Gemeinwohl
(erstellt: Februar 2016)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/100326/
Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Gemeinwohl.100326
1. Begriffsgebrauch
Der Begriff Gemeinwohl zielt auf den Ausgleich divergierender Interessen zwischen Einzelnen und Gruppen. Ursprünglich in staatsrechtlichen und staatsethischenKontexten zu finden, wird er heute mehr und mehr in politischen sowie in sozial-, wirtschafts- und bioethischen Zusammenhängen verwendet. Auf allen Bedeutungsebenen geht es darum, Partikularinteressen gegenüber Universalinteressen auszugleichen, um das Wohl des Gemeinwesens zu stärken. Der Begriff Gemeinwohl hat eine doppelte Aussage: Er zielt zum einen auf die Voraussetzung für den Zusammenhalt pluraler Gesellschaften (Wohl der Gemeinschaft im Sinne eines genitivus subiectivus, Klammer-Hinzufügung H.L.), zum anderen auf das Resultat funktionierender gesellschaftlicher Austauschprozesse (Wohl für die Gemeinschaft im Sinne eines genitivus obiectivus, Klammer-Hinzufügung H.L.) (Herrmann/Neuberth, 1998, 49). Kritisch muss hierzu auch die Frage betrachtet werden, ob es generell einen Vorrang der Gemeinschaftsinteressen gegenüber den Rechten der → Person geben kann: „Wie weit reicht das Gemeinwohlziel zur Legitimation von Herrschaft und zur Beschränkung individueller Freiheit?“ (Fetzer/Gerlach, 1998, 142).
Die Fähigkeit Einzelinteressen auch unter dem Blickwinkel von Gemeinschaftsinteressen sehen zu können, stellt einen Bildungs- und Erziehungsauftrag dar, der sich schon seit den Reformatoren herauskristallisierte und heute beispielsweise im allgemeinen Teil von Lehrplänen (→
Lehrplan
2. Gesellschaft und Theologie
2.1. Gemeinwohl in der Sozial- und Wirtschaftsethik
Die Bindung und Rückbindung der Menschen als aufeinander bezogene Wesen werden naturrechtlich nach Oswald von Nell-Breuning als ein „im Schöpferwillen Gottes fundiertes soziales Grundprinzip“ aufgefasst (Meireis, 2015, 288). Hierbei handelt es sich nach katholischer Deutung nicht um ein Strukturprinzip, sondern um ein Seinsprinzip von →
Solidarität
2.2. Gemeinwohl in Recht und Politik
Die aufklärerische Ethik ordnet die Einzelinteressen nicht nur dem Gemeinwohl unter, sondern formuliert Zielvorstellungen, nach denen das Gemeinwohl die Konsequenz des rational reflektierten Handelns des Einzelnen ist (Anselm, 2015, 205). Dies bezieht sich imperativisch in den allgemeinen Maximen von Immanuel Kant auf ein Handlungs
subjekt: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (Kant, WA VII, 140). Allgemein bezeichnet dementsprechend die Gültigkeit dieser Gesetzgebung für jeden Menschen; denn das Gesetz wird als prinzipiell gegeben angesehen aufgrund der reinen Vernunft und nicht etwa als ein empirisch aufweisbares auf der Grundlage von konkreten Einzelfällen (Kant, WA VII, 141). Dementsprechend hat der Gedanke des Allgemein-Gültigen Einzug im Prinzipienrecht deutschsprachiger Länder erhalten und steht in Kontrast zum Case-Law des angelsächsischen Rechts (Lindner, 2008, 164). Aus dieser Handlungsmaxime, die das Wollen des Subjekts dem Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung unterwirft, entsteht im Idealfall sowohl ein solidarisches Zusammenleben aller Gruppierungen in der Gesellschaft, als auch auf der Ebene des Gemeinwesens subsidiär die Sicherstellung der Entfaltungsfreiheit des Einzelnen (Kirchenamt der EKD/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 1997, 48). Mit dem Prinzip der Subsidiarität werden also Gemeinschaftsanliegen zugunsten von Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen beschränkt, was ebenfalls Ausdruck und Anliegen des Gemeinwohlgedankens ist. Diese Verhältnisbestimmung drückt sich – gleichsam als Generalschlüssel des Staatskirchenrechts (→ Kirche, Staat
Ein Gemeinwesen kann politisch nur dann funktionieren, wenn auch zivilgesellschaftliche Engagements entsprechend gewürdigt werden. Daher lässt sich in Weiterentwicklung der Fünften These aus der Barmer Theologischen Erklärung das eigenständige Bürgerengagement im Staat als Ausdruck einer partizipativen Gesellschaft herausstellen (Anselm, 2015, 227): „Wenn wir heute von der nach ‚göttlicher Anordnung‘ dem Staat zukommenden Aufgabe (Barmen V) sprechen, dann richtet sich diese ‚Anordnung‘ in einer Demokratie in erster Linie an die politische Verantwortung der Bürger, die den Staat bilden“ (EKD, 1985, 17).
