Schulbuchforschung
(erstellt: Januar 2015)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Schulbuchforschung.100008
1. Ein allgemeinbildendes Schulbuchwerk
„Pambiblia nennen wir […] den gesamten Bestand an Büchern, die für eine universelle Gesamtbildung bestimmt und nach den Gesetzen einer allumfassenden Methodik zusammengestellt sind. […] Wie viele sollen es aber sein? So viele, wie es Altersgruppen- bzw. Jahrgangs-Klassen und demgemäß unterschiedliche, einander untergeordnete Lernfortschrittsziele gibt. […] Aber auch innerhalb der gleichen Lernklasse muss man Stufen unterscheiden, wobei drei besonders erwähnenswert sind: die Anfänger, die Fortgeschrittenen und die sich Vervollkommnenden. […] Die Schulbüchlein sollen so geschrieben werden, dass derselbe Text sowohl den Anfängern als auch den Fortgeschrittenen und den Fertigen dienen kann […]. Das lässt sich erreichen, wenn der Text selbst durch seine unterschiedliche Charakteristik [das Druckbild] die Aufgaben verteilt […]. Um ein Beispiel zu geben: 'GOTT, jener Anfang ohne Anfang, die Quelle alles Seienden, weil er die Erhabenheit seiner unendlichen Macht, Weisheit und Güte offenbaren wollte, SCHUF er aus dem Nichts diese sichtbare WELT und schmückte sie mit einer unbegrenzten Vielfalt der schönsten Formen […]'" (Comenius, 1966, Bd. II, Sp. 66-69 = Pampaedia VI. 2.8.10).
Der große Pädagoge, Theologe und Pansoph Johann Amos Comenius (1592-1670) war wohl der erste, der eine Schulbuchtheorie formulierte und diese teilweise auch konkret und praktisch zu realisieren suchte. Nach den beiden Prinzipien der Schulklassen- bzw. Stufendifferenzierung (modern gesprochen: im Sinne eines Sprialcurriculums) und der Differenzierung nach Leistungsstärke innerhalb einer Klassenstufe (modern gesprochen: im Sinne einer Binnendifferenzierung) kommt er zu einem vertikal wie horizontal jeweils dreifach, also insgesamt neundimensional gegliederten Grundschema. Hierbei realisierte er die vertikale Gliederung im Best- und Longseller „Orbis Pictus“ von 1658 (Comenius, 1985) mit seiner dreifach gestuften Präsentation desselben Wissensstoffes im Bild (für die „Mutterschule“, also die häusliche Erziehung bzw. die Kindergartenzeit), in der jeweiligen Landessprache (für die „Muttersprachschule“, also die Grundschulzeit) und zuletzt auf Latein (für die „Lateinschule“, also die weiterführende Schule bzw. das Gymnasium). Bereits bei Comenius finden wir auch Ansätze einer Schulbuchanalyse, wenn er – natürlich noch nicht in systematischer, wissenschaftlicher Weise – auf dem Markt befindliche Schulbücher seiner Zeit kritisch sichtete und kommentierte.
2. Schulbuchanalyse und Schulbuchforschung
2.1. Entstehung und Zentren
Entstehung: Nach den Erfahrungen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs traten der Völkerbund bzw. dann die UNESCO für Schulbuchanalysen und -revisionen auf internationaler bzw. bilateraler Ebene ein, die die jeweils durch Schulbücher den nachwachsenden Generationen vermittelten Feindbilder – vorrangig von Nachbarvölkern – kritisch analysieren und durch konstruktive Schulbuchempfehlungen minimieren oder gar eliminieren sollten. Aus diesem politischen Grundanliegen heraus entwickelte sich in der Bundesrepublik eine systematische Schulbuchanalyse und Schulbuchforschung, die sich zunehmend professionalisierte, differenzierte und verzweigte (Olechowski, 1995; Wiater, 2003).
Kristallisationszentren der Schulbuchforschung in der Bundesrepublik Deutschland waren und sind (zur internationalen Situation s. u.a.: http://www.edumeres.net/nc/informationen/home.html
- das in seiner heutigen Form seit 1975 bestehende Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung (GEI) (http://www.gei.de/das-institut.html
) mit einer beachtlichen Schulbuchsammlung, Forschungs- wie Veröffentlichungstätigkeit inklusive Bibliographieerstellung zur Schulbuchanalyse sowie der drei Jahrzehnte lang, also über eine Generation hinweg erscheinenden Zeitschrift Internationale Schulbuchforschung 1 (1979) – 30 (2008), seit 1996 mit dem Zweittitel: International Textbook Research, im Jahr 2009 durch die in digitaler Form erscheinende Zeitschrift The Journal of Educational Media, Memory, and Society (JEMMS) abgelöst - die 1997 gegründete Internationale Gesellschaft für historische und systematische Schulbuchforschung e.V. (http://www.schulbuch-gesellschaft.de
) mit jährlich stattfindenden Tagungen und der Schriftenreihe Beiträge zur historischen und systematischen Schulbuchforschung (2003ff.). - Daneben entstanden und entstehen vielerorts und mitunter wenig miteinander vernetzt zahlreiche Forschungsarbeiten, oft in der Form wissenschaftlicher Qualifikationsarbeiten, insbesondere von Dissertationen, in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Fachdisziplinen bzw. -didaktiken.
2.2. Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse
Erkenntnisleitende Interessen: Der Entstehungskontext wie auch der innere Impetus bedingten eine deutliche Akzentuierung auf der Aufdeckung von Freund-Feind-Schemata (Durović, 2010) und dem Abbau von Vorurteilen (s. u.a. viele bilaterale, etwa deutsch-israelische Schulbuchempfehlungen im Zusammenhang von Schulbuchforschungen). Seit einiger Zeit ist jedoch zugleich das Bemühen der Schulbuchforschung zu erkennen, ihre Wissenschaftlichkeit hervorzuheben und die Unabhängigkeit von politischen und wirtschaftlichen Einflüssen zu akzentuieren.
Als Untersuchungsthemen standen und stehen weiterhin im Vordergrund: „Wir-Sie“-Strukturen, d.h. Freundschemata und Feindbilder, Vorurteile, das Verhältnis zwischen Deutschland und anderen Ländern, zuerst zu Frankreich und zu Israel, dann zu den östlichen Nachbarn Polen und Tschechien (einschließlich des Themas „Vertreibung“), die Fragwürdigkeit einer nationalen sowie komplementär dazu die Möglichkeit wie Sinnhaftigkeit einer europäischen Identität; deutlich nachgeordnet: die Darstellung von Ökonomie, Wirtschaft, Werbung oder auch Zeitthemen wie „Nachhaltigkeit“; in jüngerer Zeit stehen die Pluralisierung und Diversifizierung der Gesellschaft im Zentrum des Interesses und dabei auch das Thema der Religionen, insbesondere des Islam, der bereits in der zweiten Hälfte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts Gegenstand eines mehrbändigen Untersuchungsprojektes war (7 Bände zwischen 1986 und 1990, unter Leitung von Abulla Al-Jawad Falaturi sowie Udo Tworuschka; zur gegenwärtigen Situation s. u.a. Georg-Eckert-Institut, 2011).
Analysedimensionen: Während traditionell thematisch akzentuierte Inhaltsanalysen die Schulbuchforschung dominierten, ist diese in jüngerer Zeit um wesentliche Dimensionen angereichert und erweitert worden:
- Analysen unter fachdidaktischen Perspektiven – hierbei vergrößert sich auch der Kanon der untersuchten Fächer (traditionell Geographie, Geschichte und Politik, dann zusätzlich sprach- und literaturwissenschaftliche Fächer) in jüngerer Zeit um den mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich
- Analysen des Schulbuchs als Medium (Lernmedien, Bilder, Aufgaben) im Verbund weiterer im Unterricht verwendeter, vor allem digitaler Bildungsmedien (Matthes/Schütze/Wiater, 2013), wobei das Schulbuch als klassisches Leitmedium mit Orientierungsfunktion im Medienverbund weiterhin eine wichtige Funktion behält
- Analysen der Entstehung und gesellschaftlichen Produktion von Schulbüchern, wobei sich die Vorstellung eines staatlichen Durchgriffs auf das schulische Lernen über Lehrplanvorgaben und Schulbuchzulassung, wie sie etwa der Deutsche Bildungsrat im Jahr 1969 mit seiner Charakterisierung des Schulbuchs als „eigentliche Großmacht der Schule“ vertreten hatte, als problematisch, ja unhaltbar erweist (Heinze, 2011)
- Komplementär dazu treten die Nutzungs- und Wirkungsforschung, also Analysen zur Schulbuchzulassung, zum Schulbuchmarkt sowie zum tatsächlichen Einsatz von Schulbüchern durch Lehrkräfte und zu ihrer Rezeption durch → Schülerinnen und Schüler
(Fuchs/Kahlert/Sandfuchs, 2010; Doll u.a., 2012; Rezat, 2009) hinzu.
Die Inhaltsanalyse ist also um eine Prozess-, Produkt- und Wirkungsorientierung erweitert worden, wobei sich letztere wiederum in unterschiedliche Aspekte ausdifferenzieren lässt, nicht nur der Wirkungen – wie in der Frühzeit dominierend – auf (1) Öffentlichkeit und internationale Beziehungen, sondern auch auf (2) die Lehrkräfte und (3) die Schülerinnen und Schüler als den eigentlichen, primären Adressaten des Schulbuchs.
Forschungsmethoden: Stand ursprünglich ganz die Inhaltsanalyse im Zentrum des methodischen Zugriffs, verbunden mit ideologiekritischen Ansätzen, hat sich das Methodenspektrum in jüngerer Zeit wesentlich erweitert und bezieht nun linguistische Methoden und Diskursanalyse, Fragebogen-Erhebungen, in Ansätzen auch quantitative, also ein ganzes Bündel an empirischen Methoden, ein.
3. Religionsbuchforschung
3.1. Entstehung und Zentren
Auf der einen Seite wurde das Religionsbuch (→
Die wissenschaftliche Religionsbuchforschung findet demnach wenig beachtet und dezentral, aber doch kontinuierlich und mit beachtlicher Stringenz statt, vor allem in Qualifikationsarbeiten, vorrangig Dissertationen. Für die ersten gut zwei Dekaden (1969-1990) weist eine Auflistung knapp zwanzig große Arbeiten auf, also pro Jahr knapp eine (Dieterich, 1992, 137), was sich ähnlich, wenn auch in etwas verringerter Frequenz, bis zur Gegenwart fortsetzt.
3.2. Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse
Die Religionsbuchforschung zeigt sich in vielerlei, allerdings nicht in jeder Hinsicht als ein Spiegel der Schulbuchforschung. Ebenso wie bei den allgemeinen Schulbuchanalysen dominierten in der Frühzeit ideologiekritisch (→
In jüngerer Zeit konzentriert sich die Religionsbuchforschung auf zeitgemäße Fragen wie die → Genderthematik
4. Eine historische Analyse zum Thema Moderne
Zur Veranschaulichung seien beispielhaft einige Ergebnisse einer bereits älteren, jedoch sehr umfangreichen, einen ungewöhnlich weiten Untersuchungszeitraum und eine große Anzahl an Materialien (228 zum Teil mehrbändige Werke) einbeziehende, inhaltsanalytisch orientierte und zugleich ansatzweise auch mit quantitativen Methoden arbeitende Religionsbuchanalyse des Verfassers vorgestellt (Dieterich, 1990, zusammenfassend Dieterich, 1994 bzw. 1997).
