Performativer Religionsunterricht, evangelisch
(erstellt: Januar 2015)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Performativer_Religionsunterricht.100017
1. Performanzorientierte Religionsdidaktik im Kontext
Aus Gründen, die im Folgenden ersichtlich werden sollen, wird in diesem Artikel der Begriff „performanzorientierte Religionsdidaktik“ anstelle der ebenfalls kursierenden Begriffe „performative Religionspädagogik“ oder „performativer Religionsunterricht“ vorgezogen. Es geht a) (im Gegensatz zu bisweilen in → kritischer
Den Auftakt bietet ein von Rudolf Englert redigiertes Heft der Zeitschrift „rhs - Religionsunterricht an höheren Schulen“ (Englert, 2002), in dem Hans Schmid, Ingrid Schoberth und Bernhard Dressler zu Beiträgen über das religionsdidaktische Problem eingeladen wurden, dass religiöse Kommunikation den Rahmen begrifflich-verbalsprachlicher Kommunikation aufsprengt. Dressler votierte, ausgehend von → Friedrich Schleiermachers
Performanzorientierte Religionsdidaktik schließt an den in Peter Biehls → Symboldidaktik
Begrifflich wird auf den in der Sprechakttheorie von John Austin entwickelten Gedanken rekurriert, dass Sprechen nicht nur als Informationsaustausch und zur Feststellung von Sachverhalten dient, sondern auch ein Handeln ist („how to do things with words“), das nicht auf eine außersprachliche → „Wahrheit
Neben der sprechakttheoretischen Bedeutung von Performativität liegt hier die kulturtheoretische Bedeutung von Performanz als Modus kommunikativer Vollzüge (z.B. im theatralen Sinne von „performance“) zugrunde. Die Kategorie der Performanz ermöglicht es, kulturelle Lebensäußerungen vergleichend zu beobachten, und zwar nicht mehr als Produkte des Geistes oder der → Gesellschaft
Drei unterschiedliche theoretische Profile, in denen Performanz religionspädagogisch modelliert wird, treten in den von Leonhard/Klie (2003) zusammengestellten Beiträgen auf evangelischer Seite hervor: Zeichendidaktisch wird die ursprünglich von der → Symboldidaktik
Eine offene Frage ist es, wie unter den konkreten schulischen Bedingungen des Religionsunterrichts die für Zilleßens Position erforderliche Gleichzeitigkeit von Selbstrelativierung und Subjektstärke auszubalancieren ist. Im Blick auf die Schulwirklichkeit erscheint Bizers Erwartung prekär, die Präsenz des Heiligen unterrichtlich evozieren zu können. Liturgik und Didaktik werden bei ihm bis an die Grenze ihrer Unterscheidbarkeit verschränkt. Die Schule stellt nur im Ausnahmefall genug Raum für den Aufbau der von Bizer mit Recht vorausgesetzten, aber auch besonders störungsanfälligen „Atmosphären“ bereit. Es geht zunächst – bescheidener – um eine Religionsdidaktik, die auch in der schulischen Normalsituation der Einsicht gerecht wird, dass man nicht über Religion kommunizieren kann, ohne dass wenigstens eine Ahnung von religiöser Kommunikation ins Spiel gebracht wird.
Starke Resonanz findet die Diskussion um einen performativen Religionsunterricht auch unter katholischen Religionspädagogen. Englert sieht dabei eher kritisch eine Art „Kompensationsabsicht“ wirksam (Englert, 2008), die wohl in der Tat illusionär ist. Eine nicht in Sozialisationsprozessen wurzelnde, sondern allererst in Bildungsprozessen erschlossene Religion unterliegt unvermeidlich einem Umformungsprozess, den man didaktisch wollen muss. Zwar mag die liturgiedidaktische Abstinenz auf katholischer Seite schon immer weniger stark ausgeprägt gewesen sein als in der evangelischen → Religionspädagogik
In diesen Kontext, in dem sich eine performanzorientierte Religionsdidaktik entwickelt und zur Geltung gebracht hat, gehört schließlich auch noch die Wende zur Kompetenzorientierung des Religionsunterrichts (→ Kompetenzorientierter Religionsunterricht
2. Religionstheoretische Begründungen
Es entspricht dem christlichen Glauben in seinem Kern, wenn er, als Religion betrachtet, hinsichtlich seines Propriums modal bestimmt wird. Personenmerkmale (über die Religion auch in avancierten → Religionssoziologien
Eine an religiösen Vollzugsformen und an der Fähigkeit zur urteilsfähigen Teilnahme an religiöser Praxis orientierte Religionsdidaktik setzt die Unterscheidung zwischen → Glaube
