Koedukation
(erstellt: Februar 2020)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Koedukation.200380
1. Formen und Erwartungen
Vom Begriff her bezeichnet Koedukation (lat. con = zusammen, educere = wörtlich herausführen, übertragen erziehen) die bewusste gemeinsame Erziehung von Mädchen und Jungen und zwar in Abgrenzung zur Koinstruktion, also der bloß gemeinsamen Unterrichtung der beiden Geschlechter (Faulstich-Wieland, 2010, 326). Neben den aktuell vorherrschenden koedukativen Schul- und Unterrichtsformen findet im heutigen Schulsystem auch Monoedukation statt und zwar in zwei unterschiedlichen Varianten: 1. als monoedukative Schule in Vollversion (Single-Sex Schulen) sowie 2. als partielle Monoedukation, das heißt als nach Klassen, Fächern, Themen, Projekten, … zeitweise oder auf Dauer nach Geschlechtern getrennter Unterricht (Budde/Kansteiner/Bossen, 2016, 29). Schulische Geschlechtertrennung lässt sich demnach unterschiedlich realisieren, wobei mit den verschiedenen Organisationsformen auch unterschiedliche Erwartungen verbunden sein können (Kampshoff, 2012, 444): Als didaktisches Prinzip wird Geschlechtertrennung z.B. in ausgewählten Fächern eingesetzt, um Mädchen oder Jungen speziell zu fördern und/oder ihre als unterschiedlich angenommenen Interessen zu berücksichtigen. Oder es wird in einem von allen Klassenlehrerinnen und -lehrern gemeinsam ausgewählten Fach ein Halbjahr lang monoedukativer Unterricht erteilt, um den Schülerinnen und Schülern Erfahrungen in einer geschlechtshomogenen Lerngruppe zu ermöglichen (zur sogenannten „zufälligen methodischen Trennung“ Kreienbaum/Urbaniak, 2006, 147f.; zu weiteren Zielen aktueller monoedukativer Settings Kampshoff, 2012, 445).
In historischer Perspektive lassen sich nun – für den deutschsprachigen Raum – grob zwei Phasen der Diskussion rund um die mono- und/oder koedukative Beschulung von Mädchen und Jungen unterscheiden: die alte und die neue Koedukationsdebatte.
1. Mit dem pädagogischen 18. Jahrhundert beginnt eine breitere Debatte über weibliche Bildung (Schmid, 1996) und führte zur – das 19. Jahrhundert sowie die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bildungspolitisch bestimmenden – Diskussion, ob für Mädchen überhaupt eine höhere Bildung notwendig (oder nicht gar schädlich) sei bzw. welche Bildung denn mit dem Wesen und den Aufgaben einer Frau als Mutter, Gattin und Hausfrau vereinbar sei. Es ging um die Frage staatlich und rechtlich garantierter gleicher bzw. gleichwertiger Bildungsmöglichkeiten für beide Geschlechter. Orientierungsmarke der Diskussion war wie bei allen Berechtigungskämpfen des 19. Jahrhunderts im höheren Schulwesen (insbesondere nach 1860) das ausgesprochen starke Abitur-Privileg des humanistischen Gymnasiums und damit der Hochschulzugang mit den mit ihm verbundenen Berufsmöglichkeiten (Hopf, 2014, 326). In Bezug auf die formale Organisationsform von (höherer) Bildung forcierte der damalige gesellschaftspolitische wie pädagogische Diskurs, so (höhere) Bildung für Mädchen überhaupt befürwortet wurde, um des Schutzes und der Förderung des weiblichen Wesens willen die Monoedukation.
2. Nach der rechtlichen Gleichstellung von Mädchen und Jungen im Bildungssystem und der langsamen flächendeckenden Einführung der Koedukation in Westdeutschland im Laufe der 1960er-Jahre zeigte sich in den 1980er-Jahren, dass eine rein formal-organisatorisch gestaltete gemeinsame Beschulung von Mädchen und Jungen keineswegs dazu führt, dass beide Geschlechter ihre Bildungsmöglichkeiten in gleichem Ausmaß realisieren können.
- Standen in den 1980er-Jahren die Mädchen im Fokus der Aufmerksamkeit, insofern sie im stark männlich strukturierten Schulsystem und Unterrichtsalltag als benachteiligt angesehen wurden,
- fanden spätestens ab dem Jahr 2000 mit den Ergebnissen der internationalen Schulleistungstests die Jungen – vor allem in den Medien – als die neuen Bildungsverlierer Beachtung.
Bei der neuen Koedukationsdebatte stand jedoch weniger die koedukative Grundstruktur des öffentlichen Schulsystems per se zur Diskussion, eher wird über klassen- und jahrgangsweise oder auch fächer- und projektbezogene schulische Geschlechtertrennung nachgedacht und diese zum Teil auch realisiert. Jenseits des schulischen Kontextes erfuhr besonders die außerschulische Mädchen- und Jungenarbeit eine Stärkung.
