falschen Partner wählen. Daher werden Entscheidungen möglichst so gefällt, dass sie korrigierbar sind. Bindungen gelten daher vor allem als Selbstbindung des Individuums; Fremdverpflichtungen gelten, wenn sie individuell akzeptiert sind, ansonsten lassen sie sich als Zwang zurückweisen. Diese Autonomie wird mit einer Zunahme an Haftungsverantwortung bezahlt, weil eigenes Unglück nicht als Schicksal, sondern als Fehler wahrgenommen wird, für den jemand verantwortlich ist. Darin liegt die Herausforderung der Individualitätskultur: Wie kann ich etwas annehmen, das ich so nicht gewählt hätte.

Dem Individuum gilt sein Leben dann als gelungen, wenn sich alle Zustände – waren sie erfolglos oder erfolgreich – als Phasen einer zusammenhängenden, möglichst sich steigernden Biographie, Karriere, darstellen lassen. Während soziale Anerkennung im Beruf am Engagement und Erfolg hängt, kann im Privatbereich auch dann noch Anerkennung erwartet werden (Treue, Liebe, Vertrauen), wenn keine symmetrische Leistungserfüllung erfolgt (van der Loo/van Reijen, 1997, 206). Privatsphäre besteht daher nicht aus der Beschäftigung des Individuums mit sich selbst, sondern aus überschaubaren lebensbegleitenden Gemeinschaften wie Freundschaft oder Verwandtschaft, wo die vitalen Probleme der Individuen im Mittelpunkt stehen (Familie, Selbstverwirklichung, Gesundheit, Tod) (Luckmann, 1991, 132-158).

1.3.Individuelle Religiosität?

Die eigene Religiosität muss angesichts der Alternativen (in Deutschland v.a. Areligiosität) zunehmend als zufällig erscheinen (→ Säkularisierung; → Pluralisierung). Bisher blieben die Retentionsraten hoch: 85 % der im Westen christlich Erzogenen sind noch christlich (ca. 50 % im Osten), ca. 95 % der konfessionslos Erzogenen sind in der Konfessionslosigkeit geblieben (Ost und West) (Pollack/Rosta, 2015, 163).

Dass die einzelnen sich angesichts des breiteren Religionsangebots ihre eigene Religion außerhalb der etablierten Kirchen basteln, war eine Vermutung der Soziologen, die sich nie bestätigt hat. Heute macht der Anteil der esoterisch und fernöstlich Glaubenden nur 2-3 % aus. Jedoch gehen die Gläubigen innerhalb der Religionen zu verbindlichen Glaubensgebilden auf Distanz und erlauben sich Teilidentifikationen. Individualisierung findet also weniger auf der Ebene der Mitgliedschaft, sondern auf Praxisebene statt. Die Abweichungen der Katholiken von der kirchlichen Moral sind seit langem bekannt. Gingen 1952 noch ca. 50 % der Westkatholiken regelmäßig zum Gottesdienst, waren es 2012 noch 23 % (Protestanten von 13 % zu 8 %) (ebd., 121;333). Zudem werden auf der Ebene der Überzeugungen die Gottesvorstellungen unbestimmter: Immer weniger glauben an einen personalen Gott, immer mehr an eine höhere Macht. Von allen christlichen Inhalten ist der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tode der verbreitetste und stabilste (ca. 45 % in Westdeutschland). Ähnlich verhält es sich mit den Engeln. Beide Inhalte hängen eng mit Individualität zusammen: Das Jenseits wird als Verlängerung der eigenen Biographie erhofft, die Engel als ganz persönlicher Schutz. Individualisierung führt in Deutschland also weniger in andere Religionen, sondern dazu, kirchliche Lehren der eigenen Präferenz zu unterwerfen. Ein religiöses Angebot, das auf die eigene Biographie zuzutreffen scheint, ist attraktiver als ein Angebot, welches allgemeine Aussagen über den Zustand der Menschheit macht.

2.Individualität aus theologischer Sicht

Religion ist aber nicht das Opfer von Individualisierung, sie ist ein Grund ihrer Entstehung. Dazu muss man in die Antike zurückblicken.

