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Lernen, transformatives

(erstellt: März 2024)

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1. Definition „Transformation“ in unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen

Derzeit ist der Begriff der Transformation (lat. transformare – umformen, verwandeln) sowohl in der Presse als auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen nahezu allgegenwärtig. So bezeichnet die digitale Transformation (→ Digitalisierung) den beständigen und spürbaren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungsprozess, der durch neuere und neueste technologische und digitale Techniken ausgelöst wird.

Die ökologische Transformation indes hebt den Prozess der (notwendigen) sozialen und wirtschaftlichen Veränderung hervor, der in engster Verbindung mit der Klimakrise steht (→ Klimawandel). So wirken sich u.a. das Aufkommen von Extremwetterereignissen, Ressourcenknappheit, der steigende Meeresspiegel und die Gefährdung der Artenvielfalt auch auf vielfältige wirtschaftlich-politische Initiativen aus (z.B. der European Green Deal auf EU-Ebene sowie Klimaschutzgesetzgebungen oder die Förderung von klimafreundlichen Technologien auf Bundesebene). Die in diesem Zusammenhang zu nennende sozial-ökologische Transformation wird gegenwärtig in umweltpolitischen Diskussionen ebenfalls stark rezipiert, da der anthropogene Klimawandel auch Fragen aufwirft, die eine grundlegende Veränderung der Wirtschaftsweise und der Lebensverhältnisse betreffen (Sharp/Petschow/Arlt/Jacob/Kalt/Schipperges, 2020, 7).

Anfang der 90er Jahre sprach Karl Aschersleben hingegen bereits von der didaktischen Transformation (Aschersleben, 1993). Diese macht es sich zur Aufgabe, Kulturgüter in Bildungsgüter umzuwandeln bzw. zu transformieren. Den Begriff der Didaktischen Analyse von Wolfang Klafki aufgreifend, versucht Aschersleben diese mit der didaktischen Transformation in einen umfassenderen Zusammenhang zu stellen (eigentlich sollte der Titel seiner Monografie „Einführung in die didaktische Transformation“ lauten, aber dieser [„neue Terminus“] habe sich Aschersleben zufolge nicht durchsetzen können [Aschersleben, 1993, 7]).

Exkurs didaktische Transformation nach Aschersleben: Für Aschersleben hauptsächlich sind vier Aufgaben, die eine didaktische Transformation möglich machen. Diese beziehen sich auf die Sachstruktur, die Schülergemäßheit, die Legitimation und die quantitative sowie qualitative Vereinfachung des Unterrichtsgegenstandes. Die Lehrkraft sollte sich in Bezug auf die fachlichen Voraussetzungen und Bedingungen vergewissern, sodass eine sorgfältige Untersuchung des Unterrichtsgegenstandes erfolgt. Ferner muss der Unterrichtsgegenstand schülergemäß und die Wahl des Unterrichtsgegenstandes muss schlüssig sein, d.h. durch triftige Gründe gerechtfertigt. Die Vereinfachung des Unterrichtsgegenstandes bezieht sich sowohl auf die Quantität (Eingrenzung des Umfangs) als auch auf die Qualität (Vereinfachung der Schwierigkeit).

Die von Aschersleben vorgestellte didaktische Transformation legt einen adäquaten Umgang mit dem Unterrichtsstoff dar, der erst in einem transformativen Prozess Bildung möglich macht. Weniger geht es um die Frage, wie sich diese Bildungsprozesse auch konkret auf die Schülerinnen und Schüler auswirken – die Antwort dieser Frage bleibt Aschersleben den Leserinnen und Lesern schuldig (Aschersleben, 1993, 8f.), sodass eine didaktische Transformation im Sinne Ascherslebens noch längst keine transformative Didaktik bedingen muss.

Insgesamt ist nämlich unter dem Begriff der Transformation ein umfassender Veränderungsprozess zu verstehen, der die Veränderung eines Ist-Zustandes hin zu einem (angestrebten) zukünftigen Ziel-Zustand beschreibt. Dieser Wandel ist dabei als fundamental und dauerhaft zu begreifen. Insofern die didaktische Transformation also den Blick auf den Unterrichtsgegenstand richtet, betont das transformative Lernen die Perspektive der Lernenden bzw. der Schülerinnen und Schüler. Das transformatives Lernen im Konkreten stellt demnach einen Prozess dar, der bisherige Vorannahmen, wie Denkgewohnheiten und Einstellungen der Lernenden transformiert, sodass diese dauerhaft verändert bzw. erweitert werden.

