Inklusion
(erstellt: Januar 2015)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/100019/
Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Inklusion.100019
1. Einleitung
Inklusion bezeichnet die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen und beschreibt damit eine gesellschaftliche Vision. In Deutschland ist der Begriff Inklusion, vorher Integration, insbesondere im Bezug auf Menschen mit Behinderungen sowie auf Menschen mit Migrationshintergrund (→ Migration
Entscheidende Impulse haben rechtliche Rahmenbedingungen gesetzt, etwa das Benachteiligungsverbot (Grundgesetz Artikel 3,3) oder Antidiskriminierungsgesetze, z.B. aufgrund von Behinderung oder sexueller Orientierung. Eine grundlegende Veränderung entsteht durch die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Sie wurde 2006 von der UNO verabschiedet und in der Folge rechtsverbindlich in den Mitgliedsländern (Österreich 2008, Deutschland 2009, Schweiz 2014). Die UN-Konvention (auch Behindertenrechtskonvention – BRK) bezieht sich auf alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens, die öffentliche Diskussion konzentriert sich insbesondere auf die Umgestaltung des Bildungswesens. Die UN-Konvention führt zu einer besonderen Beachtung der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Im Folgenden werden daher zentrale Entwicklungen inklusiver Bildung und → Religionspädagogik
2. Inklusion im Bildungswesen
2.1. Von der Exklusion zur Inklusion
Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen formuliert für den Bildungsbereich in Artikel 24,1: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage von → Chancengleichheit
Damit ist ein bildungspolitischer Paradigmenwechsel erfolgt: Nicht das Kind muss sich an die Schule anpassen, sondern die Schule an das Kind. Das heißt: Nicht die Eltern des Kindes mit Behinderungen müssen – wie bisher – dafür streiten, dass ihr Kind in eine Regelschule aufgenommen wird. Vielmehr ist es Aufgabe der Schule und des Bildungswesens, die Voraussetzungen zu schaffen, dass jedes Kind dort beschult wird, wo es das möchte. Jedes Kind hat einen Rechtsanspruch auf eine wohnortnahe und qualitativ hochwertige Bildung. Jede Schule, auch das Gymnasium, muss jedes Kind mit einer Beeinträchtigung aufnehmen, wenn die Eltern dies wünschen. Damit ist eine grundlegende Umsteuerung im Bildungswesen sowie in der Lehrerbildung und den Fachdidaktiken erforderlich.
Das deutsche Bildungswesen war Jahrzehnte an einem mehrgliedrigen Schulsystem orientiert und hat zur Förderung von Kindern mit Behinderungen ein differenziertes Sonderschulwesen aufgebaut. Etwa 85% der Schülerinnen und Schüler mit „sonderpädagogischem Förderbedarf“ besuchten im Schuljahr 2008/09 eine der nach unterschiedlichen Behinderungen separierten Förderschulen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2010, 70). Integration galt als Ergänzung zum gegliederten Schulwesen. 2014 beträgt der Anteil der Kinder mit Eingliederungshilfen oder sonderpädagogischem Förderbedarf, die in Einrichtungen der frühkindlichen Bildung gemeinsam mit Kindern ohne Behinderungen betreut werden, mehr als zwei Drittel. Im Grundschulbereich sind es rund 44%, im Sekundarbereich I nur noch ungefähr 23% (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2014, 9).
Die Erfahrungen zahlreicher europäischer Länder und Kanadas, wissenschaftlich begleiteter Modellversuche und viele mit Preisen ausgezeichnete Schulen in Deutschland zeigen, dass ein gemeinsamer Unterricht möglich und erfolgreich sein kann.
Derzeit befindet sich das deutsche Schulwesen im Übergang: Inklusion wird verpflichtend eingeführt, die Förderschulen bleiben in den meisten Bundesländern parallel erhalten (Finanzierungsdilemma). Viele Fragen sind noch nicht abschließend geklärt, etwa räumliche und sächliche Ausstattung, Zuständigkeiten der Ämter und Finanzgeber, die Rolle der Förderschullehrkräfte. Die häufig vorgenommene Zuordnung zu einzelnen „Inklusionskindern“ bringt diese in eine Sonderrolle und führt zu einer Desintegration der Förderschul-Lehrkräfte. Demgegenüber ist eine Zuordnung der Lehrkräfte zu Schulen vorzuziehen, um dort multiprofessionelle Teams aufzubauen. Viele Lehrkräfte, auch die Religionslehrerinnen und -lehrer, sind bisher nicht ausreichend vorbereitet und begleitet.
Inklusion steht bildungspolitisch für mehr → Bildungsgerechtigkeit
2.2. Von der „Zwei-Gruppen-Theorie“ zur Normalität von Heterogenität
Inklusion geht davon aus, dass jede Lerngruppe → heterogen
Inklusion ist demnach noch nicht erreicht, wenn Kinder mit Behinderungen am gemeinsamen Unterricht teilnehmen. Sie brauchen qualitativ hochwertige Bildung und angemessene Förderung. Kinder müssen auch keine Mindestfähigkeiten aufweisen, um sich für Integration zu qualifizieren („Readiness-Modell“, vgl. Hinz, 2011, 20). Inklusion zielt vielmehr auf die Überwindung der sogenannten „Zwei-Gruppen-Theorie“ (vgl. a.a.O., 22), die behinderte und nichtbehinderte Schülerinnen und Schüler unterscheidet und ersteren „besondere“ Lernmittel, Lernmethoden, Räume und Lehrkräfte zuweist. Solange von zwei Gruppen ausgegangen wird, bleibt im Alltagsverständnis ein Unterschied bestehen: die Lernenden mit besonderem Förderbedarf erhalten zwar Unterstützung, ihr abweichender Bedarf wird jedoch immer wieder sichtbar gemacht. Dazu trägt auch bei, dass zugewiesene Lehrerstunden von der Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit diagnostiziertem Förderbedarf abhängen („Ressourcen-Etikettierung-Dilemma“, vgl.Möller/Pithan, 2014, 6). Daher werden zunehmend auch Kinder, die bisher in der Regelschule Teil der Gesamtgruppe waren, als Förderkinder diagnostiziert – z.B. wegen Lese-Rechtschreibschwäche oder AD(H)S –, um den Anteil der „Inklusionskinder“ zu erhöhen.
Demgegenüber geht die inklusive Pädagogik von einer heterogenen Lerngruppe aus, die sich in vielerlei Dimensionen unterscheidet, etwa: soziale und kulturelle Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung, religiöse Überzeugungen, Fähigkeiten und Beeinträchtigungen. Diese Heterogenität ist Ausgangspunkt des Lehrens und Lernens. Insofern „fällt Inklusive Pädagogik mit der wirklich allgemeinen Pädagogik zusammen“ (Sander, 2011, 242).
Beispielhaft für ein Modell, das die Aufmerksamkeit über die Differenzkategorie „Behinderung“ hinaus auch auf weitere Differenzkategorien richtet, steht das inklusive Erziehungs- und Bildungssystem in der kanadischen Provinz Ontario. Im Equity Foundation Statement des Toronto District Board werden fünf Standards genannt, an denen sich das Leitbild von Inklusion und Bildungsgerechtigkeit orientieren kann (vgl. Reich, 2012, 48-90):
- Ethnokulturelle Gerechtigkeit herstellen und → Rassismus
bekämpfen; - → Geschlechtergerechtigkeit
fördern und Sexismus überwinden; - → Diversität
in sozialen Lebensformen und -stilen zulassen und Diskriminierungen hinsichtlich sexueller Orientierung verhindern; - Sozioökonomische Chancengerechtigkeit erweitern, Armut als pädagogisches Problem in den Blick nehmen;
- Chancengerechtigkeit für Menschen mit Behinderungen ermöglichen.
Im Sinne einer stärkeren Berücksichtigung der religiösen Dimension könnte hier „Religiöse → Toleranz
Für die Weiterentwicklung inklusiver Bildung in Deutschland können die ersten Sätze der Präambel des Toronto-Statements richtungsweisend sein: „Wir erkennen, dass nach wie vor auch heute bestimmte Gruppen in der Gesellschaft und im Erziehungs- und Bildungssystem benachteiligt sind. Solche Benachteiligungen erwachsen sowohl aus gesellschaftlichen Strukturen wie auch individuellen Besonderheiten, die mit Zuschreibungen über Rasse, Hautfarbe, Kultur und Subkultur, ethnischer und sprachlicher Herkunft, Behinderungen, Krankheiten, sozio-ökonomischem Status, Alter, Geburtsstand, Nationalität und Lokalität, Herkunftsort, Glaube, Religion, biologischem Geschlecht und Geschlechterorientierung, sexueller Orientierung, Familienstatus, Eheverhältnissen und anderen Faktoren verbunden sind. Die aus solchen Zuschreibungen resultierenden Benachteiligungen sind uns bewusst und wir wollen die Ursachen solcher Zuschreibungen ebenso bekämpfen wie die realen Benachteiligungen, die sich aus mangelnder Förderung von Chancen und einer Ungleichbehandlung ergeben.“ (zitiert nach Reich, 2012, 49).
2.3. Index für Inklusion
Zur Umsetzung gleichberechtigter Teilhabe hat sich das Instrument des „Index für Inklusion“ bewährt. Ursprünglich zur Schulentwicklung in Großbritannien entstanden, wird er heute weltweit an Schulen eingesetzt. Der Index für Inklusion unterstützt eine Schule in ihrer je besonderen Situation darin, ein inklusives Schulprofil oder Schulprogramm zu entwickeln bzw. den gesamten Schulentwicklungsprozess inklusiv zu gestalten. Er zielt auf die Selbstevaluation einer Schule unter Beteiligung aller Gruppen durch eine „detaillierte Analyse, wie Barrieren für das Lernen und die Teilhabe aller SchülerInnen abgebaut und überwunden werden können“ (Booth/Ainscow, 2003, 8). Er macht „Vorschläge“ und „bietet eine Systematik, die dabei hilft, nächste – und zwar angemessen große oder kleine, verkraftbare, realistische – Schritte in der Entwicklung zu gehen“ (a.a.O., 3).
Drei Dimensionen stellt der Index ins Zentrum: inklusive Kulturen schaffen, inklusive Strukturen etablieren und inklusive Praktiken entwickeln. Zur Umsetzung dienen Fragen, die Verständigungs- und Entwicklungsprozesse generieren sollen.
Mittlerweile sind außerdem ein Index für Kindertagesstätten (vgl. Booth/Ainscow/Kingston, 2006) und ein Index für kommunale Entwicklung (vgl. Inklusion vor Ort, 2011) entstanden. Seit 2013 liegt ein Index für Kirchengemeinden vor, der Gemeinden bei der Entwicklung inklusiver Kulturen, Strukturen und Praktiken unterstützen will (vgl. Da kann ja jede[r] kommen, 2013). Eine Neufassung des Indexes für Schulen erscheint 2015.
Die Aufgabe der inklusiven Religionspädagogik (→ Inklusive Lehr- und Lernprozesse, religionspädagogisch
3. Religionspädagogik und Inklusion
Die Heterogenität der Schülerschaft wird in der → Religionspädagogik
3.1. Fachdidaktische Herausforderungen
Wiewohl die religionspädagogischen Konzeptionen bisher nicht oder kaum auf Inklusion bezogen wurden, wäre zu prüfen, ob und wie sie für heterogenitätsorientierten Unterricht tauglich sind. Aktuelle Beiträge zeigen Verbindungen zwischen dem Ansatz des → Theologisierens mit Kindern
Zur Entwicklung einer inklusiven Religionsdidaktik hat eine Projektgruppe am Comenius-Institut „Zehn Grundsätze für Inklusiven Religionsunterricht“ verfasst. Sie benennen als Kennzeichen für einen inklusiven Religionsunterricht u.a., dass
- „ein positives Verständnis von Unterschieden gefördert und Vielfalt als Bereicherung erfahrbar gemacht“ wird,
- ein „wertschätzender Umgang“ praktiziert und erfahrbar gemacht wird,
- „Barrieren für das Lernen und die Teilhabe aller am Unterricht beteiligter erkannt und verringert“ werden
- „die verschiedenen Interessen und Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt“ werden,
- „jede/r Unterstützung einfordern und anbieten“ kann,
- „Dialog ein durchgängiges Strukturprinzip“ des Unterrichts ist,
- „Lernangebote differenziert nach den individuellen Lernvoraussetzungen und Möglichkeiten gestaltet“ werden.
Die Grundsätze werden mit Merkmalen („Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass…“) und Indikatoren („Das erkennt man daran, dass…“) erläutert bzw. operationalisiert (vgl. Comenius-Institut, 2014b, Modul 1, Baustein 2).
Methodisch erfordert die inklusive Religionspädagogik, sei es im Religionsunterricht, im → Konfirmandenunterricht
Zu berücksichtigen sind auch unterschiedliche Lernwege, wie basal-perzeptive, konkret-handelnde, anschaulich-modellhafte und abstrakt-begriffliche Formen der Aneignung religiösen Wissens (vgl. z.B. Arbeitshilfe Religion inklusiv, 2012, 41-44). Aus fachdidaktischer Perspektive sind diese Zugangsweisen gleichberechtigt und allesamt konstitutiv für religiöse Bildungsprozesse. Die theologische und die religionspädagogische Fachwissenschaft konzentrieren sich dagegen häufig auf die abstrakt-begriffliche Form der religiösen Wissensaneignung. Das basal-perzeptive religiöse Erleben und Erfahren, wiewohl es allen Menschen eignet, wird nicht als gleichberechtigt mit dem hermeneutischen Zugang zu biblischen oder historischen Texten betrachtet. Inklusive Religionspädagogik braucht ein Verständnis religiöser Bildungsprozesse, das vielfältige Ausdrucksformen anerkennt und die religiöse Bildungsfähigkeit nicht an die Verbalsprachfähigkeit als dominantes Kriterium bindet.
Eine inklusive Religionsdidaktik bewegt sich auch in dem „Spannungsfeld zwischen individuellem Lernen und Bildungsstandards“. Für den Religionsunterricht sind zwar keine nationalen → Bildungsstandards
Auch in der inklusiven Didaktik können erwartete Kompetenzen formuliert und überprüft werden, doch sind sie nicht für alle Lernenden gleich. Vielmehr ist die Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler individuell zu beurteilen und an ihren Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten orientiert. Inklusiv verstandene Kompetenzorientierung zielt darauf, dass „alle Kinder und Schüler in Kooperation miteinander auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau nach Maßgabe ihrer momentanen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen in Orientierung auf die ‚nächste Zone ihrer Entwicklung‘ an und mit einem ‚Gemeinsamen Gegenstand' spielen, lernen und arbeiten“ (Feuser, 2005, 173f.). Diese Aufgabe stellt Religionslehrkräfte vor neue Herausforderungen.
3.2. Inklusive Aus- und Fortbildung für Religionslehrkräfte
Die Bildungsverantwortlichen der Bundesländer und freier Träger investieren in den Ausbau von Strukturen und in Maßnahmen der Professionalisierung von Lehrkräften für inklusive Bildung. Auch die Kirchen sehen, dass eine inklusive (Fort-)Bildung von Religionslehrkräften notwendig ist. Eine besondere Aufgabe ist die Weiterbildung der Lehrkräfte, die im Zuge eines gemeinsamen Unterrichts fachfremd Themen religiöser Bildung unterrichten.
Derzeit sind in Deutschland 80% der auf inklusive Bildung ausgerichteten Fortbildungsmaßnahmen auf die Differenzkategorie „Behinderung“ bezogen (vgl. Amrhein/Badstieber, 2013). Damit wird auf die zunehmende Zahl von Schülerinnen und Schülern mit diagnostiziertem Förderbedarf in der Regelschule reagiert. Im Sinne einer umfassenden Inklusion wird in Zukunft der Umgang mit → Heterogenität
Für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Religionslehrkräften ist eine weitere Professionalisierung in vier Bereichen sinnvoll, die hier mit den Überschriften der Module eines Fortbildungskonzeptes zur inklusiven Religionslehrer- und Religionslehrerinnenbildung (vgl. Comenius-Institut, 2014b) benannt werden:
- Vielfalt und Differenz – Kontexte und Voraussetzungen inklusiver Religionspädagogik,
- Inklusion und Exklusion – Haltungen und Werte,
- Kommunikation und Kooperation,
- Methodik und Didaktik des inklusiven Religionsunterrichts.
Damit ist eine Professionalisierung (→ Professionsforschung
Neue Herausforderungen stellen auch die notwendigen Kooperationen in den multiprofessionellen Teams dar, z.B. zwischen den Regellehrkräften und den Assistentinnen und Assistenten oder den Förderschullehrkräften. Diese erfordern eine Auseinandersetzung mit der eigenen Professionalität (Einzelkämpfer oder Teil eines Teams) und der jeweiligen Rolle. Zentral für eine gelingende Kooperation – auch mit den Schülerinnen und Schülern – ist es, eine wertschätzende und ressourcenorientierte Haltung und Sprache zu erlernen. Angesichts einer weithin an Defiziten und Bewertungen orientierten Unterrichtskultur ist dies eine Herausforderung, die mit einem kontinuierlichen Lernprozess für alle Beteiligten verbunden ist. So sind diskriminierende und beschämende Aussagen zu vermeiden und defizitorientierte Rückmeldungen durch fördernde, ressourcenorientierte zu ersetzen (reframing). Wertschätzend miteinander zu sprechen bedeutet auch, Texte in leichter Sprache zugänglich zu machen und nonverbale Ausdrucksformen zu berücksichtigen, damit Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen und Sprach- und Lernschwierigkeiten beteiligt bleiben können (vgl. dazu Comenius-Institut, 2014b, 5.).
3.3. Theologische Herausforderungen
Die → Religionspädagogik
Eine inklusive Religionspädagogik braucht eine kritische Aufarbeitung der eigenen ausgrenzenden Traditionen. Das betrifft zum einen die kirchliche Praxis der Ausgrenzung, etwa von Frauen aus dem Priesteramt oder Menschen mit Beeinträchtigungen als Akteurinnen und Akteure im Gottesdienst (→ Gottesdienst, evangelisch
In den letzten 30 Jahren sind neue exegetische, liturgische und theologische Einsichten dadurch gewonnen, dass vormals Ausgegrenzte oder nicht Beteiligte selbst als Akteurinnen und Akteure sichtbar werden. Die → feministische Theologie
Nancy Eiesland (vgl. Eiesland, 2001) und John Hull (vgl. Hull, 2014) plädieren für die Entwicklung einer „Theologie der Behinderung“ im Sinne einer weiteren Befreiungstheologie, in der Menschen mit Behinderungen Subjekte der Theologie sind und ihre Diskriminierung und Ausgrenzung überwunden wird. So beschreibt Eiesland, welche Bedeutung die Erkenntnis, dass der auferstandene Christus die Wundmale der Kreuzigung trägt, für sie als Frau mit körperlichen Versehrtheiten hat. Dadurch dass Christus und damit Gott selbst behindert ist, kann sie selbst so akzeptiert sein, wie sie ist, sie kann ein Ebenbild Gottes sein. „Für mich und ich hoffe für viele andere Menschen mit Behinderungen, genauso wie für einige nichtbehinderte Menschen, macht die Gegenwart des „behinderten Gottes“ es möglich, einen nicht konventionellen Leib zu tragen. Dieser Gott ermöglicht beides: einen Kampf für Gerechtigkeit unter den Menschen mit Behinderung und Ende der Entfremdung von unseren Körpern (zitiert nach Bollag, 2010, o.S.).
Biblische Bilder vom Leib Christi (1 Kor 12
Eine theologische Anthropologie im Blick auf schwerstbehinderte Menschen hat Mohr (vgl. Mohr, 2011) vorgelegt. Für die Religionspädagogik liegen Überlegungen zur theologischen Anthropologie von Müller-Friese (vgl. Müller-Friese, 1996) mit Bezug auf Martin Buber und Emmanuel Levinas vor. Diese stellen die Beziehung zwischen Ich und Du und das Lernen am und vom Anderen in den Mittelpunkt. Bert Roebben (vgl. Roebben, 2009) weist auf die Verletzbarkeit jedes Menschen hin.
3.4. Schulorganisatorische Herausforderungen
Der gemeinsame Unterricht basiert darauf, dass alle Kinder in unterschiedlicher Weise am selben Gegenstand lernen. Der traditionelle konfessionell-getrennte Religionsunterricht separiert die Kinder nach Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit. Diese – in manchen Schulformen ohnehin schwierige – organisatorische Aufgabe wird zunehmend durch Verschiebung in Randstunden, durch Stundenausfall oder durch fachfremden Unterricht „gelöst“. Für den ohnehin unter Legitimationsdruck stehenden Religionsunterricht wird zu begründen sein, wie sich diese organisatorische Trennung nach Religionen/Konfessionen im Rahmen eines pädagogischen Gesamtkonzeptes vertreten lässt und inwiefern andere Organisationsformen religiöser Bildung in der Schule zu entwickeln bzw. auszubauen sind. Themen → religiöser Bildung
4. Ausblick
Inklusion kommt als Herausforderung von außen auf Theologie und Kirche zu. Doch „entdecken die Kirchen im neuen Leitthema Inklusion zunehmend ihr ureigenes Thema“ (Schweiker, 2011, 131). Dieser Kern christlichen Selbstverständnisses ist für die gegenwärtigen Bedingungen neu zu gestalten. Inklusion kann „immer nur bruchstückhaft und schrittweise“ realisiert werden (Prengel, 2013, 12) und ist nicht allein Aufgabe von Schule und Religionsunterricht, sondern die der gesamten Gesellschaft.
Heterogenität als Chance zu begreifen und zum Ausgangspunkt religionspädagogischen Denkens und Handelns zu machen, ist Ziel einer Religionspädagogik der Vielfalt. In Anlehnung an die von Annedore Prengel entwickelte Pädagogik der Vielfalt wurde sie im Blick auf die → Genderdimension
Literaturverzeichnis
- Amrhein, Bettina/Badstieber, Benjamin, Lehrerfortbildungen zu Inklusion – eine Trendanalyse. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2013.
- Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2014, Bielefeld 2014.
- Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2012, Bielefeld 2012.
- Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2010, Bielefeld 2010.
- Bollag, Esther, Ist Gott behindert? – Die Christologie von Nancy Eiesland, Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Behinderung ohne Behinderte?! Perspektiven der Disability Studies", Universität Hamburg, 26.04.2010. Online unter: http://www.zedis-ev-hochschule-hh.de/files/bollag_26042010.pdf
, abgerufen am 18.11.2014. - Booth, Tony/Ainscow, Mel, Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln, übersetzt, für deutschsprachige Verhältnisse bearbeitet und herausgegeben von Ines Boban und Andreas Hinz, Halle-Wittenberg 2003.
- Booth, Tony/Ainscow, Mel/Kingston, David, Index für Inklusion (Tageseinrichtungen für Kinder). Lernen, Partizipation und Spiel in der inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln, Deutschsprachige Ausgabe, herausgegeben von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Frankfurt a. M. 2006.
- Büttner, Gerhard (Hg. u.a.), „He! Ich habe viel Stress! Ich hasse alles", Jahrbuch für Kindertheologie 13, München 2014.