Gegenstand der Untersuchung waren – neben anderen Aspekten – Vorkommen und Darstellung der Naturwissenschaften in Religionsbüchern beider großen Konfessionen in Deutschland zwischen 1918 und 1985. Ein erstes wichtiges Ergebnis der Studie zeigte, dass sich die Religionsbücher recht exakt den jeweils herrschenden religionsdidaktischen Konzeptionen zuordnen lassen, so dass man von einer Religionsbuchgeneration der „liberalen“ (besser: „reformpädagogischen“) Religionsdidaktik (1918-1933), der „Evangelischen Unterweisung“ bzw. des „Kerygmatischen Unterrichts“ (1945-1968) sowie der themenzentrierten Konzeption (nach 1968) sprechen kann. Für die evangelischen Religionsbücher zeigte eine Raumanalyse, die den Anteil einer Themenstellung im Verhältnis zum Gesamtumfang eines Werkes bestimmt, dass die Thematik des Verhältnisses von Theologie und Naturwissenschaft in den Werken der → Evangelischen Unterweisung
In thematischer bzw. kommunikativer Hinsicht wurden fünf Kategorien der Zuordnung von Theologie und Naturwissenschaften unterschieden: zwei Formen einer verzerrten Darstellung: das ‚antagonistische' (szientistische, hier jedoch in der Regel biblizistische) sowie das „topologische“, theologische Aussagen nur in scheinbaren „Lücken“ der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ansiedelnde Modell; dann das Programm eines Kommunikationsabbruchs (einer Nicht-Beziehung oder Diastase); zuletzt zwei Formen einer konstruktiven Auseinandersetzung bzw. Kommunikation zwischen beiden Bereichen (Monismus und Dialog). Eine Häufigkeitsanalyse zeigt nun eine Abnahme nicht-kommunikativer wie eine Zunahme kommunikativer Modelle im neuen, themenzentrierten Religionsbuch und eine Dominanz des Trennungsmodells im Religionsbuch der → Evangelischen Unterweisung
Diese Ergebnisse bestätigen noch einmal die Thesen einer religionsdidaktischen Zuordenbarkeit des Religionsbuchs wie des Bemühens um Vorurteilsabbau und eine angemessene, dialogische Thematisierung von Fremdperspektiven im neueren Religionsbuch, erweitern und differenzieren letztere jedoch zugleich noch einmal in dialektischer Weise aus. Denn sie zeigen zum einen die Geschichte der Schulbuchentwicklung nicht als lineares Fortschrittsgeschehen, sondern als vielschichtigen, teilweise auch spannungsvollen Prozess, und weisen zum zweiten auf die ständig notwendige Weiterentwicklung und wohl nie zu einem endgültigen Abschluss kommende Austarierung von Selbstpositionierung sowie Fremdpositionswahrnehmung, Dialogorientierung und Pluralitätsoffenheit hin.
5. Ausblick
Als Zusammenfassung und Ausblick drei Thesen:
- Schul- bzw. Religionsbuchforschung sollte sich neben ihrer selbstverständlichen und sinnvollen Funktion als Spiegel und Abbild bzw. „Doppelung“ gesellschaftlicher Realität auch mit dem „Unzeitgemäßen“ befassen, nach (ihren) blinden Flecken suchen, sich also verstärkt selbstreflexiv (und evtl. auch historisch) ausrichten.
- Schul- bzw. Religionsbuchanalyse hat die Entwicklung des Schul- bzw. Religionsbuchs besonders im Blick auf die Vorurteilsthematik (Darstellung des Eigenen wie des Anderen/Fremden) kritisch begleitet und kann hierin weiterhin eine wichtige aufklärerische, Vorurteile abbauende und pluralismusfördernde Funktion erfüllen.
- Wie die Schulbuchforschung sollte sich auch die Religionsbuchanalyse zunehmend auf die Erforschung der Rezipierendenseite hin öffnen (Lehrkräfte, → Schülerinnen und Schüler
, Unterrichtsrealität, Medienverbund).
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
- Raumanalyse zum Themenfeld Naturwissenschaft und Theologie im Evangelischen Religionsbuch Veit-Jakobus Dieterich
- Häufigkeitsanalyse aller Modelle der Zuordnung von Theologie und Naturwissenschaften bei beiden Konfessionen Veit-Jakobus Dieterich
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