2. Historische und theoretische Grundlagen des Transformativen Lernens

Als Begründer der Theorie des transformativen Lernens (engl. Transformative Adult Education) gilt der Soziologe Jack Mezirow (1923-2014), der sie in den 1970er Jahren in den USA in der Berufs- und Erwachsenenbildung eingeführt hat (deswegen wurde sie auch ursprünglich Transformative Erwachsenenbildung genannt). Zwar zeigt sich die Transformative Lerntheorie in Bezug auf Jürgen Habermas und seiner Theorie des kommunikativen Handelns (TKH), Karl Popper und seiner Lerntheorie oder den Konstruktivismus anschlussfähig bzw. baut in gewisser Hinsicht auf diese Theorien auf, indem sie das Lernen als aktiven Konstruktionsprozess wahrnimmt und im Rahmen einer Selbst- und Sachreflexion das Lernen dem Lernenden als Teil eines kommunikativen Handlungsvorganges zuschreibt (→ Konstruktivistischer Religionsunterricht). Doch geht es Mezirow darüberhinausgehend um die Frage, wie das Lernen zur Veränderung subjektiver Wirklichkeiten führen kann und dies versucht er mit der Absicht zu verbinden, konkrete didaktisch-methodische Hinweise in Bezug auf das transformative Erwachsenenlernens zu entwickeln.

2.1. Lernbegriff

Das Lernen (eines Erwachsenen) erfolgt laut Mezirow vor dem Hintergrund des jeweils eigenen Horizontes von bewährten Erfahrungen und Verständigungsprozessen (u.a. Sozialisation). Diese zeigen gewissermaßen den Rahmen auf, der für das Lernen relevant ist. Lernen ist demzufolge „ein Prozeß [sic] der Deutung und Aneignung einer neuen oder berichtigten Interpretation der Bedeutung einer Erfahrung als Richtschnur für Bewußtsein [sic], Empfindung und Handeln: Es gibt viele Beweise zur Stützung der Behauptung, daß [sic] wir dazu neigen, Erfahrungen anzunehmen und zu integrieren, die sich mühelos in unseren Bezugsrahmen einfügen, dafür aber die außer Acht lassen, die das nicht tun“ (Mezirow, 1997, 30). Das transformative Lernen ist demnach auch eine Art der kritischen Reflexion dieser Form von Interpretationen bzw. der Bedeutungsperspektiven.

„The process of perspective transformation has far reaching implications for the education of adults. An unexplored educational goal of enormous significance is to identify, and to facilitate the transformation of, the meaning perspectives of learners. Education cannot be defined by a simplistic preoccupation with fostering direct behavior change, which in many cases exemplifies the fallacy of misplaced concreteness. The most significant behavior changes may be functions of perspective transformation, and such transformation is often an essential precondition for meaningful behavior changes” (Mezirow, 1978, 107).

Auch wenn von einem Prozess der Transformation gesprochen wird, handelt es sich nicht um eine Stufentheorie im klassischen Sinne, sondern um eine „intentionale Hinwendung zur Reflexivität“ (Mezirow, 1997, 136). In diesem Sinne ist das transformatorische Lernen genuin emanzipatorisch (→ Emanzipation). „Beim emanzipatorischen Lernen besteht die Emanzipation in der Befreiung von triebmäßigen, sprachlichen, epistemischen und institutionellen Kräften oder Umwelteinflüssen, die unsere Optionen und unsere rationale Kontrolle über unser Leben einengen, bisher aber als gegeben oder als der menschlichen Einflußnahme [sic] entzogen angesehen wurden“ (Mezirow, 1997, 72).