- Comenius-Institut/Projektgruppe Inklusive Religionslehrer_innenbildung. Zehn Grundsätze für inklusiven Religionsunterricht, Münster 2014a. Online unter: http://www.cimuenster.de/themen/Inklusion/Zehn_Grundsaetze_fuer_inklusiven_Religionsunterricht_2014.pdf
, abgerufen am 18.11.2014. - Comenius-Institut (Hg.), Inklusive Religionslehrer_innenbildung. Module und Bausteine, Münster 2014b.
- Da kann ja jede(r) kommen – Inklusion und kirchliche Praxis. Eine Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche im Rheinland, hg. von der Abteilung Bildung im Landeskirchenamt und dem Pädagogisch-Theologischen Institut der EKiR, Düsseldorf 2013.
- Eiesland, Nancy, Dem behinderten Gott begegnen. Theologische und soziale Anstöße einer Befreiungstheologie der Behinderung, in: Leimgruber, Stephan/Pithan, Annebelle/Spieckermann, Martin (Hg.), Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, Forum für Heil- und Religionspädagogik 1, Münster 2001, 7-25. Online unter: http://www.cimuenster.de/biblioinfothek/open_access_pdfs/Der_Mensch_lebt_nicht_vom_Brot_allein.pdf
, abgerufen am 19.11.2014. - Feuser, Georg, Behinderte Kinder und Jugendliche. Zwischen Integration und Aussonderung, Darmstadt 2. Aufl. 2005.
- Fischer, Irmtraud, Inklusion und Exklusion – Biblische Perspektiven, in: Pithan, Annebelle (Hg. u.a.), „… dass alle eins seien" – Im Spannungsfeld von Exklusion und Inklusion, Forum für Heil- und Religionspädagogik 7, Münster 2013, 9-23.
- Grasser, Patrick, Inklusion im Religionsunterricht. Vielfalt leben, Göttingen 2014.
- Groeben, Annemarie von der/Kaiser, Ingrid, Werkstatt Individualisierung. Unterricht gemeinsam verändern, Hamburg 2012.
- Hinz, Andreas, Von der Integration zur Inklusion – terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung?, in: Pithan, Annebelle/Schweiker, Wolfhard (Hg.), Evangelische Bildungsverantwortung: Inklusion. Ein Lesebuch, Münster 2011, 18-28.
- Hull, John M., Theology of Disability, in: Disability – The Inclusive Church Resource, London 2014, 49-100.
- Inklusion vor Ort. Der kommunale Index für Inklusion – ein Praxishandbuch, hg. von der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, veröffentlicht im Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V., Berlin 2011.
- Kammeyer, Katharina/Zonne, Erna/Pithan, Annebelle (Hg.), Inklusion und Kindertheologie. Inklusion – Religion – Bildung 1, Münster 2014.
- Kenngott, Eva/Englert, Rudolf/Knauth, Thorsten (Hg.), Konfessionell – interreligiös – religionskundlich: Unterrichtsmodelle in der Diskussion, Stuttgart 2014.
- Knauth, Thorsten, Position und Perspektiven eines dialogischen Religionsunterrichts in Hamburg, in: Kenngott, Eva/Englert, Rudolf/Knauth, Thorsten (Hg.), Konfessionell – interreligiös – religionskundlich: Unterrichtsmodelle in der Diskussion, Stuttgart 2014.
- Krauß, Anne, Barrierefreie Theologie. Herausforderungen durch Ulrich Bach, Erlangen 2010.
- Mittendrin e.V. (Hg.), Eine Schule für alle. Inklusion umsetzen in der Sekundarstufe, Mülheim 2012.
- Möller, Rainer, Der kompetenzorientierte Religionsunterricht vor den Herausforderungen der Inklusion, in: Möller, Rainer (Hg. u.a.), Kompetenzorientierung im Religionsunterricht. Von der Didaktik zur Praxis, Münster 2014, 250-268.
- Möller, Rainer/Pithan, Annebelle, Inklusion: Ansprüche und Widersprüche, in: CI Informationen. Mitteilungen aus dem Comenius Institut 2 (2014), 6.