2.1. Historisch

In der klassischen Metaphysik gilt der Grundsatz: Was man am anderen begreift, begreift man nur mittels allgemeiner Formen, das Individuelle bleibt unaussagbar (individuum est ineffabile). Nur wenn sich ein Wesen typisieren lasse, könne man es identifizieren, das Einzigartige eines einzelnen Wesens lasse sich nicht abstrakt verstehen. Die antike und mittelalterliche Philosophie hat einen dumpfen materiellen Urstoff für die Vereinzelung verantwortlich gehalten: materia principium individuationis. Wenn antike Philosophie empfiehlt, sich selbst zu erkennen, geht es nicht um Individualität im heutigen Sinne. Der Mensch weiß sich in kosmische und moralische Grundsätze eingebunden. Für das Individuum gibt es neben seiner Rolle innerhalb des Fatums keine extra Pläne. Ein anschauliches Beispiel hierfür lieferte der stoische Philosoph und römische Kaiser Marcus Aurelius mit seinen „Selbstbetrachtungen“, in denen das eigene Ich als hinfälliges Menschlein erscheint, den Leidenschaften seiner selbst und anderer ausgeliefert. Ziel seien der Gleichmut (aequanimitas) angesichts des eigenen Lebens und der Gleichklang mit dem unabänderlichen, universalen Gesetz des Zeus.

Im Gegensatz dazu liegt mit Augustinus spätantiken „Bekenntnissen“ die erste voll entfaltete Autobiographie vor (Misch, 1950, 645). Augustinus setzt bei einer negativen Identität des Individuums an, indem er den Gedanken der Erbsünde entfaltet. Die stoische und neuplatonische Philosophie waren davon ausgegangen, dass jeder Mensch sich bei genügend Disziplin sittlich und theoretisch selbst kontrollieren könne. Bei Augustinus erscheint das unmöglich. Seit dem ersten Menschen wohne allen eine Tendenz inne, sich selbst zu gefallen. Damit kehre sich der ursprüngliche Sinn der Schöpfung um: Anstatt Gott zu loben, will sie sich selbst durch soziale Anerkennung, durch Besitz, durch Stolz auf eigene Leistungen erhöhen. Weil aber alle Kreaturen aus Nichts geschaffen wurden, ist auch das „selbst” eigentlich nichts und die Selbstliebe nichtig (Augustinus, Vom Gottesstaat, 14,13). Augustinus sieht in der superbia, der Selbstbezüglichkeit, die Keimzelle aller anderen Sünden. Nur wer Gott anhange, komme zu sich selbst (Augustinus, Bekenntnisse, 7,11). Nur das religiös aufgeklärte – seine Erbsünde anerkennende – Individuum weiß, dass es nicht weiß, was es nicht weiß! Diese Unsicherheit ist der Grund für die existentielle Unruhe (ebd., 1,1; 4,4; 4,10; 13,37) und der Anlass verstärkter Selbstbeobachtung. Ich weiß, dass Gott meine Seele kennt, aber ich weiß nicht, in welchem Zustand ich mich befinde.

2.2. Systematisch

Von nun an wird das Konzept der → Seele im Christentum zu einer Art enteigneter Individualität: Sie entgrenzt den Menschen, weil er durch seine Seele mehr ist, als er ist. Sie überlebt nicht nur den Körper, sie bildet auch die Adresse für Gott, der einen Menschen nach der „Schönheit“ seiner Seele beurteilt und nicht nach äußerlicher Gestalt oder Intelligenz. Während gnostische Traditionen eine Verschmelzung der Seele mit Gott erhoffen, hält die kirchliche Tradition an der Endlichkeit und der Geschaffenheit der Seele fest. Demnach entstammt sie nicht einer allgemeinen Geistsubstanz, sondern wird für jeden Menschen extra geschaffen. Christlich gesehen bildet die Seele die eindeutige Zurechenbarkeit des Gläubigen vor Gott und ist gleichbedeutend mit der Individualität des Gläubigen.

Von einem Individuum kann man erst sprechen, wenn sich ein Wesen mit sich selbst identifizieren und von anderem distanzieren kann. Das leuchtet unmittelbar ein, weil wir mit niemand sprechen können, der unfähig ist, zwischen sich und den anderen zu unterscheiden. Bei diesem vermuten wir, er befinde sich in einem Rausch, wo Ich und Umwelt verschwimmen, oder er leide an Schizophrenie, die das Ich zerfallen lässt. Für die Individualität muss das Vermögen hinzukommen, die Unterscheidung von Selbstidentifikation und Fremddistanzierung noch einmal zu relativieren. Erst mit diesem Schritt bietet sich die Möglichkeit, diese Unterscheidung auch anders zu treffen: Selbstdistanzierung („Ich könnte ganz anders sein!”) und Fremdidentifikation („Die anderen könnten wissen, was ich denke!” bzw. „Ich kann mich in den anderen einfühlen!“). Ein Individuum kann sich selbst „wie von außen“ anblicken und vergleichen (→ Anthropologie).

All diese Vorgänge bleiben im Bannkreis der eigenen Reflexion und beginnen in der ersten Person Singular. So entsteht der Zweifel, ob die Vorstellungen von sich und von den anderen nur selbstgemachte Einbildungen sind („Ich denke mich!“). Die Religion versucht, diese Endlos-Schleife durch die Entgegensetzung von Seele und Gott zu durchbrechen (Simmel, 1995, 104-118; Luhmann, 1997, 305-319). Beide stehen in einem extrem asymmetrischen Verhältnis: die Seele als instabiles, sündiges Wesen, Gott als ihr allmächtiger Erschaffer und Richter. Vor ihm kann die unstete Seele als eine ganze erscheinen. Nicht das Ringen des Geistes mit dem Körper (→ Leib), sondern die Beziehung der Seele zu ihrem Schöpfer und Richter bildet so den letzten Referenzrahmen im Christentum.

3. Individualität aus entwicklungspsychologischer Sicht

Ein Neugeborenes besitzt noch kein Verständnis eines Selbst, gesunde Erwachsene hingegen referieren sinnvoll auf die eigene Person als Selbst und erleben sich selbst als ein eigenständiges, von anderen Dingen und Personen unterschiedliches und mit sich selbst über die Zeit identisches und kohärentes Individuum. Diese Art der menschlichen Selbstwahrnehmung und selbstbezogenen Emotionalität unterliegt also einem Entwicklungsprozess (→ Entwicklungspsychologie; → Identität, religiöse).

3.1. Säuglingsphase

Ab der Geburt besteht die Fähigkeit zur Wahrnehmung des eigenen Körpers in der Form einer impliziten Vorstellung über die Lage ihrer einzelnen Körperteile zueinander. Dies ermöglicht es z.B., die Hand zum Mund zu führen. Außerdem können Säuglinge angenehme von unangenehmen Erlebenszuständen unterscheiden. Diese Eigenschaften und Fähigkeiten bilden die Grundlage für den Aufbau von Erinnerungen und somit für die Lernfähigkeit: Angenehme Erlebenszustände werden angestrebt und unangenehme vermieden (Panksepp/Biven, 2007, 11). Darüber hinaus besitzen Menschen eine biologische Prädisposition zu sozialer Interaktion, weswegen Säuglinge sich gezielt anderen Menschen, insbesondere Bezugspersonen zuwenden. Hierbei entwickelt sich bis zu einem Alter von ca. 2-9 Monaten die stabile Erfahrung, dass sie und andere Personen unterschiedliche Akteure sind. Säuglinge nehmen wahr, dass mit anderen Interaktion möglich ist, ohne mit diesen zu verschmelzen und dass es unter diesen anderen Akteuren eindeutige und wiedererkennbare Personen gibt (Personpermanenz). Mit diesem Lernschritt führt der Kontakt zu unbekannten Personen vorübergehend zum Angsterleben und zur Bevorzugung der bekannten Personen (sog. Fremdeln). Mit diesen werden von kindlicher Seite aus Interaktionen, z.B. kleine Bewegungsspiele wie das abwechselnde Herausstrecken der Zunge, initiiert. Hiermit erlebt ein Säugling, dass andere Personen andere Handlungswünsche, Gefühle und Ziele haben können als er selbst. Der erste Kern zur Perspektivenübernahme ist bereits in der Zeit um den ersten Geburtstag des Kindes gelegt (Bell, 1970, 291-311).

3.2. Kleinkindphase

Auf Basis des eigenen Wirksamkeits- und Kontrollerlebens und in Abgrenzung zu Bezugspersonen entwickeln Kleinkinder zwischen dem 15. und 22. Lebensmonat ein erstes Selbstbild: Sie beziehen sich verbal auf sich selbst mit „ich“, erkennen sich selbst im Spiegel, zeigen Scham, Verlegenheit und Schüchternheit und betrachten Bilder von sich selbst sowie von Personen mit demselben Geschlecht und von Kindern in ihrem eigenen Alter länger als Bilder anderer Personen. Vom 18.-30. Lebensmonat erfährt die kindliche Sprachentwicklung einen deutlichen Fortschritt auf allen Ebenen, so werden Wortschatz sowie Syntax und Pragmatik kontinuierlich ausdifferenziert. Das Kind spricht zunehmend von und über sich. Es beginnt, erste erzählerische Darstellungen der eigenen Handlungen, Gefühle und Ziele zu formulieren und Ereignisse sprachlich nachzubereiten (narratives Selbstempfinden) (McAdams, 2008, 242-262). Im Kindergartenalter schreiben Kinder sich selbst konkrete Attribute zu wie Eigenschaften (z.B. blond), Fähigkeiten (z.B. schnell rennen können), Rollen (z.B. Anführer sein) und auch Gefühle (z.B. glücklich). Diese Beschreibungen stehen noch relativ unverbunden und gegebenenfalls auch widersprüchlich nebeneinander und können noch nicht zu einem kohärenten Selbstbild verknüpft werden. Erste generelle Selbstbewertungen finden sich ab dem Grundschulalter. Da aber die emotionale Entwicklung im beginnenden Grundschulalter in der Regel noch keine Integration von zeitgleich auftretenden widersprüchlichen Emotionen im Selbsterleben zulässt und zwischen eigenem Wunsch und aktueller Realität noch nicht zuverlässig unterschieden werden kann, fallen die Selbstbewertungen positiv überzeichnet aus.

3.3. Grundschulphase

Im Verlauf des Grundschulalters ist das Kind zunehmend in der Lage, positive wie negative Selbstbewertungen vorzunehmen und diese zu gewichten. Gegen Ende des Grundschulalters sind Kinder zunehmend in der Lage, sich aufgrund ihrer an sich selbst wahrgenommenen Eigenschaften und Wertzuschreibungen als verschieden zu anderen Menschen wahrzunehmen und darzustellen. Die Darstellung der eigenen Individualität erfolgt hierbei narrativ (Asendorpf/van Aken, 1993, 64-86) über das Zusammenstellen sinnvoll miteinander verknüpfter Erinnerungen zu einzelnen als relevant empfundenen Lebensbezügen (Domänen) wie Religion, politische Anschauung, ethnische Zugehörigkeit, Geschlechterrolle. Im Grundschulalter gelten die Domänen schulischer Erfolg, Sport, Freundschaften/Peers und Eltern als besonders selbstwertrelevant. Im Jugendalter tritt die Anerkennung durch die Eltern eher in den Hintergrund, dafür wächst die Bedeutsamkeit der Domäne Attraktivität (ebd.). Eine Domäne kann auch einfach als Teil einer familiären oder kulturellen Tradition wahrgenommen werden, deren Ursprung und Zweck nicht rational nachvollzogen wird.

3.4. Jugendphase

Im Jugendalter werden die narrativ konstruierten Erlebensstränge aus den einzelnen Domänen zu einer sinnvollen, möglichst widerspruchsfreien Lebensgeschichte verknüpft (Habermas/Bluck, 2000, 748-769), die die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ als die Grundfrage nach der eigenen Identität nach Erikson (Erikson, 1994, 214f.) gibt. Mit dieser Frage steht die Sinnfrage „Wozu bin ich?“ unmittelbar in Verbindung. Die einzelnen Lebensbezüge und ihre Bewertung sind im Rahmen des Aufbaus einer eigenen persönlichen Lebensgeschichte im Jugendalter in besonderer Weise verhandelbar, insbesondere wenn die Frage „wozu?“ keine ausreichend emotional zufriedenstellende Antwort erhalten hat. Gerade im Verlauf dieser narrativen Identitätskonstruktion werden daher Bezugsgruppen, Bezugspersonen (Vorbilder) und die von ihnen vermittelten Werte und Normen in besonderer Weise von dem Jugendlichen auf den Prüfstand gestellt und ggf. auch als „überholt“ aussortiert. In dieser Phase werden gezielt neue Lebensbezüge aufgesucht und getestet, ob sie identitätsstiftend wirken (Marcia, 1993, 22-41).

3.5. Erwachsenenphase

Ist die Identitätskonstruktion im Jugendalter gelungen, so wird diese Thematik im jungen und mittleren Erwachsenenalter in der Regel so lange nicht weiter verhandelt, wie es keine krisenhaften Ereignisse gibt, die die Selbstwahrnehmung infrage stellen. Im weiteren Lebensverlauf werden Identitätsfragen typischer Weise noch zwei Mal betrachtet. Einerseits nach ca. 2/3 des Berufslebens, wenn die eigene Elterngeneration gebrechlich wird und die eigene Kindergeneration den Haushalt verlässt. Zu diesem Zeitpunkt beginnen einige Erwachsene noch einmal ganz neue, als sinnstiftend empfundene Lebensprojekte. Ein weiteres Mal werden gegen Ende des Lebens Identitätsfragen im Sinne einer bilanzierenden Lebensrückschau betrachtet.

3.6. Individualität und Pluralitätsfähigkeit

Pluralitätsfähigkeit entsteht durch den Übergang von Pluralität als ungeordneter Vielfalt zu Pluralismus als einer geordneten Form des Umgangs mit Vielfalt (Kuld u.a., 2009, 206). Die Fähigkeit, geordnet mit religiöser oder weltanschaulicher Vielfalt umzugehen, hängt an der Bereitschaft zur Perspektivenübernahme und zur Wertschätzung anderer Menschen als Personen (s.o.) (→ Perspektivenwechsel). Sie soll nicht einfach vorausgesetzt werden, sondern kann durch den Erwerb fundierten Wissens über die eigene wie auch andere Religionen und Weltanschauungen gefördert werden. Wer Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellt, wird eine klarere Urteilsfähigkeit erlangen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten und stehen zu lassen (Ambiguitätstoleranz). Schüler und Schülerinnen sehen, dass andere nicht nur an andere Götter glauben, sondern anders glauben oder gar nicht glauben oder nur rituell handeln. Im besten Fall lernen Schüler und Schülerinnen, den religiösen Ernst unterschiedlicher Gläubiger zu schätzen, und verstehen, dass ähnliche Probleme in anderen Religionen anders entfaltet und gelöst werden. Faire Vergleiche ziehen zu können ist eine wichtige Fähigkeit in einer Gesellschaft, die nicht mehr nur christlich und nicht-christlich kennt, sondern in der eine Vielfalt von Religionen auf nicht-religiöse Zeitgenossen trifft. Letztlich zielt eine Erziehung zur Pluralität auf religiöse Dialogfähigkeit ab, welche sich in Konfliktsituationen bewährt (Kirchenamt der EKD, 2014).

Toleranz ist nicht Indifferenz: Wo Überzeugungen als austauschbare Meinungen kommuniziert werden, lassen sie sich leichter missachten. Positiv gewendet: Nur wo jemand weiß, was eine Überzeugung ist und warum sie für wertvoll zu halten ist, wird er/sie die anderen achten. Ein klares religiös-weltanschauliches Zugehörigkeitsgefühl, eine Identifikation mit eigenen Traditionen, Werten und Glaubensinhalten bildet daher eine Voraussetzung für interreligiöse Dialogfähigkeit. Ohne Commitment (Hingabe) zu einem Lebensbereich kann ein Individuum zwar Pluralität leicht zulassen, sich aber kaum zu einem religiösen Dialog motivieren, welcher eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe bedeutet. Umgekehrt fällt die Ambiguitätstoleranz umso schwerer, je stärker ein Commitment von Überlegenheitsstolz oder von Unterlegenheitsangst getrieben ist. Die Infragestellung der eigenen Überzeugungen wird dann als Angriff auf die eigene Identität erfahren. Spannungen auszuhalten basiert auf dem Selbstbewusstsein, eine klare identitätsstiftende Position einnehmen und gleichzeitig seinem Gegenüber eine andere Überzeugung zugestehen zu können, weil es dessen eigene ist (→ interreligiöse Kompetenz).

Literaturverzeichnis

  • Asendorpf, Jens/van Aken, Marcel, Deutsche Version der Selbstkonzeptskalen von Harter, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie (1993) 1, 64-86.
  • Augustinus, Vom Gottesstaat, 14,13.
  • Augustinus, Bekenntnisse, 1,1; 4,4; 4,10; 7,11; 13,37.
  • Bell, Silvia M., The Development of the Concept of Object as Related to Infant-Mother Attachment, in: Child Development 41 (1970) 2, 291-311.
  • Erikson, Erik H., Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, Frankfurt a. M. 14. Aufl. 1994, 214f.
  • Habermas, Tilmann/Bluck, Susan, Getting a Life: Emergence of the Life Story in Adolescence, in: Psychological Bulletin 126 (2000) 5, 748-769.
  • Hradil, Stefan, Die Single-Gesellschaft, München 1995.
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  • Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 1991.
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  • Misch, Georg, Geschichte der Autobiographie. Bd. 1/2: Das Altertum, Frankfurt a. M. 1950.
  • Pollack, Detlef/Rosta, Gergely, Religion in der Moderne, Frankfurt a. M./New York 2015.
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  • Simmel, Georg, Die Religion, in: Behr, Michael/Krech, Volkhard/Schmid, Gert (Hg.), Simmel-Gesamtausgabe, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1995, 39-118.
  • van der Loo, Hans/van Reijen, Willem, Modernisierung. Projekt und Paradox, München 2. Aufl. 1997.
  • van Dülmen, Richard (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2001.

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