Da diese Art des Lernens Mezirow zufolge nicht lediglich eine Verhaltensveränderung eines Erwachsenen beschreibt, sondern auch mit der Bewältigung der Umwelt, dem Verstehen von Bedeutung bei der Kommunikation mit Mitmenschen und dem Verstehen von den Lernenden selbst zu tun hat, ist das Lernen an sich multifaktoriell (Mezirow, 1997, 74). Fünf miteinander verflochtene Bedingungen sind nach Mezirow für den Lernprozess bedeutsam: 1. Die Bedeutungsperspektive, 2. der Kommunikationsprozess, 3. eine Handlungsweise, 4. das Selbstverständnis und 5. die äußeren Umstände. Auf die Bedeutungsperspektive, die nicht per se verständlich ist, wird im Folgenden näher eingegangen:

2.2. Bedeutungsperspektive

Insgesamt ist die bisher im Leben eines bzw. einer Lernenden angewendete Bedeutungsperspektive maßgeblich für die Interpretation neuer Informationen bzw. bedeutungsvoll für den Lernprozess (Mezirow, 1997, 30). Kurz gesagt, bedingen die bisher erworbenen Erfahrungen die Einstellungen, mit denen wiederum neu Gelerntes verarbeitet wird. Die Bedeutungsperspektiven, also die sich angewöhnte Orientierung und die Erwartungen, nehmen bei diesem Vorgang eine zentrale Rolle ein, denn sie stellen einen Bezugsrahmen dar, der zur „Projektion“ der „Symbolmodelle“ verwendet und „der als (gewöhnlich stillschweigendes) System von Überzeugungen zur Interpretation und Bewertung der Bedeutung von Erfahrung dient“ (Mezirow, 1997, 35).

Mezirow unterscheidet drei Arten von Bedeutungsperspektiven. Die epistemische Bedeutungsperspektive (u.a. Entwicklungsstufen-Perspektiven; kognitive Lernarten; Reflexionsvermögen) benennt die Faktoren, wie etwas gelernt wird und welcher Gebrauch von dem Wissen gemacht wird. Die zweite Art der Bedeutungsperspektiven beschreiben die sozilinguistischen Perspektiven (u.a. kulturelle Sprachcodes; Wirklichkeitssinn als kulturelles System; sekundäre Sozialisation). Die psychologischen Perspektiven (u.a. Selbstverständnis; Hemmungen; neurotische Bedürfnisse) bilden die dritte Kategorie.

Die konkretisierten Manifestationen dieser Bedeutungsperspektiven versteht Mezirow als Bedeutungsschemata. Mit dem Beispiel des Ethnozentrismus als soziolinguistische Bedeutungsperspektive beschreibt Mezirow, wie sich rassistische Klischees als Bedeutungsschemata innerhalb der Perspektive manifestieren und betont, dass solche Bedeutungsschemata vom Lernenden mit einer viel größeren Wahrscheinlichkeit kritisch geprüft und transformiert werden als die zugrundeliegenden Bedeutungsperspektiven (Mezirow, 1997, 36). Das transformative Lernen führt einen Veränderungsprozess der Bedeutungsschemata durch, indem Bedeutungen hinzugefügt oder bestimmte Schemata kombiniert werden. Dadurch werden bestehende Schemata aufgebrochen und durch neue ersetzt bzw. erweitert.

3. Perspektiventransformation

Dieser Veränderungsprozess wird mit Hilfe des transformativen Lernens (d.h. der Transformationstheorie) gewährleistet, das eine reflexive Haltung fordert. Auch wenn die Selbstreflexion ein alltäglicher Vorgang zu sein scheint, schließt dieser jedoch im Gegensatz zum transformativen Lernen nicht immer notwendigerweise eine transformative Selbstkritik sowie eine Validitätsprüfung mit ein.

Drei Stufen der Transformation sind Mezirow zufolge notwendig: „[D]ie offensichtlich bestehende Lebenswelt, die bedrohte Lebenswelt und die transformierte Lebenswelt. Jede wird durch den ihr eigenen, einmaligen Dialog charakterisiert“ (Mezirow, 1997, 137). Im Sinne Mezirows ist dieser Dialog für die bestehende Lebenswelt narrativ zu führen, sodass eine Bestätigung der Lebensumstände interpersonell kommunikativ möglich ist. Der Dialog einer bedrohten Lebenswelt wird in der Transformationstheorie als Dilemma beschrieben, da mit einer notwendigen Lebensveränderung situationsbedingte Widersprüche gewahr werden, die es zu thematisieren gilt. Die transformierte Lebenswelt wiederum beschreibt die dritte Art des rationalen und motivationalen Dialogs, der nach der strukturellen Bedingtheit von subjektiven Konflikten fragt.

Eine Perspektiventransformation ist demnach eine kritische und nachhaltige Anpassung von Erwartungsgewohnheiten und Bedeutungsschemata. Biographisch gibt es schmerzhafte und zur Desorientierung führende Dilemmata, die einen solchen Prozess ebenfalls auslösen können (Krankheit, Tod, Scheidung, Auszug der Kinder etc.). Schmerzhaft sind diese Dilemmata deswegen, weil sie verankerte Wertevorstellungen grundsätzlich in Frage stellen und das ureigene Selbstverständnis bedrohen. Doch kann jede Herausforderung einer feststehenden Bedeutungsperspektive zu einer nachhaltigen Transformation führen, die vor dem Hintergrund einer Interview-Studie Mezirow zufolge in zehn Phasen verläuft (Mezirow, 1997, 143):

  1. 1.Auftreten eines desorientierenden Dilemmas
  2. 2.Selbstprüfung mit Schuld und Schamgefühlen
  3. 3.Kritische Bewertung der epistemischen, soziokulturellen oder psychischen Annahmen
  4. 4.Erkenntnis, dass die eigene Unzufriedenheit und der Transformationsprozess weit verbreitet sind und dass auch andere eine ähnliche Veränderung bewältigt haben
  5. 5.Suche nach Optionen für neue Rollen, Beziehungen und Handlungen
  6. 6.Planung einer Handlungsweise
  7. 7.Aneignung von Wissen und Fähigkeiten zur Durchführung der eigenen Pläne
  8. 8.Ausprobieren neuer Rollen
  9. 9.Entwicklung von Fähigkeiten und Selbstvertrauen für neue Rollen und Beziehungen
  10. 10.Wiederaufnahme des eigenen Lebens aufgrund der von den neuen Perspektiven bestimmten Bedingungen

Jane Taylor hat diese zehn Phasen 1989 in ihrer Thesis auf ein Lernmodell übertragen, das aus drei Phasen und sechs Stufen besteht (Taylor, 1989, 217).

  • Phase I: Weckung der bewussten Wahrnehmung
    • Stufe 1: Erleben auslösender Ereignisse
    • Stufe 2: Begegnung mit der Wirklichkeit
  • Phase II: Transformation der bewussten Wahrnehmung
    • Stufe 3: Erreichen des Übergangspunkts
      • a) Entscheidung, die Sicht der Realität zu verändern
      • b) Dramatischer Sprung oder Verlagerung, der bzw. die „einfach so geschieht“, ohne bewusst geplant zu sein
    • Stufe 4: Gleichmäßige oder sprunghafte Transzendierung des bisherigen Rahmens
  • Phase III: Integration der bewussten Wahrnehmung
    • Stufe 5: Persönliches Engagement
    • Stufe 6: Letztbegründung und Weiterentwicklung

Insgesamt also umfasst das transformative Lernen eine Reihe von Lerneinheiten, beginnt mit einem desorientierenden Dilemma, in das man sich freiwillig (narrativ) begibt und endet mit einer veränderten Perspektive. Auch wenn der transformative Prozess individuell ist, ist das transformative Lernen ein soziales Geschehen, denn die Unterstützung eines Gegenübers oder einer Gruppe ist von immenser Wichtigkeit.

Als Lernziele des transformativen Lernens wird es den Lernenden möglich sein, „zu dekontextualisieren, sich der geschichtlichen Entwicklung, der Zusammenhänge [...] und der Konsequenzen ihrer Überzeugungen stärker bewußt [sic] zu werden, in ihrer Bewertung des Problemlösungsprozesses und seines Gegenstandes sowie der Art und Weise ihrer Beteiligung an diesem Prozeß [sic] reflexiver und kritischer zu werden, sich in der Beurteilung vorgefaßter [sic] Ideen zurückzuhalten sowie in aller Offenheit Beweise zu prüfen und Argumente zu bewerten [...] [und] den Perspektiven anderer gegenüber offen zu sein“ (Mezirow, 1997, 183).

Im Vergleich zur Überprüfung des Gelernten bei einer Kompetenzorientierung (→ Kompetenzorientierter Religionsunterricht) ist zu fragen, wie das transformative Lernen evaluiert werden kann. Es gibt die Möglichkeit, sich dabei auf die kritisch-reflexive Haltung zu fokussieren oder anhand hypothetischer Dilemmata eine Gruppendebatte über den Veränderungsprozess zu führen um ein Vorher-Nachher zu erörtern.

4. Bedingungen des transformativen Lernens

Es gibt Bedingungen bzw. notwendige Voraussetzungen, die einen transformativen und emanzipatorischen Lernprozess erst ermöglichen. Diese betreffen vor allem die Lernumgebung und das Verhalten des Pädagogen bzw. der Pädagogin (→ Lernende/Lehrende).

In Bezug auf die Lernumgebung sollte es den Lernenden möglich sein, frei von Zwängen und Selbsttäuschung sowie innerhalb der Lerngruppe gleichberechtigt zu sein und sie sollten die Fähigkeit besitzen, Argumente abzuwägen und zu bewerten sowie kritisch-reflexiv zu denken. Abgesehen davon, dass die Lernenden offen gegenüber alternativen Perspektiven sein sollten, akzeptieren alle einen „sachkundigen, objektiven und rationalen Konsens als legitimen Validitätstest“ (Mezirow, 1997, 169).

Die für den transformativen Lernprozess tätigen Pädagoginnen und Pädagogen sollten u.a. das Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihnen und den Lernenden so gering wie möglich halten und das soziale Lernen zwischen allen Teilnehmenden fördern. Außerdem sind sie dafür verantwortlich, den Lernenden einen angemessen Zugang und eine Verwendung der Lernressourcen zu ermöglichen. Die Nutzung projektbezogener und kooperativer Lernmethoden sollten sie zudem für selbstverständlich erachten und eine kritisch-reflexive Haltung vorleben und fördern (Mezirow, 1997, 169f.).

5. Transformatives Lernen vor dem Hintergrund einer (r)BNE

Aus seinem Selbstverständnis heraus versteht sich das transformative Lernen als einen Bildungsprozess, der auch im Zusammenhang mit der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) relevant ist. 17 sogenannte Nachhaltigkeitsziele verabschiedeten die Vereinten Nationen im Herbst 2015, in denen sie festgelegt haben, in welchen Bereichen eine nachhaltigere Entwicklung gesichert werden muss, zu denen u.a. ein nachhaltiger Konsum bzw. eine nachhaltige Produktion oder Geschlechtergerechtigkeit gehören. Eine Bildung für nachhaltige Entwicklung soll alle Menschen dazu befähigen, die Konsequenzen des eigenen Handelns für die Mit-Welt zu verstehen und dementsprechend zukunftsfähig zu denken und zu handeln.

Somit sind Lernen und Bildung zentral zu verstehen, wenn es um die Bekämpfung von Klimakrise, des Verlustes von Biodiversität oder sozialen Disparitäten und die damit einhergehenden sozial-ökologischen Transformationsprozesse geht (→ Klimawandel). Vor diesem Hintergrund ist ein kognitives und emotionales Verstehen und ein aktives Mitgestalten aller Bürgerinnen und Bürger im Rahmen einer freiheitlich-demokratische Grundordnung maßgeblich. Das transformative Lernen hat sich in diesem Zusammenhang als produktiv herausgestellt und so werden bereits seit den 2000er Jahren beide Konzepte – also das transformative Lernen und BNE – aufeinander bezogen (Singer-Brodowski, 2016, 130). Ebenso kann das transformative Lernen auch in Bildungsprozessen des globalen Lernens (→ Globales Lernen) Berücksichtigung finden.

In Bezug auf den Bildungsbegriff ist es bemerkenswert, dass Bildung nicht nur funktional und intentional bestimmte Fertigkeiten und Fähigkeiten im Menschen hervorrufen soll, sondern auch Fragen u.a. nach dem Sinn des Lebens oder einer Suche nach Orientierung aufgreift. Beispielsweise für die EKD-Denkschrift „Maße des Menschlichen“ stellt Bildung den „Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertebewusstsein, Haltungen (Einstellungen) und Handlungsfähigkeit im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens [heraus]“ (EKD, 2003, 66). Vor diesem Hintergrund ist eine Bildung für nachhaltige Entwicklung stets als religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung (rBNE) zu begreifen (→ Bildung, religiöse). „Die Förderung einer kritischen Hoffnung im Sinne einer kritischen Analyse systemischer und politischer Machtverhältnisse einerseits und der Einschätzung auf diese Verhältnisse Einfluss nehmen zu können andererseits“ (Bormann/Singer-Brodowski/Taigel, 2021, 11), umreißt dabei nur einen möglichen Themenkomplex im Rahmen einer rBNE.

Auch wenn die vorschulische und die schulische Bildung im formalen Bildungssystem mit Sicherheit die bekannteste Lernumgebung für ein transformatives Lernen im Kontext der (religiösen) Bildung für nachhaltige Entwicklung bietet, kann ein solches Lernen auch an vielfältigen Orten neuer sozial-ökologischer Praktiken oder sozialer Innovationen für Nachhaltigkeit stattfinden (u.a. dem Zentrum für sozial-ökologische Transformation UKAMA der Jesuiten, https://ukamazentrum.net).

Insgesamt lassen sich nach Bormann, Singer-Brodowski und Taigel sechs unterschiedliche Impulse für die Verknüpfung des transformativen Lernens mit einer (r)BNE festhalten (Bormann/Singer-Brodowski/Taigel, 2021, 11):

  1. 1.Auch in der religiösen Bildung für nachhaltige Entwicklung sollte das transformative Lernen als produktiver Impuls für den Aufbau von Umweltbildung und BNE in sämtlichen Bildungskontexten Verwendung finden.
  2. 2.Im Rahmen von umweltpolitischen Maßnahmen sollten soziale Innovationsakteurinnen und -akteure unterstützt werden, da sie für die Generierung eines Jugendengagements vielfältige Potentiale bieten.
  3. 3.Die Zusammenarbeit von Schulen und außerschulischen Akteurinnen und Akteuren bilden die Grundlage für eine umfassende Realisierung von BNE.
  4. 4.Die Methode des Service Learning (u.a. Lernwerkstätten) sollte die Partizipationsmöglichkeiten der Jugendlichen und ihre Reflexionskompetenz betonen und von der Umweltpolitik unterstützt werden.
  5. 5.Allen Lernbegleiterinnen und -begleitern sollte die Möglichkeit geboten werden, ihren eigenen pädagogischen Umgang mit kontroversen Positionen (auch im Rahmen der Theologie) in Nachhaltigkeitsfragen zu professionalisieren.
  6. 6.Service Learning Projekte, die Jugendengagement ermöglichen, benötigen niedrigschwellige und langfristige Finanzierungsperspektiven.

6. Kritische Würdigung des transformativen Lernens

Das transformative Lernen verstanden als emanzipatorischer Akt birgt viele Lernchancen für alle Beteiligten in unterschiedlichen thematischen Kontexten. Ein genuin pädagogisches Ziel wird somit mit Hilfe von pädagogischen Methoden umgesetzt, denn eine Teilhabe im Transformationsprozess ermächtigt die an dem Prozess Beteiligten ihren eigenen Transformationsprozess nachhaltig zu konstruieren und strukturelle Defizite umzugestalten (Gichuru, 2020). Um dies auch im Laufe der Jahrzehnte aufrecht erhalten zu können, ist die Theorie des transformativen Lernens ihrem Selbstverständnis nach eine Theory in Progress (Eschenbacher, 2018, 311). Umso erstaunlicher ist es, dass abgesehen von einer Anwendung die Weiterentwicklung der Theorie zu stagnieren scheint (Eschenbacher, 2018). Beispielsweise hat bereits Eschenbacher auf die oft ungenaue und holzschnittartige Rezeption der Ideen von Habermas hingewiesen (Eschenbacher, 2018, 305). Edmund O’Sullivan kritisiert des Weiteren, dass Mezirow die kollektive Motivationspsychologie vernachlässigt und lediglich individuelle Prozesse beschreibt (O’Sullivan, 2002, 5).

In der pädagogischen Praxis und vor dem Hintergrund einer Bildung für nachhaltige Entwicklung wird ein Fortbildungsdefizit der Lehrkräfte bemängelt. „Dabei kann sich eine adäquate Professionalisierung der Multiplikator*innen für BNE nicht nur auf inhaltliche Aspekte von nachhaltiger Entwicklung beziehen, sondern muss die vielfältigen methodisch-didaktischen Ansprüche [...], die mit BNE einhergehen, aufgreifen“ (Bormann/Singer-Brodowski/Taigel, 2021, 17).

Wenn das transformative Lernen darauf abzielt, mit Hilfe der Vermittlung von Expertise nachhaltige Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen individuell zu fördern, kann zudem gefragt werden, ob Bildung nicht instrumentalisiert wird, um (angestrebte) gesellschaftliche Transformationsprozesse zu lancieren. Abgesehen von einer notwendigen Transparenz in Bezug auf nicht-nachhaltige Alltagsideologien (Schild/Leng/Hammer, 2019, 35), sollte der Beutelsbacher Konsens in Zusammenhang mit dem transformativen Lernen gebracht werden (→ Beutelsbacher Konsens). Eine unaufhebbare Gemeinsamkeit besteht in der Mündigkeit vor Indoktrination. Bereits Mezirow zufolge kann man „nicht durch Indoktrination emanzipiert werden. Wenn wir jedoch lernen, unsere individuelle historische und biographische Situation zu verstehen, trägt dies in umfassender Weise zur Entwicklung von Autonomie und Verantwortungsbewußtsein [sic] bei der Entscheidung der Frage bei, wie unsere Probleme zu definieren sind und welche Verfahrensweise unter den gegebenen Umständen am besten geeignet ist“ (Mezirow, 1997, 73).

Literaturverzeichnis

  • Aschersleben, Karl, Welche Bildung brauchen Schüler? Vom Umgang mit dem Unterrichtsstoff Bad Heilbrunn 1993.
  • Blum, Jona u.a. (Hg.), Transformatives Lernen durch Engagement. Ein Handbuch für Kooperationsprojekte zwischen Schulen und außerschulische Akteur*innen im Kontext für Bildung für nachhaltige Entwicklung, Dessau-Roßlau 2021.
  • Bormann, Inka/Singer-Brodowski, Mandy/Taigel, Janina, Transformatives Lernen im Kontext sozial-ökologischer Transformationsprozesse. Impulse, Erkenntnisse und Empfehlungen für Bildung für nachhaltige Entwicklung aus dem ReFoPlan-Vorhaben TrafoBNE, Dessau-Roßlau 2021.
  • Eschenbacher, Saskia, Transformatives Lernen im Erwachsenenalter. Kritische Überlegungen zur Theorie Jack Mezirows, in: Lang, Peter (Hg.), Studien zur Pädagogik, Andragogik und Gerontagogik. 75, Berlin/Bern/New York 2018.
  • Fuhr, Thomas, Lernen im Lebenslauf als transformatives Lernen, in: Hof, Christiane/Rosenberg, Hannah (Hg.), Theorie und Empirie Lebenslanges Lernen, Wiesbaden 2018, 83-104.
  • Gichuru, Naomi, Education for Positive Change. Transforming the “Valley of Death” to a Valley of Life, in: Holthoff, Timo/Salminen, Sonja (Hg.), Transformative Learning Journeys. Venturing into the Wilds of Global Citizenship Education, Helsinki 2020, 154-161.
  • Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (Hg.), Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Eine Denkschrift, Gütersloh 2003.
  • Mezirow, Jack, Transformative Erwachsenenbildung, Grundlagen der Berufs- und Erwachsenenbildung 10, Baltmannsweiler 1997.
  • Mezirow, Jack, Perspective Transformation, in: Adult Education Quarterly 28 (1978) 2, 100-110.
  • O’Sullivan, Edmund, The Project and Vision of Transformative Education. Integral Transformative Learning, in: O’Sullivan, Edmund/Morrell, Amish/O’Connor, Ann (Hg.), Expanding the Boundaries of Transformative Learning. Essays on Theory and Praxis, New York 2002, 1-12.
  • Schild, Kirsten/Leng, Marion/Hammer, Thomas, Die Rolle vom Transformativen Lernen für eine Bildung für Nachhaltige Entwicklung an der Hochschule, in: Bulletin VSH-AEU (2019) 2, 34-40.
  • Sharp, Helen/Petschow, Ulrich/Arlt, Hans-Jürgen/Jacob, Klaus/Kalt, Giulia/Schipperges, Michael, Neue Allianzen für sozial-ökologische Transformationen, Dessau-Roßlau 2020.
  • Singer-Brodowski, Mandy, Transformatives Lernen als neue Theorieperspektive in der BNE, in: Forum Umweltbildung im Umweltdachverband (Hg.), Jahrbuch Bildung für nachhaltige Entwicklung – im Wandel, Wien 2016, 130-139.
  • Taylor, Edward W., Fostering Transformative Learning, in: Taylor, Edward W./Mezirow, Jack (Hg.), Transformative Learning in Practice. Insights from Community, Workplace, and Higher Education, San Francisco 2009, 3-17.
  • Taylor, Jane, Transformative Learning. Becoming Aware of Possible Worlds, Vancouver 1989.

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