2. Diskurse und Argumentationen
Der historische Verlauf der Koedukations- bzw. Monoedukationsdebatte und die darin – immer wieder neu – vorgebrachten Argumente machen deutlich, „dass die Entscheidungen über Schulformen und segregierte Lernumgebungen auf der Ebene gesellschaftlich-politischer Gesamtkonzepte und nicht auf der Basis gesicherter pädagogischer Erkenntnisse getroffen werden“ (Rendtorff, 2016, 87). So werden die je bezogenen Pro- und Contra-Positionen hinsichtlich der gemeinsamen oder getrennten Beschulung und Unterrichtung von Mädchen und Jungen stets auch davon beeinflusst, „wie man sich das Geschlechterverhältnis wünschte, welche Position man Frauen und Männern darin zubilligte.“ (Faulstich-Wieland, 2010, 326). Über die Frage nach einer dem Wesen (aktuell den Interessen) der Geschlechter angemessenen und gerecht werdenden Bildung und ihrer Institutionalisierung wird die Legitimation gesellschaftlicher Aufgabenteilung und Positionierung verhandelt. Auf dieser Basis identifizieren auch Walburga Hoff und Marianne Horstkemper zwei grundlegende Fragen, von deren Beantwortung die Meinung hinsichtlich der Ko- bzw. Monoedukation abhängt: „Ob in Auseinandersetzung mit neurobiologischen Konzepten oder mit normativen Behauptungen gottgewollter Unterschiede – immer wieder geht es um die Frage, ob Geschlecht eher als soziokulturelle oder biologische Kategorie zu betrachten ist und ob Geschlechterdifferenzen überhaupt aufgehoben werden können und sollten.“ (Hoff/Horstkemper, 2004, 349). Zu diesen benannten Fragen vertreten die verschiedenen historischen wie aktuellen Geschlechtertheorien und -konzeptionen (→ Gender
- Wird das sich seit der Aufklärung etabliert habende Konzept der polaren, komplementär aufeinander bezogenen Geschlechtscharaktere – männlich vs. weiblich: Kultur vs. Natur, Vernunft vs. Emotion, staatlich-öffentlich vs. familiär-privat – vertreten und demzufolge von einer naturgegebenen und in weiterer Folge schützenswerten Differenz der Geschlechter ausgegangen, wird zumeist eher eine getrennte Erziehung von Mädchen und Jungen forciert – als Schutzraum vor dem je anderen Geschlecht, zur Aufrechterhaltung der Sittlichkeit oder, aktueller, zur optimaleren didaktischen und curricularen Beachtung geschlechtertypischer Lernerfordernisse und -interessen. Allerdings sprachen sich gewisse differenztheoretische Positionen – z.B. im reformpädagogischen Bereich (Hansen-Schaberg, 1996) – durchaus auch für die Koedukation aus, von der sie sich gerade durch die Vergleichssituation, die das Nebeneinander der Geschlechter schafft, die Entfaltung der jeweiligen Eigenart der Geschlechter erwarteten. Auch kann die Einsicht in die keineswegs immer unparteiliche Finanzgebarung des Staates, sprich in realpolitische Erfordernisse, zu einem Wechsel der eigenen Positionierung führen: So forderte z.B. die deutsche Politikerin, Pädagogin und bürgerliche Frauenrechtlerin Helene Lange (1848-1930) zunächst aufgrund ihrer Konzeption von Geschlechterdifferenz ein eigenständiges und damit selbstverständlich monoedukatives Mädchenschulwesen, musste aber vor Beginn des Ersten Weltkrieges feststellen, dass die finanzielle Ausstattung des inzwischen staatlich normierten Mädchenschulwesens weit hinter der für die Knabenschulen zurückblieb und vertrat von da an – um die Qualität der Mädchenbildung sicherzustellen – die Koedukation.
In aktuellen Debatten wird der Topos des monoedukativen Schutz- und Förderungsraumes übernommen, dabei aber im „modernen Emanzipationsdiskurs“ verortet (Herwartz-Emden/Schurt/Waburg, 2010, 14): Vor allem Mädchen, so die Argumentation, können in monoedukativ geführten Schulen ihre je eigene – mal mehr mal weniger weiblich gedachte – Individualität ungestörter entwickeln, da sie von den geschlechterstereotypisierenden Effekten der Anwesenheit der Jungen als gegengeschlechtliche Vergleichsgruppe befreit sind. In dem Anliegen, für Mädchen relativ geschützte und eigenständige Entwicklungsbereiche zu sichern, sieht nun Jürgen Baumert (1992, 84) eine überraschende Allianz feministischer Pädagogik mit einer traditionellen, vornehmlich christlich geprägten Mädchenbildung. Unterschwellig finden sich aber in den vorgebrachten kritisch-emanzipatorischen Argumenten durchaus auch konservative Elemente, wenn z.B. angenommen wird, Mädchen seien qua Geschlecht im Unterricht weniger selbstbewusst und durchsetzungsfähig und könnten sich demnach erst in geschlechtergetrennten Situationen entfalten. Da in dieser Argumentation die angenommen Unterschiede zwischen den Geschlechtern die grundlegende Basis für die Trennung bilden, werden so auch traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit weitertradiert (Budde/Kansteiner/Bossen, 2016, 27f.).
- Pädagoginnen und Pädagogen, Schulpolitikerinnen und Schulpolitiker usw., welche von der grundlegenden Gleichheit der Geschlechter – vor aller Differenz – ausgehen, forderten in der historisch ersten Phase der Debatte rund um die gemeinsame oder getrennte Beschulung von Jungen und Mädchen im 19. wie im beginnenden 20. Jahrhundert eher die Koedukation. Von dieser erhofften sie sich Chancengerechtigkeit für die Geschlechter und einen Abschied von rigiden Geschlechterstereotypen. Nach der Einführung der Koedukation in den 1960er-Jahren wurde jedoch – u.a. durch die sich neu etablierende feministisch orientierte Schulforschung mit ihrem analytischen Blick auf Geschlecht als Struktur- und Machtkategorie – klar, dass eine rein formale Koinstruktion für das Erreichen von Geschlechtergerechtigkeit im Bildungsbereich zu kurz greift. Denn trotz formal-rechtlicher Gleichbehandlung von Mädchen und Jungen im Bildungssystem blieb die implizit androzentrische, also die das Männliche als Zentrum, Maßstab und Norm setzende Ausrichtung des Schulsystems auf organisatorischer, symbolischer, curricularer, didaktischer usw. Ebene bestehen und führte in der Konsequenz zu geschlechterstereotypisierenden Effekten der Bildungs- und Lehr/Lernprozesse. Aufgrund dieser Erkenntnisse propagierten dann manche Vertreterinnen und Vertreter der feministischen Gleichheitstheorie die Re-Etablierung monoedukativer Formen von Schule und Unterricht.
- Auch Vertreterinnen und Vertreter konstruktivistischer Gendertheorien treten sowohl für wie auch gegen Koedukation ein: Auf der einen Seite wird argumentiert, dass in monoedukativen Settings aufgrund der Abwesenheit der gegengeschlechtlichen Gruppe die Notwendigkeit, das eigene Geschlecht zu betonen, sinkt. Doing gender, also die Hervorbringung von Geschlecht in alltäglichen Interaktionen, kann damit zumindest in Phasen ausgesetzt werden und Räume eines undoing gender und einer innergeschlechtlichen Vielfältigkeit tun sich auf. Auf der anderen Seite wird z.B. unter Rekurs auf Raewyn Connell und ihre Forschungen zu verschiedenen Arten und Formen von Männlichkeiten eher davon ausgegangen, dass vor allem in Jungengruppen hegemoniale Männlichkeiten stark zum Tragen kommen und der Druck auf marginalisierte oder untergeordnete Männlichkeiten in monoedukativen Umgebungen zunimmt. Demgemäß wäre die Koedukation, zumindest für Jungen, zu bevorzugen (Kampshoff, 2012, 446).
Vor dem Hintergrund einer nach wie vor von einer „Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit“ (Hagemann-White, 1984, 81; 1988, 288; → Gender
3. Empirische Befunde
Aktuell kreist die Diskussion vor dem Hintergrund einer fast flächendeckenden koedukativen Schullandschaft um die Frage, ob nicht vielleicht doch monoedukativen Schul- und Unterrichtsformen der Vorzug zu geben sei, weil eventuell Mädchen und/oder Jungen aus dem gemeinsamen Unterricht je unterschiedliche Nachteile erwachsen. Berührt wird mit dieser Frage ein Grunddilemma aller Überlegungen zur Geschlechtergerechtigkeit in der Schule: „Lässt sich gleiche Bildung unter von Stereotypen und ungleichen Macht- und Gesellschaftsverhältnissen geprägten Bedingungen eher dadurch erreichen, dass man allen gemeinsam dasselbe Wissen und dieselben Bedingungen anbietet und versucht, vorurteilsfrei ,alle gleichʽ zu behandeln? Oder sollte man besser mögliche stereotype Einflüsse fernzuhalten versuchen, indem Mädchen und Jungen jeweils separat dasselbe Wissen angeboten bekommen?“ (Rendtorff, 2016, 87). Auskunft erhofft man sich diesbezüglich zum einen von empirisch generierten Erkenntnissen zu Geschlechterverhältnissen in koedukativen Schul- und Unterrichtsformen, zum anderen von Studien, welche die Effekte monoedukativer Schulen und monoedukativen Unterrichts in den Blick nehmen und sie gegebenenfalls mit koedukativen Schulformen vergleichen.
Exkurs
1. Koedukative Schul- und Unterrichtsformen: Befunde zur Koedukation liegen zahlreich vor (zu aktuellen Überblicken u.a. Kansteiner, 2015, 234-239; Rendtorff, 2016, 77-86), wobei ihr Fokus zumeist darauf gerichtet ist, welche Geschlechtergruppe im Schulsystem als benachteiligt bzw. bevorzugt angesehen werden kann. Im Folgenden werden darum aus den vielen Dimensionen, welche Studien zu Geschlechteraspekten im Kontext von koedukativer Schule in den Blick nehmen (u.a. Interaktionen und Prozesse der Geschlechterstereotypisierung, Fach-, Themen- und Kurswahlergebnisse, Selbstwertgefühl und Bildungsaspirationen, Lehrpläne und Inhalte, Lehr-Lernmedien, Sozialverhalten, Problemlöseverhalten), zwei Themen herausgegriffen, die speziell unter der Perspektive von Geschlechtergerechtigkeit immer wieder in Diskussion sind: die Frage der Beurteilung und die Entwicklung von Fähigkeitsselbstkonzepten.
1.1. Noten und Beurteilungen: Empirisch ist gesichert, dass Jungen bei gleichen Kompetenzen schlechtere Noten bekommen als Mädchen und deshalb seltener in höhere Bildungslaufbahnen einmünden (Hannover/Kessels, 2011; Helbig, 2015, 24). Dies kann auch als ein Hauptgrund für den geringeren Erfolg der Jungen hinsichtlich der erreichten Bildungszertifikate gesehen werden. Dabei sind die besseren Noten der Mädchen jedoch kein neues Phänomen: Mädchen erzielten am Anfang des 20. Jahrhunderts die besseren Noten und tun dies am Anfang des 21. Jahrhunderts immer noch, wobei sich der relative Abstand zwischen den Geschlechtern nicht verändert hat. Anzumerken ist hier eventuell, dass die schlechteren Noten der Jungen früher kaum problematisiert, sondern eher als „gesunde Faulheit“ interpretiert wurden (Helbig, 2015, 25). Neu ist allerdings, dass Mädchen ihre besseren Noten aufgrund von veränderten Geschlechtervorstellungen und wirtschaftlichen Umbrüchen inzwischen zunehmend auch in Bildungszertifikate und -abschlüsse umsetzen können (Helbig, 2015, 29; Rendtorff, 2016, 78).
Ziemlich eindeutig ist empirisch gesehen nun, dass die besseren Noten von Mädchen durch ihre höheren überfachlichen Kompetenzen erklärt werden können (Hannover/Kessels, 2011). Diese study skills oder auch non-cognitive skills (Selbstorganisation, Sozial- und Arbeitsverhalten, Lernmotivation, Selbstregulation und Selbstdisziplin usw.) wirken sich – als wichtige Voraussetzungen für die weitere Bildungs- und Berufsfähigkeit – positiv auf die Leistungsbewertung und damit letztlich auch auf die Übergangsempfehlungen aus (Hasselhorn/Gold, 2017, 451). Vielversprechend wäre es nun laut Bettina Hannover und Ursula Kessels (2011, 97), die differentielle schulische Entwicklung von Mädchen und Jungen im Kontext der Entwicklung und Erprobung ihrer geschlechtlichen Identität zu erforschen. So gibt es Indizien dafür, dass männliche, auch milieugebundene, Geschlechtervorstellungen dazu führen, dass Schüler Schule mit ihren Anforderungen als unmännlich (und damit weiblich) qualifizieren und in der Folge den Raum Schule dahingehend nutzen, ihre eigene Maskulinität durch geringes schulisches Engagement darzustellen (Hannover/Kessels, 2011, 101). In diesem Zusammenhang meint Barbara Rendtorff (2016, 83) dann auch, dass „weniger darüber spekuliert werden [sollte], ob es angemessen ist, wenn die Schule diese Kompetenzen [= study skills; rw] bei der Notengebung miteinbezieht, als vielmehr, warum es ihr nicht gelingt, diese auch bei den Jungen als ,jungengerechtʽ […] darzustellen und ihnen so den Weg zu ebnen, diese Fähigkeiten ebenfalls auszubauen.“ (Rendtorff, 2016, 83).
Keine empirische Evidenz gibt es nun allerdings für die oft vorgebrachte These, dass der hohe Anteil von Frauen unter den im Bildungssystem Beschäftigten zu einer Benachteiligung von Jungen führen würde (Hannover/Kessels, 2011) oder dass Lehrerinnen die study skills übermäßig hoch bewerten und damit Mädchen bevorzugen würden. Befunde zeigen vielmehr, dass Jungen, wenn sie ähnlich gute nicht-kognitive Fähigkeiten aufweisen, auch vergleichbar gute Noten bekommen wie die entsprechende Gruppe von Mädchen – sie werden dann gegen den Trend sogar eher für das Gymnasium empfohlen (Neugebauer, 2011). Eine weitere Differenzierung führt hier noch der Befund von Jürgen Budde, Barbara Scholand und Hannelore Faulstich-Wieland (2008) ein, der nämlich besagt, dass „die (kleine) Gruppe sozial negativ auffälliger Mädchen […] noch schärfer durch Noten sanktioniert [wird] als negativ auffällige Jungen.“ (Budde/Kansteiner/Bossen, 2016, 34).
Im genauen Blick auf einzelne – gerne als Jungenfächer und Mädchenfächer bezeichnete – Domänen kommen nun Hans-Peter Blossfeld u.a. (vbw, 2009) auf der Basis verschiedener internationaler Vergleichsstudien zu dem Schluss, dass die Notengebung vermutlich Kompetenzunterschiede zwischen den Geschlechtern keineswegs verstärke, sondern eher ausgleiche, „weil Jungen in Deutsch und Mädchen in der Mathematik und in den naturwissenschaftlichen Fächern gemessen an ihrer Kompetenz jeweils ,milderʽ benotet werden“ (vbw, 2009, 103).
1.2. Fachspezifische Fähigkeitsselbstkonzepte: Der Selbstwahrnehmung von Jungen, dass sie über eine schwächere Ausprägung lernförderlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen verfügen, entspricht, dass auch Lehrkräfte ein schuladäquates Verhalten im Sinne von Motivation, Lernbereitschaft und Sozialverhalten von Mädchen selbstverständlicher erwarten als von Jungen. Diesbezügliche Studienergebnisse werden von Katja Kansteiner wie folgt zusammengefasst: „Mädchen werden gebraucht zum Gelingen des Unterrichts, verhalten sich näher am Erwarteten, erhalten dennoch weniger Anerkennung und werden in der individuellen Bedürfnislage weniger wahrgenommen. Schule hält für Mädchen vielfach die Erfahrung von Zweitrangigkeit weiblicher Leistungen und Lebensweisen bereit. Jungen stehen stark im Anspruch und in der auch kritischen Aufmerksamkeit der Lehrkräfte. Themen und Inhalte sind stärker auf sie zugeschnitten. Ihnen wird Kreativität und Kompetenz zugetraut.“ (Kansteiner, 2015, 237). Mädchen entwickeln demnach im Verlauf ihrer Schulzeit, speziell im MINT-Bereich (vbw, 2009), ein signifikant geringeres Selbstvertrauen und Fähigkeitsselbstkonzept als Jungen – trotz besserer schulischer Gesamtleistungen und dem Erreichen höherer Bildungsabschlüsse (Popp, 2011, 87). Letztlich sind diesbezüglich Nachteile, wenn auch unterschiedlicher Art, für beide Geschlechtergruppen zu verzeichnen: „Der Verpflichtung der Mädchen, auf die anderen zu achten, entspricht auf der Seite der Jungen ein Mangel daran – das heißt, dass Mädchen stets ,in der Pflichtʽ sind, was ihre Fähigkeit zu eigenständigem und selbstverantwortlichem sozialem Handeln schwächt, und Jungen sich in der Folge jenes Mangels an ,Verpflichtungʽ weniger in Korrespondenz mit anderen wahrnehmen, was nicht zuletzt für alle Formen von Teamarbeit und Kooperation von Nachteil ist.“ (Rendtorff, 2016, 82).
Christine Thon (2017, 87) verortet nun die Gründe für die Leistungsdifferenzen von Mädchen und Jungen im schulischen doing gender: „Bei Mädchen ebenso wie bei Jungen kann eine Selbstinterpretation vor der Folie, was für das eigene Geschlecht als typisch gilt, und die Hervorbringung einer diesen Normen entsprechenden geschlechtlichen Identität zur Entfaltung von geschlechtsadäquaten fachbezogenen Motivationen und Interessen und zur Distanzierung von den nicht geschlechtsadäquaten beitragen“ (zu einem empirischen Befund für diese These u.a. Hannover/Kessels, 2011, 100). Zu bedenken sind in diesem Gefüge auch die gegenderten Fachkulturen: Fachtypische Habitualisierungen sind mit geschlechtsstereotypen Zuschreibungen legiert und legen dann bei Schülerinnen und Schülern ebensolche Präferenzen nahe oder führen sie auch mit herbei (Willems, 2007). Leistungsdifferenzen in den Fächern sind demnach nicht einfach auf didaktische Fehler, pädagogische Unzulänglichkeiten, geschlechtstypische Begabungen zurückzuführen oder als Ausdruck authentisch-individueller geschlechtsspezifischer Interessen zu interpretieren – vielmehr steht hinter ihnen ein komplexes Geflecht von Faktoren, welches das Verhältnis von Mädchen und Jungen zu den jeweiligen Gegenständen beeinflusst und ausformt.
Als vorläufiges Resümee ist mit Budde, Kansteiner und Bossen (2016, 34) festzuhalten, dass Befunde der Koedukationsforschung „auf vielseitige Momente der Ungleichbehandlung aufmerksam [machen], die sich entlang einer konstruierten Geschlechtergrenze entfalten und einmal zugunsten der einen, einmal zugunsten der anderen Geschlechtergruppe auslegen lassen.“
2. Monoedukation: Vor allem im anglo-amerikanischen Raum gibt es seit einigen Jahren eine rege Forschungstätigkeit in Bezug auf monoedukative Organisationsformen von Schule, wobei zu sagen ist, dass z.B. in Großbritannien auch noch verhältnismäßig viele monoedukative Sekundarschulen existieren. Auch die Einrichtung von Single-sex-Klassen in koedukativen Schulen ist in England üblich (Kampshoff, 2007). Ähnliches gilt für die USA, wo monoedukative Schul- und Unterrichtsformen aktuell sogar im Aufschwung sind (Fabes/Martin/Hanish/Galligan/Pahlke, 2015). Im deutschsprachigen Raum spielen dahingegen Mädchen- und, vor allem, Jungenschulen zahlenmäßig kaum eine Rolle und Monoedukation wurde in jüngerer Zeit in erster Linie als Maßnahme zur Mädchenförderung in Modellversuchen umgesetzt. Nun macht es aber natürlich einen Unterschied aus, ob – wie in England – Mädchen- und Jungenklassen als zum traditionellen (und prestigereichen) Schulethos gehöriges Element praktiziert und damit auch akzeptiert werden, oder ob man Monoedukation unter Förderperspektive und damit unter einem Defizitansatz einrichtet und betreibt: Denn durch Letzteres werden stereotype Vorstellungen von Mädchen („Schlecht in Mathe.“) und Jungen („Schlecht in Deutsch.“) aktiviert und aufrechterhalten und zudem werden diejenigen, die im jeweiligen Förderbereich leistungsstark sind, „qua Geschlecht unter die falsche Gruppe subsumiert.“ (Kampshoff, 2012, 445).
2.1. Monoedukation – ein Vorteil für Mädchen? International betrachtet findet sich im Diskurs rund um die schulische Geschlechtertrennung die allgemein akzeptierte Meinung, dass Monoedukation für Mädchen und Koedukation für Jungen Vorteile bringe (Kampshoff, 2007, 217). Jedoch stehen Studien, welche koedukative und monoedukative Schul- und Unterrichtsformen miteinander vergleichen (zu einem aktuellen Überblick Kampshoff, 2012, 447-451; Budde/Kansteiner/Bossen, 2016, 14-34; Rendtdorff, 2016, 86-92), immer vor dem Problem, dass sich die Schul- und Unterrichtsformen zumeist nicht nur in Bezug auf die Geschlechterzusammensetzung unterscheiden, sondern auch noch in einer Reihe weiterer Merkmale (Schule: private Trägerschaft, konfessionelle Bindung, selektive Rekrutierung der Schülerinnen und Schüler nach sozial-kulturellen, finanziell-ökonomischen und leistungsmäßigen Kriterien, Prestige der Schule; Unterricht: räumliche wie personale Ausstattung, Erwartungshaltungen der Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler, Unterrichtsqualität, Lernmotivation der Schülerinnen und Schüler…). Damit bleibt letztlich unklar, ob es wirklich die Ko- oder Monoedukation ist, die für die je berichteten Effekte verantwortlich ist (Hasselhorn/Gold, 2017, 444-446). Wird nun in Studien der sozio-ökonomische Hintergrund der Schülerinnen und Schüler und der Schule kontrolliert, lassen sich – so zeigt eine OECD-Veröffentlichung (2009, 44f.) auf Basis der PISA-Daten – bei geschlechtsgetrennten Schulen kaum noch Unterschiede hinsichtlich der schulischen Performance von Jungen und Mädchen ausmachen. Ebenfalls um die oben benannten Selektionseffekte bereinigt ist eine Metastudie von Erin Pahlkes, Janet Shibley Hydes und Carlie M. Allisons (2014) über 184 quantitativ-empirische Studien, welche die Effekte von monoedukativer verglichen mit koedukativer Beschulung auf Schülerinnen und Schüler getestet haben. Und auch hier zeigen sich keine ausgeprägt positiveren Wirkungen monoedukativer Settings hinsichtlich von Zielvariablen wie mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen, Bildungsaspirationen und Selbstkonzept. Demgemäß resümiert Faulstich-Wieland (2015, 158; auch Fabes/Martin/Hanish/Galligan/Pahlke, 2015, 432), dass sich empirisch eine Überlegenheit monoedukativer Beschulung trotz zahlreicher Studien nicht nachweisen lässt.
2.2. Mädchenfächer – Jungenfächer? Empirische Untersuchungen zum Einfluss von Monoedukation finden sich in Deutschland vorwiegend im Rahmen von Modellversuchen zur Förderung von Mädchen in den Naturwissenschaften (Physik) und Mathematik (z.B. Hannover/Kessels, 2002). Sie zeigten z.B. eine leichte (!) Leistungssteigerung der Mädchen im Fach Physik, vermittelt vermutlich über günstigere soziale Vergleichsprozesse in der reinen Mädchengruppe, die mit einer positiveren Selbstkonzept- und Interessenentwicklung einhergehen. Auf die Lernmotivation und das Selbstkonzept der Jungen hatte die Geschlechterkonstellation im Physikunterricht hingegen keine Auswirkungen. Sieht man jedoch von den flankierenden Maßnahmen ab, die solche Modellversuche immer begleiten (stärkere Unterstützung durch Lehrerinnen und Lehrer, Überarbeitung des Curriculums, flexible Unterrichtsorganisation, …) und ziemlich wahrscheinlich zur besagten Leistungssteigerung führen (Kampshoff, 2007, 147), und fokussiert rein auf die Monoedukation, so zeigen sich laut Rost/Pruisken (2000) keine nennenswerten Effekte der Organisationsform auf die Geschlechterdifferenzen bei den Schulleistungen.
2.3. Geschlechterstereotypisierende Effekte? Hinsichtlich der geschlechterstereotypisierenden Effekte von Schule ist es bis dato eine ungeklärte Frage, ob sich die Geschlechterdifferenz eher in ko- oder eher in monoedukativen Settings dramatisiert. So lässt sich durch die Metastudie von Pahlke, Hyde und Allison (2014, 1065) feststellen, dass Mädchen in koedukativen Settings eher genderstereotypisierenden Prozessen unterworfen sind. Auch ein früher Vergleich koedukativ und monoedukativ geführter Gymnasien in Deutschland durch Jürgen Baumert (1992) zeigt, dass es in koedukativer Umgebung zu einer Verstärkung der geschlechtsspezifischen Interessenspolarisierung kam und es fanden sich Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern in der jeweils erwarteten Richtung, welche mit Unterschieden im fachspezifischen Selbstvertrauen einhergingen (Baumert, 1992, 102;104f.). Dahingegen dokumentieren Faulstich-Wieland und Horstkemper (1995) in einer frühen Studie, dass im Laufe des Besuchs eines monoedukativen Gymnasiums Jungen die Differenz zu den Mädchen zunehmend stärker betonen und sich so Stereotype verfestigen. Auch eine Studie, welche Jungen-, Mädchen- und gemischte Klassen einer fünften Schulstufe desselben Gymnasiums analysiert, verweist eher auf die stärkere Betonung von Geschlechterdifferenzen in monoedukativen Schulen: „Die starke Akzentuierung auf homogene Geschlechtergruppen trägt zur Konstruktion spezifischer vergeschlechtlichter Klassenkulturen und Gruppenidentitäten bei. [Der] Fokus auf Geschlechtergrenzen, den die Organisationsform begründet, [trägt] dazu bei, dass eher Geschlechtergrenzen gezogen als aufgelöst werden.“ (Budde/Kansteiner/Bossen, 2016, 233). Daran anschließen können die Befunde von Fabes, Martin, Hanish, Galligan und Pahlke (2015, 432), die auf die geschlechterstereotypisierenden Dynamiken innerhalb von gleichgeschlechtlichen Peer-Groups verweisen: „[W]e contend that peer influences in G[ender]S[egregated] peer contexts – including GS classrooms – magnify gender-stereotypic beliefs, biases, attitudes, and behaviors.“ Das trifft auch auf andere geschlechtertrennende Maßnahmen im Unterricht zu (räumliche Trennung der Geschlechter, getrennte Pinnwand, Schülerinnen und Schüler getrennt nach Geschlecht aufstellen, …): Sie erhöhen die Salienz von Geschlecht und in der Folge nehmen die geschlechterstereotypisierenden Einstellungen der Kinder und Jugendlichen zu (Hilliard/Liben, 2010).
Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse von Lysann Zander und Ilka Wolter (2016), welche in ihrer Studie mit 1039 Neuntklässlerinnen und -klässlern herausarbeiten konnten, dass die geschlechtsmäßige Zusammensetzung der Schulklasse zwar geschlechtstypische Aspirationen von Jugendlichen beeinflusst, allerdings hängt dieser Einfluss davon ab, welche Bedeutung die Jungen und Mädchen ihrem Geschlecht generell beimessen (Geschlechtszentralität): Jugendliche mit hoher Geschlechtszentralität bildeten unabhängig von der Geschlechterzusammensetzung in ihrer Klasse geschlechtstypische Aspirationen aus – anzunehmenderweise aufgrund des ihnen jederzeit verfügbaren geschlechterstereotypen Wissens. Für Jugendliche mit niedriger Geschlechtszentralität zeigte sich jedoch, dass Mädchen in Minoritätssituationen, Jungen aber in Majoritätssituationen von stereotyperen Fächeraspirationen berichteten. Mädchen können also in monoedukativen Settings eher stereotype Fächervorlieben überwinden – allerdings nur dann, „wenn ihre Geschlechtszentralität unterdurchschnittlich war und sie dann möglicherweise gute Leistungen in und gutes Verständnis von Deutsch und Mathematik im Mittel für gleichermaßen wahrscheinlich hielten.“ (Zander/Wolter, 2016, 66). Für Jungen mit niedriger Geschlechterzentralität bringt Monoedukation jedoch keine Entstereotypisierung: „Möglicherweise erleben Jungen, denen das eigene Geschlecht eigentlich weniger bedeutsam ist, in jungendominierten Klassen eine Bedrohung und starken Druck, geschlechtsstereotype Normen zu erfüllen.“ (Zander/Wolter, 2016, 66).
Eindeutige Antworten können nun allerdings von empirischen Studien zu schulischen Geschlechterverhältnissen im ko- und monoedukativen schulischen Feld kaum erwartet werden, denn die generierten Befunde sind keineswegs selbsterklärend, sondern stark auslegungsbedürftig, verweigern sich einer einfachen Interpretation und werfen oft mehr Fragen auf als sie beantworten. Zudem teilen sie das Grundproblem jeder Geschlechterforschung: Durch die alleinige Fokussierung auf die Differenzkategorie Geschlecht haben sie immer auch eine reifizierende Wirkung – das heißt durch ihre methodische Anlage verfestigen sie die Vorstellung von Geschlecht und polarer Zweigeschlechtlichkeit nochmals (detaillierter Kansteiner, 2015, 232f.). Denn hinter den generierten Durchschnittswerten bleibt die immer auch gegebene innere Differenziertheit der Geschlechtsgruppen verborgen und differente oder gar fragile Männlichkeiten und Weiblichkeiten können sich in solchen Studien kaum abbilden. Auch geraten andere potenzielle Differenzmerkmale (z.B. Migrationshintergrund, Teilleistungsstörungen, Motivationsdifferenzen, Lerntempo und Arbeitstyp etc.) und deren Effekte im Kontext Schule aus dem Blick (Popp, 2011, 89). Indem also „die identifizierten Defizite eng mit Geschlecht relationiert und geschlechtstypische Phänomene als Erklärungen gesucht werden, gerät Mädchen-Sein oder Junge-Sein unter der Hand selbst zur Erklärung für die beobachteten Differenzen.“ (Thon, 2017, 87f.).
Die zu konstatierende Unterschiedlichkeit der Studienergebnisse zu den Effekten von mono- im Vergleich zu koedukativer Beschulung kann zudem nicht überraschen (Hasselhorn/Gold, 2017, 444-446), da keineswegs alle Studien die Komplexität der Geschlechterthematik in ihrem Studiendesign (Rendtdorff, 2016, 92) beachten und keineswegs in allen Studien die leitenden Annahmen und Ziele der je untersuchten Bildungsinstitutionen in Bezug auf die Mono- oder Koedukation ausgeschildert werden, womit die Interpretation der jeweils eruierten Effekte stark fehleranfällig wird (Pahlke/Hyde/Allison, 2014, 1066). Auch Hannelore Faulstich-Wieland (2015, 158; auch: 2008, 441) führt die Uneindeutigkeit der erzielten Ergebnisse primär auf die Komplexität von Bildungsprozessen zurück, „deren Verläufe sich nicht auf simple organisatorische Bedingungen zurückführen lassen.“ So stehen zum Beispiel die Determinanten „subjektive Theorien Lehrender“, „Unterrichtsprozesse“ und „Schule, Klassenkontext und Altersgruppe“ in einem engen Verhältnis zu den Selbstkonzepten, Interessen und Schulleistungen von Mädchen und Jungen und hängen „in teilweise wechselseitiger, vielfach verwobener Hinsicht zusammen und wirken sich somit auch gemeinsam auf die Geschlechterdifferenzen bei den Schulleistungen aus“ (Kampshoff, 2007, 273). Auch die Stereotypisierungen der jeweiligen Fachgebiete, die soziale Herkunft sowie der Einfluss der Peer-Group sind als wichtige Aspekte bei der Entstehung geschlechterdifferenter Schulleistungen zu beachten (Kampshoff, 2007, 272f.). Hier zeigt sich das Grundproblem der Ko- bzw. Monoedukationsdebatten, dass nämlich der Strukturfrage (monoedukative versus koedukative Erziehung) das zentrale Moment zugesprochen wird, inhaltliche, soziale und andere Aspekte dagegen vernachlässigt werden (Faulstich-Wieland/Horstkemper, 1995, 516).
Dennoch liegt auch eine Stärke in diesen Studien: Sie decken Strukturen und Mechanismen im Schulalltag auf, die der Geschlechtergerechtigkeit zuwider wirken, und können in all ihrer Widersprüchlichkeit grundsätzlich als Warnung vor zu schnellen, zu unterkomplexen und zu einseitigen Lösungen gelesen werden.
4. Koedukation gestalten in einer Schule der Vielfalt
Letztlich verlangt das Thema von allen Beteiligten eine selbstverantwortliche Positionierung und situative Klärung. So mag es gute Gründe für monoedukative Schulen geben (Selbstverständnis des Schulträgers, Tradition, …), die je für sich zu prüfen wären. Hinsichtlich der Frage nach Geschlechtergerechtigkeit verlangt jedoch jedes monoedukative schulische Arrangement die bewusste Bearbeitung des in seine Grundstruktur eingeschriebenen Dilemmas: Ist angesichts der massiven Dramatisierung der Zweigeschlechtlichkeit auf Strukturebene der Weg hin zu einer Vielfalt der Geschlechterkonzeptionen und -praktiken überhaupt zu schaffen? Und wenn ja, wie könnte dies gelingen? Erfahrungen aus anderen Ländern – wie hier Großbritannien – können diesbezügliche Impulse liefern: „Our longitudinal study […] suggest that single-sex classes will contribute to raising achievement levels in schools and enhancing the self-esteem and social attributes of girls and boys only when they are implemented within a gender-relational context, with the support of teachers at all levels of the school, and with a positive framework rationalized clearly through the school community (staff, students, and parents and caregivers).“ (Warrington/Younger, 2003, 614).
Das koedukativ organisierte Schulsystem wiederum ist eine historisch lang und hart erkämpfte Errungenschaft. Die koedukativ geführte Schule steht unter dem Anspruch, die Enkulturation der ihr anvertrauten Schülerinnen und Schüler in ein gemeinsames Leben und Arbeiten der Geschlechter auf Augenhöhe zu leisten und nimmt eine Verweisfunktion auf Geschlechtergerechtigkeit als unabdingbare Basis westlicher Gesellschaften ein. Wenig spricht aktuell dafür, ihre grundsätzliche Legitimität anzuzweifeln (dazu auch die Argumentation der Beibehaltung zur Koedukation bei Holz-Ebeling, 2010, 374f.) – unbestritten ist dabei aber auch, dass koedukative Schule und koedukativer Unterricht reflektiert und gestaltet werden müssen, schafft doch die Struktur allein noch keine Geschlechtergerechtigkeit.
4.1. Die Komplexität von Geschlecht wahrnehmen und bearbeitbar machen
Überlegungen und Forschungen über Ausmaß und Gründe von im schulischen Kontext auftretenden wahlweise hergestellten Geschlechterungleichheiten brauchen ein Verständnis von Geschlecht, dass der Komplexität dieses Themenfeldes gerecht zu werden vermag. Hier docken Jürgen Budde, Katja Kansteiner und Andrea Bossen an und fordern für Geschlecht eine mehrebenenanalytische Betrachtung ein: Sie gehen davon aus, „dass Geschlecht erstens eine soziale Konstruktion ist, die zweitens im Spannungsfeld zwischen 1. gesellschaftlichen Diskursen, 2. institutionellen und organisationalen Regelungen sowie 3. den Mikropraktiken des Alltags entsteht. Auf jeder Ebene ebenso wie zwischen ihnen realisieren sich Auseinandersetzungen um die jeweils hegemonialen, oppositionellen oder etwa untergeordneten Figurationen.“ (Budde/Kansteiner/Bossen, 2016, 14). Diese Betrachtungsweise korrespondiert mit dem im aktuellen pädagogischen Geschlechterdiskurs präferierten handlungsorientierten Konzept von Geschlecht (Bundesjugendkuratorium, 2009, 19; Gudjons/Traub, 2016, 381), das davon ausgeht, dass Geschlecht in interaktiven Prozessen hervorgebracht wird: doing gender (Gildemeister, 2008). Rekonstruktionen von doing gender in der Schule könnten demnach eine Grundlage für die Reflexion geschlechtergerechten pädagogischen Handelns unter den Bedingungen einer zweigeschlechtlichen Ordnung schaffen (Thon, 2017, 77).
Aus Perspektive des aktuellen Heterogenitätsdiskurses (u.a. Bohl/Budde/Rieger-Ladich, 2017) wäre zudem der Blick darauf zu richten, wie sich Prozesse aktiver Konstruktionsleistungen, die der Definition bestimmter Gruppen und der Erzeugung von Differenzen dienen, unter den Bedingungen unterschiedlicher Schulsituationen und -ordnungen intersektional miteinander verschränken: doing gender, doing migrant (Weber, 2003), doing adolescence (Lange, 2003), doing student (Faulstich-Wieland/Weber/Willems, 2004), doing peer-group (Schmidt, 2004), doing teacher … Dies alles selbstverständlich unter Beachtung der je eigenen Binnenstruktur der jeweiligen Strukturkategorie (Schildmann, 2016, 87) und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Diskussionstraditionen, aus denen die jeweiligen Differenzkategorien hervorgegangen sind (Sturm, 2016, 66). Zunehmend wird in dieser Perspektive klar, dass es z.B. Jungen aus Familien mit niedrigem sozio-ökonomischen Status und/oder mit Migrationshintergrund wenig nützt, wenn sich die Diskussion auf die Geschlechterdifferenz einengt und eine differenzierte Analyse von eventuell unproduktiven Passungsverhältnissen zwischen bestimmten Männlichkeiten und Schulkulturen unterbleibt (Fegter, 2012, 185; auch: Cornelißen, 2004; Phoenix/Frosh, 2005; Michalek/Fuhr/Schönknecht, 2014). Klar wird auch, dass die Einsicht in intersektional verschränkte Differenzkategorien, die an ihren Schnittpunkten je unterschiedliche Diskriminierungs- aber eben auch Privilegierungserfahrungen hervorbringen, und Diskussionen, wie mit Heterogenität(en) im schulischen Setting unter Inklusionsperspektive konstruktiv umzugehen ist, die Forderung nach monoedukativen Lernumgebungen schlicht als unterkomplex erscheinen lassen (Kampshoff, 2012, 447). So nachvollziehbar die Sehnsucht nach homogenen Lerngruppen – und sei es nur am Ort von Geschlecht – auch ist, Homogenität im schulischen Kontext ist und bleibt ein Mythos. Erkannt haben das, um nur einige zu nennen, Ansätze wie die Intersektionalitätsforschung (Walgenbach/Dietze/Hornscheidt/Palm, 2007), die Pädagogik der Vielfalt (Prengel, 2006), die Inklusionspädagogik (Schwohl/Sturm, 2010) oder die Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten (Nohl, 2010) – sie erlauben, ja fordern sogar, Geschlecht als eine wirkungsvolle Kategorie in den Blick zu nehmen, jedoch immer in seinen Wechselwirkungen mit anderen Kategorien; das Entstehen stereotypisierender Zuschreibungen an die Jungen und die Mädchen wird damit zumindest erschwert (→ Bildungsgerechtigkeit
4.2. Dramatisieren – Reflexion – Entdramatisieren
Somit bleibt die Frage, wie das Leben, Arbeiten und Lernen an Schulen geschlechterbewusst zu gestalten wäre (→ Geschlechtergerechtigkeit
Der erste und wichtigste Schritt besteht sicherlich darin, „die strukturelle Wirkung der Geschlechterordnung in den Denkgewohnheiten und den gesellschaftlichen Ordnungen sowie die Reichweite dieser Vorstellungen auf die Wahrnehmung und Bewertung von Individuen angemessen einschätzen zu lernen“ (Rendtorff, 2016, 136). Dazu braucht es differenziertes Wissen über die Wirksamkeit von Geschlechterordnungen und die Wirkmechanismen routinisierter und habitualisierter Geschlechtervorstellungen, auf dessen Basis dann eine Irritation und Reflexion der je eigenen subjektiven Alltagstheorien von Geschlecht erfolgen kann.
Von Hannelore Faulstich-Wieland gibt es den Vorschlag eines Dreischritts zur Umsetzung schulischer Geschlechtergerechtigkeit (Abb. 1). Dieser nimmt ernst, dass Bewusstmachung der Geschlechterdifferenzen in Bildungsprozessen mit deren bewusst vorgenommener Dekonstruktion einhergehen muss (Kampshoff/Wiepcke, 2012, 2). Im ersten Schritt der Dramatisierung der Differenz wird Sensibilität für die Bedeutung von Geschlecht in der Institution und in konkreten Situationen entwickelt. Dabei reicht jedoch Geschlechtersensibilität alleine nicht aus, da auch dann noch die Gefahr der Reifizierung, also der Bestätigung und Verfestigung von Geschlechterdifferenzen besteht. Im Rahmen der Reflexion (oder bei Budde/Venth, 2010, 80: „Differenzierung innerhalb der Geschlechtergruppen“) wird ergründet, worin genau die Differenzen liegen, wie sie entstehen usw. Der Blick richtet sich in weiterer Folge auf die Vielfalt innerhalb einer Geschlechtergruppe. Hier ist die Arbeit auf Basis einer angemessenen Gendertheorie erforderlich, ohne die es zu einer Dichotomisierung der Geschlechter und damit einer Reproduktion der Ungleichheiten kommen kann. Im dritten Schritt der Entdramatisierung geraten weitere, für Bildungsprozesse bedeutsame Differenzen, wie etwa soziale Herkunft, Migrationshintergrund, Alter, Gesundheit, Leistungsheterogenität in den Blick. Durch den Blick auf vorhandene (und nicht auf Basis geschlechtlicher oder sonstiger Zuordnungen unterstellte) Kompetenzen und Defizite der individuellen Schülerinnen und Schüler und eine entsprechende Individualisierung des Unterrichts kann sich – jenseits geschlechterstereotypisierender Zuschreibungen – ein Möglichkeitsraum für variierende und vielfältige Einstellungen und Handlungspraxen eröffnen (Kampshoff/Wiepcke, 2012, 1f.; Rendtorff, 2016, 110).
Zusammenfassend meint Hannelore Faulstich-Wieland: „Geschlechtersozialisation im koedukativen Kontext führt am wenigsten zu Einengungen der beiden Geschlechter, wenn sie ,reflexivʽ erfolgt, d. h. wenn die Lehrkräfte – als Teil von Schulentwicklungsprozessen – einerseits über fundiertes Genderwissen verfügen, um auch den eigenen Anteil an der Herstellung von Geschlecht erkennen zu können, andererseits in einem Austauschprozess mit allen Beteiligten klären, welche Zielvisionen im Blick auf Geschlecht vertreten werden. Damit kommt Geschlecht der Status einer reflexiven Kategorie zu und nicht länger einer permanenten Technik der Unterrichtsgestaltung.“ (Faulstich-Wieland, 2011, 328; zum Konzept der reflexiven Koedukation Kreienbaum, 2008, 690f.; Kreienbaum/Urbaniak, 2006; dabei wird das Konzept der „reflexiven Koedukation“ aktuell auch in Richtung „reflexiver Inklusion“ weitergedacht, dazu Budde/Hummrich, 2013 und kritisch-weiterführend Schildmann, 2016).
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Abbildungsverzeichnis
- Der Dreischritt der Geschlechtergerechtigkeit. Aus: Budde/Venth, 2010, 80; Kampshoff/Wiepcke, 2012, 1f.
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