Jeder Unterricht (in allen Fächern) bewegt sich innerhalb eines Spektrums von Teilnahme und Beobachtung und bemüht sich dabei (wie jede Kulturwissenschaft) um unterschiedliche Grade der Partizipation an unvertrauten kulturellen Praxen. Dabei geht es jeweils um die Art und Weise des Praxisbezugs, weniger um Einfühlungsqualitäten oder psychische Beteiligung. Im Spektrum unterschiedlicher Distanzspielräume zwischen teilnehmender Bobachtung und beobachtender Teilnahme ist eine vollständige Unterscheidung zwischen „Innen“ und „Außen“ nicht möglich. Das Handeln, nicht die Psyche, ist das „Innen“. Dass sich Verstehen über die Teilnahme an Sprachspielen und kulturellen Praxen konstituiert, ist kein theologisches Sonderproblem, sondern ein Problem der Sozial- und Kulturwissenschaften insgesamt. In diesem Kontext kann die Normativität der → Religionspädagogik
3. Didaktische Konkretionen
Auf die Nähe einer performanzorientierten Religionsdidaktik zur Kompetenzorientierung und zur Zeichendidaktik (einschließlich der damit verbundenen Anerkennung unhintergehbarer Ambiguität religiöser Kommunikation) wurde bereits hingewiesen. Der Zusammenhang mit einer Didaktik des Perspektivenwechsels (Dressler, 2008) liegt auf der Hand. Es geht um Teilnahme und Beobachtung, d.h. um das Verhältnis von experimenteller Ingebrauchnahme religiöser (nicht, oder erst in zweiter Hinsicht: theologischer) Kommunikation und deren systematischer (im wissenschaftspropädeutischen Unterricht der Sekundarstufe II dann auch theologischer) Reflexion.
Indem die religionsdidaktisch begrenzte Reichweite und Erschließungskraft verbalsprachlicher Diskursivität neu bewusst wird, werden zugleich neue Möglichkeiten → leib
Eine performanzorientierte Didaktik wird zu Unrecht auf den Aspekt des „Probehandelns“ reduziert, wobei dann gelegentlich eingewandt wird, man könne nicht „probebeten“ oder „probeweise an Gott glauben“. Im Religionsunterricht geht es gar nicht darum – weder „authentisch“ noch „probeweise“ – zu glauben, sondern darum, den Modus religiösen Weltzugangs zu verstehen, also auch darum, dass die konstitutive semantische Bedeutung kommunikativer Vollzüge nicht nur aus didaktischen, sondern aus sachlichen Gründen des Gegenstandsbezugs bei religiösen Lernprozessen berücksichtigt werden muss.
Durch den Wechsel von Perspektiven, d.h. durch den Wechsel von Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Handlungskontexten, sollen unterschiedliche Bedeutungen gleichsam „erzeugt“ und unterschieden werden. Die semantische Funktion der performanzorientierten Didaktik soll methodisch dadurch zur Geltung kommen, dass die unterschiedlichen Perspektiven von Ingebrauchnahme und Reflexion syntaktisch an ihren jeweiligen Übergängen markiert und untersucht werden.
Bereits im Zuge des sogenannten → „kompetenzorientierten“ Religionsunterrichts
Bei Experimenten mit Gebetssprache geht es darum, die performative Sprachgestalt in ihrem Eigensinn (etwa im Unterschied zu magischen Praktiken) zu verstehen. Zur Verhältnisbestimmung von → Ethik
4. Performative Religionsdidaktik am → Lernort Gemeinde
Im schulischen Religionsunterricht wird nicht nur wegen seiner allgemeinbildenden Bedeutung und wegen der besonderen Lernatmosphäre der Schule, sondern insbesondere mit Rücksicht auf die religiöse → Heterogenität
Ebenso wie ein der religiösen Alphabetisierung dienender Religionsunterricht werden aber auch gemeindliche Bildungsprozesse in nicht geringem Maße als Sprachlehre, d.h. als Einführung in die Grammatik religiöser Kommunikation verstanden werden müssen. In diesem Zusammenhang ist auch an liturgische Bildung zu denken (auf die die performanzorientierte Religionsdidaktik insgesamt in kritischer Absicht oft festgelegt wird), zumal sich auch agendarisch ein Verständnis von Liturgie durchgesetzt hat, das die Gemeinde als aktive Mitgestalterin des Gottesdienstes versteht.
Während religiöse Lehr-Lernprozesse in der Schule vor allem das Missverständnis zu bearbeiten haben, das der christlichen Religion kirchlich monopolisierte Richtigkeitsansprüche zuschreibt (um sie eben deshalb überwiegend vehement abzulehnen), stellt sich in gemeindlichen Bildungsprozessen vornehmlich die Aufgabe, das affirmative Verständnis solcher Richtigkeitsansprüche gleichsam zu unterlaufen, um der → Kommunikation des Evangeliums
Literaturverzeichnis
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