Bildungsstudien
(erstellt: Januar 2015)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Bildungsstudien.100091
1. Zum Begriff Bildungsstudien
Der Terminus Bildungsstudien ist ein vor allem in den Medien verwendeter Sammelbegriff für unterschiedliche Kategorien von wissenschaftlichen Untersuchungen, in denen mit Hilfe von Methoden der empirischen Sozialforschung ( → Empirie
Der Begriff Bildungsstudie wird in der Bildungs- und Erziehungswissenschaft auch deshalb zögerlich verwendet, weil er höchst umstritten ist. Gerade von Seiten der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wird immer wieder kritisch angeführt, dass es bei den erhobenen Fähigkeiten und Fertigkeiten von Schülern in keiner Weise um → Bildung
Das Grundprinzip solcher Vergleichsstudien ist die Testaufgabe ( → Test) „Schülerinnen und Schüler werden mit Testaufgaben konfrontiert, die Kompetenz messen. Die Antworten der Personen auf bestimmte Testaufgaben dienen als Indikator für die (latente) Fähigkeit einer Person, auch außerhalb der Testsituation eine vergleichbare Aufgabe oder ein vergleichbares Problem lösen zu können. Aus der Testleistung eines Schülers oder einer Schülerin wird also auf das Potenzial bzw. die Kompetenz der Person geschlossen“ (Drechsel/Prenzel/Seidel, 2009, 357).
Testaufgaben können je nach Konzeption der Studie die Bearbeitung unterschiedlicher Fragestellungen ermöglichen. Wird die Kompetenz einer Person oder einer Gruppe von Personen mit den Fähigkeiten und Fertigkeiten einer anderen Partei verglichen und wie in der PISA-Studie auf einer gemeinsamen Skala in Relation gesetzt, so entsteht ein normorientierter Vergleich, der die Position einer Person oder Gruppe auf einer Rangliste abbildet (Drechsel/Prenzel/Seidel, 2009, 358). Liegt der Fokus dagegen auf der Frage, in welchem Maße die Kenntnisse oder Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern den Anforderungen von Lehrplanvorgaben ( → Lehrpläne
2. Zu den verschiedenen Vergleichsstudien
Vergleichsstudien, die im großen Umfang Schülerleistungen untersuchen, sind kein Phänomen des frühen 21. Jahrhunderts, sondern finden sich auch bereits in den pädagogischen Debatten der 1950er Jahre. Da aber die bildungspolitischen Akteure in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Jahrtausendwende auf eine Testung deutscher Schülerinnen und Schüler im Rahmen internationaler Vergleichsstudien mehr oder weniger verzichteten, führte die erstmalige deutsche Beteiligung an der internationalen PISA-Studie im Jahre 2000 zu einem veritablen Schock in der deutschen Kultuspolitik und zur sogenannten empirischen Wende: Die enttäuschenden Ergebnisse deutscher Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich veranlasste Bildungspolitikerinnen und -politiker (→ Bildungspolitik
Die wichtigsten dieser Vergleichsstudien zu Schülerleistungen, die in Deutschland seit der empirischen Wende durchgeführt werden beziehungsweise worden sind, sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden:
TIMSS – Diese Abkürzung steht für Trends in International Mathematics and Science Study und bezeichnet eine internationale Schulleistungsstudie, in der mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern in der Sekundarstufe I und II und seit 2007 auch in der Grundschule am Ende der Grundschule, also in Klasse 4, erfasst werden. In Deutschland sind für diesen internationalen Vergleich knapp 4000 Schülerinnen und Schüler aus ca. 200 Schulen ausgewählt worden. Mit der Planung und Durchführung der Studie, die in einem vierjährigen Zyklus durchgeführt wird, ist das Institut für Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Dortmund betraut.
PISA – Das oben bereits erwähnte Programme for International Student Assessment ist eine von der OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) initiierte internationale Großstudie, die alle drei Jahre durchgeführt wird, um nach den basalen Kompetenzen von 15-jährigen im Bereich von Lesen, von Mathematik und von den Naturwissenschaften zu fragen. Diese für die individuelle Bildung (→ Individuum/Individualität
IGLU – Das Akronym IGLU steht für die Internationale Grundschulleseuntersuchung, die im Englischen auch PIRLS (Progress in International Reading Literacy Study) genannt wird. Ziel dieser Studie ist die Überprüfung des Leseverständnisses von Schülerinnen und Schülern am Ende der Grundschulzeit. Dazu gehören auch die Erhebungen von Einstellung zum Lesen und das Sammeln von Daten zu Lesegewohnheiten der Kinder. IGLU wird in einem Abstand von fünf Jahren in allen Ländern der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt und wie die TIMSS vom Institut für Schulentwicklungsforschung an der Universität Dortmund ausgewertet. Für die IGLU-Studie 2011, an der sich im internationalen Kontext 45 Staaten beteiligt haben, hat Deutschland Daten an knapp 200 Schulen von 4000 Schülerinnen und Schülern erhoben. Auch im Rahmen der IGLU-Studie gibt es einen nationalen Ergänzungstest, der einen Ländervergleich möglich macht: Er wird IGLU-E genannt.
Neben diesen internationalen Bildungsstudien, an denen sich die Bundesrepublik Deutschland mit ihren Forschungsinstitutionen und dem Datenmaterial aus dem Schulsystem der 16 Bundesländer ( → Föderalismus und RU) beteiligt, gibt es auf nationaler Ebene weitere Studien zur Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern. Hier sind folgende Untersuchungen zu nennen:
VERA – Diese Abkürzung steht für VERgleichsArbeiten und bezeichnet damit ein Gemeinschaftsprojekt aller 16 Bundesländer, in dem seit 2007 über → Lernstandserhebungen die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern in den Klassen 3, 6 und 8 mit dem Fokus auf die Fächer Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch evaluiert werden. Diese Studie ist am Zentrum für Empirische Pädagogische Forschung (zepf) an der Universität Koblenz-Landau angesiedelt.
DESI – Dieses Akronym lässt sich in Deutsch-Englische Schülerleistung International auflösen und bezeichnet eine Studie, die die Kultusministerkonferenz im Jahre 2001 als nationale Ergänzungsstudie zu den PISA-Untersuchungen in Auftrag gegeben hat. Diese Studie wurde vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt durchgeführt und publiziert.
Bildungsstandards – Mit der Einführung von sogenannten → Bildungsstandards
Allein aus den sechs hier genannten Forschungsprojekten wird deutlich, wie dicht das Netz von Vergleichsstudien ist, das im Rahmen einer neuen Educational Governance in das deutsche Bildungssystem eingezogen worden ist. Die ideologischen Gräben, die in den 1980er und 1990er Jahren die Kultusministerkonferenz in A- (SPD-regiert) und B-Länder (CDU-regiert) spalteten, wurden durch den PISA-Schock relativ schnell und diskussionslos überbrückt. In einem bisher nicht gekannten politischen Einvernehmen haben alle für die Bildungspolitik ( → Bildungspolitik
3. Zu den Folgen für den Religionsunterricht
Auch wenn der Religionsunterricht im Kontext der verschiedenen Vergleichsstudien nie genauer untersucht und evaluiert worden ist, so hat doch die verstärkte Überprüfung von Input und Outcome schulischer Bildungsprozesse im deutschen Bildungssystem auch Konsequenzen für die Fächer der Religionslehren gehabt, also vor allem für den evangelischen und den katholischen Religionsunterricht. Bereits kurz nach der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse im Jahre 2001 und der darauf folgenden intensiven Diskussion in Politik und Medien hatten vereinzelte Stimmen darauf hingewiesen, dass der Religionsunterricht durch die nun folgenden Schulreformmaßnahmen unter Druck geraten könne. Dabei wurden vor allem drei grundsätzliche Gefährdungen des Religionsunterrichts beschrieben:
Ein verengtes Bildungsverständnis: Die Anlage der PISA-Studie und ihre Konzentration auf die Grundkompetenzen von Lesen und Rechnen wie auch der Fokus anderer Vergleichsstudien auf die Hauptfächer mit einer Verknüpfung in den MINT-Bereich hinein berge die Gefahr, dass sich die Schule der Zukunft auf diese vor allem im ökonomischen Kontext wichtigen Fächer konzentrieren werde. Es stelle sich die Frage, inwieweit eine schulische Bildung, die sich an diesen grundlegenden Kompetenzen im Bereich von Sprache und Mathematik orientiere, die Bildungsziele einholen könne, die bisher in der bundesdeutschen Tradition einer kritisch reflexiven Bildung im Horizont einer Erziehung nach Auschwitz (Theodor W. Adorno) (→ Auschwitz/Auschwitz-Gedenken
Die Marginalisierung des Religionsunterrichts im Fächerkanon: Analoges gelte es für die Stellung des Religionsunterrichts innerhalb der Schule zu befürchten. Durch den Druck, den die verschiedenen Vergleichsstudien und die inzwischen unternommenen Schulreformmaßnahmen in die Kollegien hineintrugen, bestehe die Gefahr, dass der Religionsunterricht und andere Fächer der Soft-Science – also zum Beispiel Sport, Musik, Kunst, Geschichte und Politik – ihre Bedeutung verlieren könnten und im Stundenplan, gegebenenfalls auch im Stundenkontingent, entsprechend an den Rand gedrückt beziehungsweise zurückgefahren werden könnten. Erfahrungen an Schulen, in denen Schulleitungen selbstständig über Stundentafel und Kontingentstundenzahl entscheiden dürfen, zeigten solche besorgniserregenden Tendenzen. Damit sei der Religionsunterricht zwar nicht grundsätzlich gefährdet, dies allein verhindert seine im → Grundgesetz
Die innere Gestalt des Religionsunterrichts: Komme es zu einer solchen Entwicklung, dass in den Haupt- und MINT-Fächern durch die nationalen Standards und deren Überprüfung Disziplin, Druck und Arbeitspensum weiter steigen sollten, so könnten der Religionsunterricht wie auch andere Fächer aus dem Bereich der Soft-Science entsprechend von Schülerinnen und Schülern als „Oasenfach“ im Sinne der Entspannung und Disziplinlosigkeit missverstanden werden. Natürlich gehe es im Religionsunterricht immer auch um eine kontrafaktische Setzung von Stille (→ Stilleübungen
Tatsächlich ist auf alle drei genannten Gefährdungen des Religionsunterrichts im Kontext der durch Vergleichsstudien veränderten Schulkultur reagiert worden, wenn auch von verschiedenen Akteuren. Insgesamt lässt sich knapp 15 Jahre nach der ersten PISA-Untersuchung resümieren, dass der Religionsunterricht seinen Stellenwert behauptet hat und durch verschiedene Maßnahmen der Qualitätssicherung ( → Qualitätssicherung
Schulische Bildung als Erschließung unterschiedlicher Wirklichkeitszugänge: In der bereits oben zitierten Kommentierung der ersten PISA-Erhebung aus dem Jahre 2000 hat der verantwortliche Bildungsforscher Jürgen Baumert sein Verständnis von schulischer Bildung skizziert. Dort finden sich eine Reihe von wichtigen Klärungen und Differenzierungen. Für Baumert sind es eben nicht nur verwertbare Kompetenzen, die im Rahmen von Schule erarbeitet, entwickelt und erhoben werden sollen, sondern auch er vertritt einen Bildungsbegriff ( → Bildung
2. Die Frage der konkreten Akzeptanz des Religionsunterrichts: Sicherlich gibt es eine Vielzahl von Schulen, in denen der Religionsunterricht nicht in seiner durch → Grundgesetz
3. Kompetenzorientierung als neue innere Gestalt des Religionsunterrichts: Auf keine Gefährdung haben die Kirchen als inhaltlich Verantwortliche für den konfessionellen Religionsunterricht in der Bundesrepublik Deutschland rascher und entschiedener reagiert als auf die Gefährdung des Religionsunterrichts durch seinen Status als „Nicht-Standardfach“. Auch wenn der Religionsunterricht bei der Erarbeitung von länderübergreifenden Bildungsstandards von Seiten der KMK zunächst nicht in den Blick genommen wurde, reagierten doch die kirchlich Verantwortlichen vor allem auf katholischer Seite entsprechend zügig. Angesichts des besonderen Status’ des Religionsunterrichts als eine res mixta, also als eine gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche ( → Kirche – Staat
4. Zur Krise der Bildungsstudien
Auch wenn sich der Fächer der genannten Bildungsstudien über das deutsche Schulsystem inzwischen in der deutschen Kultuslandschaft etabliert hat, so gibt es doch zunehmend kritische Stimmen am Primat der empirischen Bildungsforschung in der deutschen Schul- und Kultuspolitik (Münch, 2009; Lin-Klitzing/De Fuccia/Müller-Frerich, 2013). Zum einen ist die Belastung für Schülerinnen und Schüler unter der Vielzahl der Erhebungen und Messungen erheblich gestiegen, zum anderen sind auch Lehrerinnen und Lehrer durch die häufigen Überprüfungen, die damit verbundene Observanz von Lehr- und Bildungsplänen und die an sie geknüpften Erwartungen entsprechend verärgert. Auch aus der → Bildungspolitik
Die Metastudie des neuseeländischen Erziehungswissenschaftlers John Hattie, die unter dem Titel „Lernen sichtbar machen“ inzwischen auch in deutscher Sprache erhältlich ist, hat zudem eine weitere Diskussionsebene eröffnet: Wenn es so ist, wie Hattie im Rahmen von 800 Metaanalysen aus der Analyse von 50000 Einzeluntersuchungen mit 250 Millionen Schülerinnen und Schülern herausgefunden hat, dann sind eigentlich alle Einflussfaktoren auf den Lernerfolg von Kindern und Jugendlichen unwichtig neben dem einen großen: dem Lehrer. Nach Hattie kommt es auf den guten Lehrer an, der in effektiver und transparenter Weise seinen Unterricht gestaltet und mit Einfühlungsvermögen und diagnostischem Blick (→ Diagnose
Literaturverzeichnis
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