3. Gemeinwohl im Kontext von Bildung und Erziehung
Eine gemeinwesenorientierte Religionspädagogik (Schröder, 2012, 701-702) kann einen Beitrag leisten zur Initiierung von und Mitwirkung in Verein(-igung)en, wie zum Beispiel in Stadtteilprojekten, zur interkulturellen Verständigung oder zu gemeindekulturellen Angeboten, und somit das
ökumenische Lernen (→ Ökumene) für eine Erziehung zur Toleranz fördern. Damit ist bildungstheoretisch ein funktionaler Bildungsbegriff impliziert, der bereits in der Reformationszeit (→ Reformation
Literaturverzeichnis
- Die Deutschen Bischöfe (DBK, Hg.), Die bildende Kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts, Bonn 1996.
- EKD, s.u. Kirchenamt der EKD.
- Fetzer, Joachim/Gerlach, Jochen, Berechtigtes Anliegen und verschleiernde Rhetorik. 10 Thesen zum „Gemeinwohl“, in: Fetzer, Joachim/Gerlach, Jochen, Gemeinwohl – mehr als gut gemeint? Klärungen und Anstöße, Gütersloh 1998, 142-149.
- Herrmann, Ute/Neuberth, Rudi, Gemeinwohl als Produkt gesellschaftlicher Austauschprozesse betrachtet – ein Ausblick, in: Fetzer, Joachim/Gerlach, Jochen (Hg.), Gemeinwohl – mehr als gut gemeint? Klärungen und Anstöße, Gütersloh 1998, 49-50.
- Huber, Wolfgang, Rechtsethik, in: Huber, Wolfgang/Meireis, Torsten/Reuter, Hans-Richard (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 125-193.
- Huber, Wolfgang/Meireis, Torsten/Reuter, Hans-Richard (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015.
- Jähnichen, Traugott, Wirtschaftsethik, in: Huber, Wolfgang/Meireis, Torsten/Reuter, Hans-Richard (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 331-400.
- Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, WA VII, Weischedel, Wilhelm (Hg.), Frankfurt a. M. 1974.
- Kirchenamt der EKD (Hg.), Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Eine Denkschrift, Gütersloh 2003.
- Kirchenamt der EKD (Hg.), Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität, Eine Denkschrift, Gütersloh 1994.
- Kirchenamt der EKD (Hg.), Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft, Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1991.
- Kirchenamt der EKD (Hg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 1985.
- Kirchenamt der EKD/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Für eine Zukunft in Solidariatät und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Hannover/Bonn 1997.
- Der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Richtlinien für die gymnasiale Oberstufe in Nordrhein-Westfalen, Evangelische Religionslehre, Köln 1981.
- Lindner, Heike, Bildung, Erziehung und Religion in Europa. Politische, rechtshermeneutische und pädagogische Untersuchungen zum europäischen Bildungsauftrag in evangelischer Perspektive, Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs 6, Berlin/New York 2008.
- Meireis, Torsten, Ethik des Sozialen, in: Huber, Wolfgang/Meireis, Torsten/Reuter, Hans-Richard (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 265-329.
- Nipkow, Karl E., Zur Bildungspolitik der evangelischen Kirche. Eine historisch-systematische Studie, in: Biehl, Peter/Nipkow, Karl E., Bildung und Bildungspolitik in theologischer Perspektive, Schriften aus dem Comenius-Institut 7, Münster 2003, 153-262.
- Preul, Reiner, Evangelische Bildungstheorie, Leipzig 2013.
- Schröder, Bernd, Religionspädagogik, Tübingen 2012.
- Utz, Arthur F., Der Gemeinwohlbegriff der katholischen Soziallehre und seine Anwendung auf die Bestimmung der Wohlfahrt, in: Müller, J. Heinz (Hg.), Wohlfahrtsökonomik und Gemeinwohl, Rechts- und Staatswissenschaftlich Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Neue Folge Heft 51, Paderborn 1987, 83-118.
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download: