Beutelsbacher Konsens
Andere Schreibweise: Beutelsbach Consensus
(erstellt: März 2023)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Beutelsbacher_Konsens.201115
Im Beutelsbacher Konsens (BK) werden normative Kriterien für Prozesse politischer Bildung (→ Politikunterricht
1. Die politikdidaktischen Grundlagen des BK
Der BK gilt in der Politikdidaktik als eine „von allen anerkannte[] Lehrmeinung“ (Widmaier/Zorn, 2016b, 11) und als eine „Art informelles Grundgesetz der politischen Bildung“ (Grammes, 2016a, 165). Seine Bedeutung für die etablierte Politikdidaktik darf also nicht unterschätzt werden, er steht als „Metastandard“ oder „ethischer Kern“ (Geßner/Hoffmann/Lotz/Wohnig, 2016, 30) im Zentrum der fachdidaktischen Identität.
1.1. Die drei Grundsätze des BK
Der BK besteht aus drei Grundsätzen bzw. didaktischen Prinzipien, die das zentrale Ziel von politischer Bildung bestimmen: (politische) Mündigkeit. Sie lassen sich mit den drei Schlagworten Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot und Schülerinteressenbezug bezeichnen.
- 1.Das Überwältigungsverbot meint, dass es nicht erlaubt sei, „den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbständigen Urteils‘ zu hindern“ (Wehling, 2016, 24). Als positive Zielbestimmung politischer Bildung wird hier Mündigkeit von Indoktrination abgegrenzt und mit „der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft“ (Wehling, 2016, 24) begründet.
- 2.Unter dem Kontroversitätsgebot wird gefasst, dass das, was „in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, […] auch im Unterricht kontrovers erscheinen“ (Wehling, 2016, 24) muss. Unter bestimmten Umständen sollten die Lehrpersonen sogar eine „Korrekturfunktion“ (Wehling, 2016, 24) übernehmen und in der Klasse unterrepräsentierte Positionen „besonders herausarbeiten“ (Wehling, 2016, 24). Es geht also darum, dass hegemoniale Standpunkte in ihrer Bedeutung relativiert werden.
- 3.Schülerinteressenbezug meint, dass „der Schüler in die Lage versetzt werden [muss], eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner [bzw. ihrer] Interessen zu beeinflussen“ (Wehling, 2016, 24). An dieser Stelle geht es also um „operationale Fähigkeiten“ (Wehling, 2016, 24), die es den Einzelnen ermöglichen, ihr Leben und dessen Umfeld zu den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen in ein Verhältnis zu setzen.
Zentral ist, dass diese Formulierung der drei Prinzipien nicht von der „Suche nach einem Maximal-, sondern nach einem Minimalkonsens“ (Wehling, 2016, 24) geleitet war. Die drei Forderungen stehen dabei in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis untereinander, sie sind nur als organisches Ganzes schlüssig. Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass das Überwältigungsverbot nur durch das Kontroversitätsgebot umgesetzt werden kann, „denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten“ (Wehling, 2016, 24). Und der dritte Grundsatz, der Mündigkeit in einem umfassenden Sinn anstrebt, lässt sich nur dann erreichen, wenn Überwältigung vermieden wird und kontroverse Themen didaktisch angemessen umgesetzt werden.
1.2. Die historischen Hintergründe des BK
Die Grundsätze des BK wurden 1976/1977 formuliert, ihre Bedeutung lässt sich nur vor dem historischen Hintergrund der langen 1960er Jahre nachvollziehen, die nicht nur in der Religionspädagogik, sondern auch in der Politikdidaktik ihre Spuren hinterließen. In dieser Zeit erfuhr das noch junge Fach der Politikdidaktik eine „existenzielle Krise“ (Mambour, 2014, 97). Es drohte ein Zerfallen in abgegrenzte Lager mit unterschiedlichen (partei-)politischen Präferenzen (Mambour, 2014, 94f.). Die Situation kam einem „‚Super-Gau‘ gleich“ (Mambour, 2014, 95), die Politikdidaktik diente „ganz überwiegend politischen Zwecken von Interessengruppen, sei es zur Absicherung von demokratisch nicht legitimierter Herrschaft oder als Instrument im Kampf um gesellschaftliche Veränderung“ (Sander, 2013, 161). Exemplarisch dafür kann der Streit um die Rahmenrichtlinien für das Fach Gesellschaftslehre in Hessen angeführt werden (Mambour, 2014, 88). Um diesen Streit zu schlichten wurde 1976 von Siegfried Schiele, dem damaligen Leiter der Landeszentrale für Politische Bildung in Baden-Württemberg, eine Tagung in Beutelsbach organisiert, auf der Politikdidaktiker unterschiedlicher Strömungen aufeinandertrafen und miteinander diskutierten. Hans-Georg Wehling hielt in einer Art Protokoll (Schiele, 2017, 23) die wichtigsten Ergebnisse dieser Tagung fest, u.a. die drei angeführten Grundsätze.
In der Folgezeit wurde den drei Grundsätzen eine immer größere Zustimmung zuteil, die sich auch darauf zurückführen lässt, dass sich durch sie ein möglicher „Ausweg aus der (partei-)politischen Vereinnahmungsfalle“ (Mambour, 2014, 98) andeutete. Vor der negativen Hintergrundfolie der historischen Krisenerfahrung wird der BK in der politikdidaktischen Geschichtsschreibung heute zum Wendepunkt deklariert, mit dem eine Modernisierung einsetzte (Sander, 2013, 151). Die Disziplin spezialisierte und professionalisierte sich zunehmend und konnte sich dadurch von den politischen Konflikten und Vereinnahmungen befreien (Sander, 2013, 127). Im gängigen politikdidaktischen Narrativ stellt der BK eine Art Ursprungsmythos, den Anfang einer „Erfolgsgeschichte“ (Sander, 2013, 161) dar.
1.3. Diskussionen in der Politikdidaktik
Gegenwärtige Debatten in der Politikdidaktik zeigen allerdings, dass der BK – nicht in seiner Formulierung, aber in seiner Ausdeutung – selbst umstritten ist. Er wird immer wieder zum Gegenstand von Kontroversen und grundsätzlichen Auseinandersetzungen. Diskutiert werden
- 1.die historische Deutung als Lösung der historischen Konflikte. Dem entgegengestellt wird die Perspektive, dass sich über den BK eine bestimmte Position in der Politikdidaktik durchgesetzt habe und hegemonial geworden sei (z.B. Geßner/Hoffmann/Lotz/Wohnig, 2016, 30; Studt, 2016). Dementgegen müsse die produktive Seite von einem expliziten Dissens hervorgehoben werden (z.B. Salomon, 2016).
- 2.die Auslegung der jeweiligen Grundsätze, ihres Zusammenhangs, ihrer Rangfolge bzw. Zuordnung und ihrer möglichen bzw. nötigen Ergänzung. Debattiert werden etwa unterschiedliche Formen von Überwältigung (Grammes, 2016a, 157; Lösch, 2020, 397), genauere Kriterien und Grenzen von Kontroversität (Drerup, 2021, 17-86; Sander, 2021, 293-298) sowie die Frage, ob der Schülerinteressenbezug auch konkrete politische Aktionen als eine didaktische Methode umfassen müsse (z.B. Kenner, 2021; Wohnig, 2020).
Besonders in jüngerer Zeit taucht die Auslegung der im BK vorgestellten didaktischen Prinzipien als Streitfrage auf. Dies wird beispielhaft deutlich an zwei diskurspolitischen Interventionen, dem demokratiepädagogischen „Magdeburger Manifest“ (Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik, 2005) und der „Frankfurter Erklärung für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung“ (2015). Beide Texte stehen nicht nur exemplarisch für zwei zentrale Kontroversen in der Politikdidaktik des 21. Jahrhunderts (Himmelmann, 2013), sie lassen sich auch als je eigene Interpretation der drei Prinzipien deuten. Im Magdeburger Manifest wird besonders darauf abgehoben, dass der BK eine normative Rahmung besitzt und sich an den Grundsätzen der liberalen Demokratie und einer demokratischen Kultur ausrichtet. Für diese demokratiepädagogische Position ist die Annahme leitend, dass Demokratie als Lebensform auch den zwischenmenschlichen Umgang und den schulischen Alltag bestimmen sollte. Auch der kritischen politischen Bildung geht es darum, die in der Politikdidaktik etablierte(n) Deutung(en) des BK ergänzend zu korrigieren bzw. zu erweitern (z.B. Lösch, 2010, 120;123). Dabei werden Fragen von Macht- und Gesellschaftskritik stärker in den Fokus gerückt, weil sie eine Hinderungsbedingung von Mündigkeit darstellen. Vorausgesetzt wird, dass in Bildungsprozessen gesellschaftliche Krisen, Konflikte und Ungleichheiten thematisiert werden müssen. Ebenfalls gilt es die pädagogische Einbindung in diese sozialen Verhältnisse kritisch zu reflektieren. Im Gegenzug wird sowohl der Demokratiepädagogik als auch der kritischen politischen Bildung vorgeworfen, den Grundsätzen des BK nicht gerecht zu werden (z.B. Geßner/Hoffmann/Lotz/Wohnig, 2016, 33).
Die Austragung dieser Kontroversen ist zentral, um mit der Schwierigkeit umzugehen, dass der BK deutungsoffen ist. Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, dass sich disparate politische Akteure in gesellschaftlichen Konflikten auf den BK berufen, um teils entgegengesetzte Positionen zu begründen. So wird der BK von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden herangezogen, um zu argumentieren, dass Unterrichtsmaterialien zu (wenig) ökonomiekritisch seien (Geßner/Hoffmann/Lotz/Wohnig, 2016, 28-29). Oder der BK wird von der Partei AfD herangezogen, um einen populismuskritischen Unterricht zu problematisieren, wohingegen sich politikdidaktische Verbände auf den BK beziehen, um wiederum diese Position der AfD zu kritisieren (Herbst, 2019, 147-148).
2. Die religionspädagogische Rezeption des BK
Nicht allein der eingangs erwähnte Brief deutet an, dass der BK von religionspädagogischer Bedeutung ist. Der BK wird in religionspädagogischen Debatten herangezogen, um performative Ansätze als überwältigend zu kritisieren (Rupp, 2016, 211), Grundlinien eines Umgangs mit religiösem Fundamentalismus anzuzeigen (Schweitzer, 2015, 15) oder das Verhältnis von Theologie und religiöser Bildung näher zu bestimmen (z.B. Schluß, 2017, 111f.). Die Fragen nach Neutralität, Positionalität und Kontroversität betreffen eben auch nichtgesellschaftswissenschaftliche Schulfächer, gerade insofern politische Bildung nicht nur ein Unterrichtsfach, sondern auch ein Unterrichtsprinzip (z.B. Lechner-Amante, 2014) darstellt (→ Politik, Religionsunterricht
2.1. Die Orientierungskraft des BK für nichtgesellschaftswissenschaftliche Fächer
Unterrichtsfächer haben in Zeiten politischer Polarisierung einen zunehmenden Bedarf an fachdidaktischer Orientierung in Bezug auf Fragen der Normativität von (politischer) Bildung (z.B. Höffer-Mehlmer/Pohl, 2021). Schulisches Wissen und dessen wissenschaftstheoretische Voraussetzungen werden durch populistische Identitätspolitik, Verschwörungsmythen und Fake Facts zu einem Ort politischer Auseinandersetzung. Religionspädagogisch stellen sich beispielsweise Fragen wie die, ob auch kreationistische Positionen oder die Leugnung des menschengemachten Klimawandels als eine legitime Deutungsmöglichkeit im Rahmen eines kontroversen Religionsunterrichts präsentiert werden müssen. Die Debatten um den BK betreffen damit nicht nur den Politikunterricht, sondern alle Fächer, gerade auch religiöse Bildung (z.B. Ammerer/Geelhaar/Palmstorfer, 2020; Benk, 2019). Für die Religionspädagogik von besonderer Bedeutung ist dabei, dass der BK eine besonders starke Rezeption in Bezug auf den Philosophie- und Ethikunterricht erfährt, der sich bildungstheoretisch ebenfalls als ein Schulfach konstitutiver Rationalität ausweisen lässt (Baumert, 2002). So wurde 2016 der Dresdener Konsens herausgegeben, der ähnlich – und in explizitem Bezug auf den BK – vier philosophiedidaktische Grundsätze formuliert, in denen normative Grundlinien für Neutralität, Kontroversität und Positionalität entworfen werden (Herbst, 2021b): 1. Die Stärkung ganzheitlicher Urteilskraft, 2. das Kontroversitätsgebot, 3. das Neutralitätsgebot (hinsichtlich weltanschaulicher und religiöser Fragen) sowie 4. ein Bewusstsein von Suggestivität, besonders in Bezug auf visuelle Medien.
2.2. Probleme der religionspädagogischen Rezeption
Der BK bietet vor diesem Hintergrund offensichtlich ein großes Anregungspotenzial für die Religionspädagogik, welches sich allerdings nur dann entfalten kann, wenn typische Rezeptionsschwierigkeiten vermieden werden. Folgende Problemkomplexe lassen sich dabei in der religionspädagogischen Debatte identifizieren (Herbst, 2019; 2021a; 2021b).
- 1.Rechtliche (Fehl-)Einordnungen: Insgesamt ist festzuhalten, dass es sich bei den drei Grundsätzen des BK um didaktische und nicht um rechtliche Prinzipien handelt. Der BK ist nicht gesetzlich festgeschrieben. Zu seiner Entstehungszeit wurde der BK gar nicht als Konsens wahrgenommen (Widmaier/Zorn, 2016c, 18). Er wurde „damals und auch später nicht beschlossen. Er wurde auch nicht als eine Art Manifest veröffentlicht“ (Widmaier/Zorn, 2016b, 10). Durch seine curriculare Verortung lässt sich für gesellschaftswissenschaftliche Fächer zwar eine gewisse rechtlich festgelegte Normativität beanspruchen, dies gilt jedoch nicht für den Religionsunterricht (Holze/Pfister, 2019, 32). Hinzu kommt, dass der konfessionelle Religionsunterricht durch seine rechtliche Rahmung (z.B. Freiwilligkeit, weltanschauliche Gebundenheit und Pluralität an Fachperspektiven) Ähnlichkeiten zur außerschulischen politischen Bildung besitzt (Herbst, 2021a, 88). Für außerschulische Bildung aber wird die Geltung des BK kontrovers diskutiert (z.B. Widmaier, 2016).Darüber hinaus wird der BK in der Religionspädagogik zum Teil so interpretiert, dass alle Positionen im Unterricht geäußert werden dürfen, die sich im Rahmen des Grundgesetzes befinden (z.B. Grümme, 2009, 241; Keller/Kläsener, 2020, 561). Allerdings ist es politikdidaktischer Konsens, dass auch Kritik am Grundgesetz – etwa auch an der verfassungsrechtlichen Festschreibung des konfessionellen Religionsunterrichts in Art. 7 GG (z.B. Hans/Herbst/Többen, 2021) – artikuliert werden darf. Vielmehr wird auf einige zentrale Artikel des Grundgesetztes (bes. Art. 1 u. 20) abgehoben, die eine Grenze der Diskursfreiheit im Unterricht markieren (z.B. Pohl, 2015; Widmaier, 2021; zu einer religionspädagogischen Diskussion dieser Grenzen am Beispiel von neurechtem Bildungsmaterial: Gärtner/Herbst, 2022).Insgesamt ist der rechtliche Rahmen, in dem der BK steht, aus religionspädagogischer Perspektive angemessen wahrzunehmen. Dabei sind unterschiedliche Ebenen zu beachten: Zu unterscheiden gilt es die menschenrechtliche Rahmung (Cremer, 2019), grundgesetzliche Regelungen wie das Neutralitätsgebot des Staates (Art. 3 GG), das Recht auf Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) und das Recht der Parteien auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb (Art. 21 GG) sowie das jeweilige Bundes- und Landesrecht. Dabei sind beispielsweise ebenfalls das jeweilige Schulgesetz, der Diskriminierungsschutz und das sogenannte Mäßigungsgebot wahrzunehmen. Insgesamt besteht jedoch eine Leerstelle bezüglich der Rechtsfragen, die den BK betreffen: „Die juristische Debatte dazu ist bisher noch wenig ausgeprägt, zudem gibt es keine gefestigte Rechtsprechung“ (Cremer, 2019, 19). Zur allgemeinen Vertiefung juristischer Fragestellungen bieten sich praxisorientierte Fachaufsätze an (Wieland, 2019; Wrase, 2020).
- 2.Bildungstheoretische (Fehl-)Einordnungen: Zurecht wird zwar darauf hingewiesen, dass es „Parallelen zwischen religiöser und politischer Bildung“ (Willems, 2010, 291) gibt. Zu wenig wird dabei jedoch darauf abgehoben, dass gerade bildungstheoretisch grundlegende Differenzen vorliegen. Diese Unterschiede werden bei der religionspädagogischen Rezeption des BK nicht genügend systematisch bedacht. So verweist der Politikdidaktiker Thomas Goll mit dem Pädagogen Dietrich Benner zurecht darauf, dass beiden Fächern zwei unterschiedliche soziale Praxisformen zugrunde liegen. „Der Mensch muss […] seine gesellschaftliche Zukunft entwerfen und gestalten [Politik] [...] und ist konfrontiert mit dem Problem der Endlichkeit seiner Mitmenschen und seines eigenen Todes [Religion]“ (Benner, nach Goll, 2009, 207f.). Ähnlich ließe sich mit der bereits angeführten Bildungstheorie von Jürgen Baumert (2002) argumentieren, die auch in der Religionspädagogik dazu herangezogen wird, die Unterschiede zwischen religiöser und politischer Bildung hervorzuheben. Beispielsweise verschärfe sich Dressler (2021, 286) zufolge die Gefahr von Überwältigung im Religionsunterricht noch einmal, insofern „es nicht […] um politische Orientierung, sondern um ‚Glauben‘ geht“. Denn damit stünden nicht vorletzte Fragen, die prinzipiell dem rationalen Diskurs ausgesetzt sind, sondern letzte Fragen persönlicher Religiosität im Klassenraum zur Diskussion.Zudem besteht eine Eigenheit des Religionsunterrichts gerade in seiner Konfessionalität, die auch normative Konsequenzen und ein eigenes Fachprofil impliziert (Willems, 2010, 290f.). Der biblische Gott ist ein Gott der Schwachen und Armen, derjenigen, die ausgeschlossen und zurückgesetzt werden. Er ist ein Gott der Gerechtigkeit und Gerechtigkeit ist dabei kein unparteiischer Begriff. Vielmehr meint er Parteilichkeit unter Ansehung der Person (Bogner, 2014; Mette, 2016). Vor dem Hintergrund dieser theologischen Option für die Armen und die leidenden Anderen (Grümme, 2009, 245f.) ist ein Kontroversitätsbegriff problematisch, der den diskursiven Status quo abbildet (das, was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist), ohne seine Ausschlüsse und Machtwirkungen auch zu problematisieren. Dabei wird eine Spannung zu manchen politikdidaktischen Ansätzen deutlich, die das Eintreten „für die ‚Schwächeren, Ärmeren, und Unterprivilegierten‘ [Hermann Giesecke]“ als unzulässige Positionierung bewerten, die „in auffälliger Weise dem Beutelsbacher Konsens [widerspricht]“ (Juchler, 2011, 110). Dementgegen lässt sich religionspädagogisch gerade der bildungstheoretische Mehrwehrt einer konfessionell begründeten Positionalität hervorheben (Herbst, 2021c, 291).Deutlich wird an dieser Stelle auch, dass hermeneutische Fehleinordnungen wie die Ableitung eines Neutralitätsgebots aus dem BK – ein solches wird in der Politikdidaktik als eine „Fehlinterpretation“ (Geßner/Hoffmann/Lotz/Wohnig, 2016, 31), ein „tradierte[s] Fehlkonzept“ (Lösch, 2020, 385) oder ein „Missverständnis“ (Oberle, 2017, 124) bezeichnet – zwar kritisch zu betrachten sind, die jeweilige Ausdeutung der daraus folgenden Konsequenzen selbst aber noch einmal umstritten ist.
- 3.Hermeneutische (Fehl-)Einordnungen: Eine angemessene Deutung der drei Grundsätze gelingt erst dann, wenn ihre normative Offenheit wahrgenommen und die Auslegungsstreitigkeiten explizit gemacht werden. Dabei gilt es wie erwähnt, die drei Prinzipien in ihrer organischen Einheit zu berücksichtigen. Exemplarisch lässt sich dieser Problemkomplex daran veranschaulichen, dass der dritte Grundsatz häufig übergangen wird (z.B. Porzelt, 2020, 57). Schließlich wird mit diesem ein wesentlicher Bestandteil vom BK ausgeklammert. Politikdidaktikerinnen und Politikdidaktiker sehen im letzten Prinzip gar den hermeneutischen Schlüssel zum gesamten BK (Haarmann/Lange, 2016). Falls der dritte Grundsatz aber aufgenommen wird, wird dieser häufig entschärft und unabhängig von seiner ursprünglichen Bedeutung als echte Subjektzentrierung (ausführlicher: Herbst, 2021c, 243f.) auf eine „Motivierungs- und Verständnishilfe“ (May/Schattschneider, 2014, 37; Hedtke, 2011) reduziert. Als zweites Beispiel für diesen Problemkomplex lässt sich anführen, dass das Überwältigungsverbot, welchem im BK eine dienende Funktion (mit dem Ziel der Mündigkeit) zugeschrieben wird, in den Mittelpunkt gerückt und als Selbstzweck hervorgehoben wird. Es dient dann häufig als polemische Spitze gegenüber didaktischen Ansätzen, die der eigenen Vorstellung von Bildung widersprechen – auch in der Religionspädagogik, etwa gegenüber dem performativen Religionsunterricht (Rupp, 2016, 211).Eine weitere Schwierigkeit, die auch im vorher genannten Zusammenhang auftritt, ist die generalisierende und schlagwortartige Verwendung der Prinzipien, ohne dass diese anhand von konkreten Kontextfällen diskutiert und in operationalisierte Kriterien überführt werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Grundsätze eine „Resolutionslyrik“ (Grammes, 2016a, 156) darstellen, die nur eine geringe Praxisrelevanz besitzen.
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