- Mohr, Lars, Schwerste Behinderung und theologische Anthropologie, Lehren und Lernen mit behinderten Menschen 22, Oberhausen 2011.
- Müller-Friese, Anita, Arbeitshilfe Religion inklusiv. Grundstufe und Sekundarstufe 1. Praxisband: Bibel – Welt und Verantwortung, Stuttgart 2012.
- Müller-Friese, Anita, Miteinander der Verschiedenen. Theologische Überlegungen zu einem integrativen Bildungsverständnis, Weinheim 1996.
- Pemsel-Maier, Sabine/Schambeck, Mirjam (Hg.), Inklusion!? Religionspädagogische Einwürfe, Freiburg i. Br. 2014.
- Pithan, Annebelle (Hg. u.a.), Handbuch integrative Religionspädagogik. Reflexionen und Impulse für Gesellschaft, Schule und Gemeinde, Gütersloh 2002.
- Pithan, Annebelle/Adam, Gottfried/Kollmann, Roland (Hg.), Handbuch Integrative Religionspädagogik. Reflexionen und Impulse für Gesellschaft, Schule und Gemeinde, Gütersloh 2002.
- Pithan, Annebelle/Arzt, Silvia/Jakobs, Monika/Knauth, Thorsten, Gender – Religion – Bildung. Beiträge zu einer Religionspädagogik der Vielfalt, Gütersloh 2009.
- Pithan, Annebelle/Schweiker, Wolfhard (Hg.), Evangelische Bildungsverantwortung: Inklusion. Ein Lesebuch, Münster 2011.
- Prengel, Annedore, Inklusion pädagogisch – Grundverständnisse, Voraussetzungen und Konzeptionen, in: Elsenbast, Volker/Otte, Matthias/Pithan, Annebelle (Hg.), Inklusive Bildung als evangelische Verantwortung. Dokumentation einer Fachtagung am 31.1./1.2.2013 in Hofgeismar, in: epd-Dokumentation o.Jg. (2013) 27/28, 6-14.
- Reich, Kersten (Hg.), Inklusion und Bildungsgerechtigkeit. Standards und Regeln zur Umsetzung einer inklusiven Schule, Weinheim/Basel 2012.
- Roebben, Bert, Religion und Verletzbarkeit. Standort und Herausforderung einer integrativen Religionspädagogik, in: Wuckelt, Agnes (Hg. u.a.), „Was mein Sehnen sucht …", Forum für Heil- und Religionspädagogik 5, Münster 2009, 37-56.
- Sander, Alfred, Konzepte einer Inklusiven Pädagogik, in: Pithan, Annebelle/Schweiker, Wolfhard (Hg.), Evangelische Bildungsverantwortung: Inklusion. Ein Lesebuch, Münster 2011, 13-17.
- Schreiner, Peter/Sieg, Ursula/Elsenbast, Volker, Handbuch Interreligiöses Lernen, Gütersloh 2005.
- Schröder, Bernd (Hg.), Religionsunterricht – wohin? Modelle seiner Organisation und didaktischen Struktur, Neukirchen-Vluyn 2014.
- Schröder, Bernd/Wermke, Michael (Hg.), Religionsdidaktik zwischen Schulformspezifik und Inklusion. Bestandsaufnahmen und Herausforderungen, Leipzig 2013.
- Schweiker, Wolfhard, Arbeitshilfe Religion inklusiv. Grundstufe und Sekundarstufe 1. Praxisband: Kirche(n) – Religionen und Weltanschauungen, Stuttgart 2014.
- Schweiker, Wolfhard, Arbeitshilfe Religion inklusiv. Grundstufe und Sekundarstufe 1. Basisband: Einführungen, Grundlagen, Methoden, Stuttgart 2012.
- Schweiker, Wolfhard, Inklusive Praxis als Herausforderung praktisch-theologischer Reflexion und kirchlicher Handlungsfelder, in: Eurich, Johannes/Lob-Hüdepohl, Andreas (Hg.), Inklusive Kirche, Stuttgart 2011, 131-145.
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download: