Konstruktivistischer Religionsunterricht
(erstellt: Januar 2015)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Konstruktivistischer_Religionsunterricht.100021
1. Religionsdidaktische Subjektorientierung
Konstruktivistische Theorien erweisen sich als äußerst hilfreich, um einen Subjektansatz in der → Theologie
1.1. Anthropologische Wende in Theologie und Pädagogik
Die anthropologische Wende in → Theologie
1.2. Subjektorientierte Wahrnehmungs- und Handlungsmuster
In der Religionspädagogik hat sich die anthropologische Wende in der Theologie zunächst in der Bedeutung der religionspsychologischen Theorien (Denkentwicklung, Moralentwicklung, Weltbildentwicklung, religiöse Entwicklung) niedergeschlagen, die als hermeneutische Hintergrundfolie für die Skizzierung entwicklungsbezogener religiöser Lernprozesse dienen. Alle neueren religionsdidaktischen Prinzipien (zur begrifflichen Differenzierung: siehe Mendl, 2014, 149f.), z.B. → genderspezifische
1.3. Konstruktivismus als lerntheoretische Klammer
Was jedoch fehlt, ist eine lerntheoretische Basistheorie, auf deren Grundlage die impliziten Subjektansätze auf der Ebene der Wahrnehmung, der Deutung und des Handelns plausibel begründet werden können. Als eine solche lerntheoretische Matrix können die Skizzen zu einem konstruktivistisch orientierten Religionsunterricht dienen, deren erkenntnistheoretische Basis so lautet: Die Weltwahrnehmung und -deutung vollzieht sich nach radikal individuellen Mustern. Diese These muss dann auch auf alle Dimensionen des Lernens hin reflektiert werden.
2. (Religions-)Pädagogischer Konstruktivismus
2.1. Erkenntnistheoretische Basis-Axiome
„Den“ Konstruktivismus gibt es nicht, sondern zahlreiche unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen (vgl. Übersicht bei Siebert, 1999; Mendl, 2005, 14), die auf unterschiedliche Weise konstruktivistische Theorien begründet haben: z.B. in der Neurobiologie (→ Neurowissenschaften
2.2. Lerntheoretische Grundannahmen
Diese erkenntnistheoretische Grundannahme wird im lerntheoretischen Konstruktivismus auf die Ebene des Lehrens und Lernens bezogen und ausdifferenziert (vgl. Mendl, 2013, 107):
- Lernen vollzieht sich als aktiver Prozess des lernenden Subjekts.
- Lernende bringen bereits Vorwissen und Einstellungen zu Lerngegenständen in den Unterricht mit.
- Dabei darf man auch die Bedeutung der Emotionen beim Lernen – von der situativen Gestimmtheit bis zur affektiven Voreinstellung gegenüber den Lerngegenständen – nicht unterschätzen.
- Lernprozesse sind im Verlauf und Ergebnis nicht völlig vorhersagbar, da sie von individuellen Konstruktionen geprägt sind; denn auch in sozialen Lernzusammenhängen erfolgt Lernen als individueller Prozess.
- Lernen geschieht aber in Gruppen immer auch in der Auseinandersetzung mit den Konstruktionen anderer. So ergeben sich sozial geprägte Konstrukte von Wirklichkeit.
- Lerninhalte können nicht 1:1 auf einen Lernenden übertragen und rekonstruiert werden; sie haben den Rang von „Perturbationen“, die im besten Fall zu einer konstruktiven Auseinandersetzung und eigenständig gestalteten Rekonstruktion führen, im schlechtesten Fall als unbedeutend ausgefiltert werden.
- Lernen ist dann besonders produktiv, wenn man den Lernenden die Lerngegenstände in komplexen, anwendungsbezogenen Kontexten und Situationen darbietet, so dass sie diese dann auch als lebensbedeutsam erkennen können.
- Von einer gehirnphysiologischen Warte aus geschieht nachhaltiges Lernen durch aktive Vernetzung, Vertiefung und mehrmalige Wiederholung eines Konstrukts in neuen Kontexten, weil nur so der Prozess der Synapsenbildung angeregt werden kann.
- Ziel eines Lernprozesses ist die Ausbildung individueller Lernlandschaften.
3. Religionsdidaktische Folgerungen
3.1. Konstruktivistisch lernen
Nach den skizzierten lerntheoretischen Grundannahmen richtet sich der erste religionsdidaktische Blick zwangsläufig auf die Lernenden als die Subjekte des eigenen Lernprozesses. Das bedeutet aber weder einen Verzicht auf Inhalte noch, wie im folgenden Teilkapitel erläutert wird, eine Eliminierung der Lehrperson. Es gehört zum Paradox eines pädagogischen Konstruktivismus, die konstruktivistischen Grundaxiome vor dem Hintergrund institutionell verorteter und intentional geplanter und gesteuerter Lernprozesse zu entfalten. Insofern hat der blumig klingende konstruktivistische Begriff der „Lernlandschaft“ (vgl. Büttner u.a., 2012: Lernumgebungen) durchaus eine normative Komponente: Es handelt sich um abgegrenzte thematische Lernareale, innerhalb deren dann allerdings konstruktivistisch gelernt werden soll. Ein solches Lernen vollzieht sich nicht ohne Instruktionen (vgl. Mendl, 2010), freilich entspräche eine Reduktion von Lernen auf die Fiktion einer reinen reproduktiven Erfassung und Abspeicherung eines Lernstoffs nicht der Überzeugung, wie Lernprozesse faktisch ablaufen (vgl. die entsprechenden empirischen Erkenntnisse: Mendl, 1997; 2000; Reiß, 2008). Insofern müssen instruktivistische Phasen im Lehr-Lernprozess mit Phasen der individuellen Auseinandersetzung mit Lerngegenständen und Phasen der Ko-Konstruktionen ergänzt werden. Deutlich wird, dass im Kontext des Sozialraums Klassenzimmer und Schule ein pädagogischer Konstruktivismus nur ein sozial konturierter sein kann, der Subjektorientierung und individuelles Lernen vor dem Hintergrund des Ziels einer Pluralitätsfähigkeit entfaltet (vgl. auch die Frage nach einer Ethik des Konstruktivismus: Büttner u.a., 2012).
3.2. Konstruktivistisch lehren
Instruktionen durch die Lehrpersonen sind auch innerhalb eines konstruktivistischen Lernverständnisses nicht unanständig (vgl. Mendl, 2010). Es gehört zu einem Grundmissverständnis, dass die Lehrperson in einem konstruktivistisch unterfütterten (Religions-)Unterricht überflüssig und sich ihre Rolle auf die des Moderators oder Lernbegleiters beschränken würde. Entsprechende Deutungen in die Praxis hinein, die zu einem Verzicht auf einer Lehrerinstruktion und -steuerung führen, sind sicher unübersehbar (vgl. Englert, 2013a, 30f.; 2013b, 104f.; Mendl, 2013, 20). Auch innerhalb eines konstruktivistischen Ansatzes kann die Lehrperson als Wissensvermittler betrachtet werden, mit dem Ziel, klar und verständlich Weltwissen aufzubereiten und zu präsentieren. Sie ist freilich auch für die beiden nächsten didaktischen Schritte – die Befähigung zur eigenständigen Verarbeitung der Wissenselemente durch die Schülerinnen und Schüler und den Austausch der Lernergebnisse in der Lerngruppe – verantwortlich. Insofern wird die Lehrerrolle anspruchsvoller als beim „Normal“-Unterricht: Lehrende benötigen neben der didaktischen Wahrnehmungs- und Differenzierungskompetenz auch die Fähigkeit, individuelle Konstruktionen zu ermöglichen sowie die sogenannte Ko-Konstruktionskompetenz (ein Abgleich und eine Erweiterung individueller Konstruktionen durch die Diskurse in der Lerngruppe) und eine konstruktionsreflexive Kompetenz (vgl. Mendl, 2005, 31). Die Gegenfolie zum problematischen lehrerzentrierten Unterricht ist also zunächst der lehrergesteuerte, der freilich im Sinne einer Ermöglichungsdidaktik auf einen schülerorientierten abzielt.
3.3. Konstruktivistisch planen
Die Konturierung von konstruktivistisch unterlegten Planungsschemata (→ Unterrichtsplanung
3.4. Konstruktivistisch(en) Religionsunterricht evaluieren
Kann ein Unterricht, der konstruktivistisch-individualisierend angelegt ist, überhaupt evaluiert werden? Und kann die Gestalt der Evaluierung so angelegt sein, dass sie konstruktivistischen Kriterien entspricht? Auf zwei Ebenen können diese Anfragen bearbeitet werden: Gemäß der skizzierten didaktischen Linie wird auch in einem konstruktivistischen Religionsunterricht nicht auf die Fähigkeit zur korrekten Wiedergabe von Weltwissen verzichtet. Evaluation im Sinne einer intelligenten Leistungsmessung (→ Leistungsbewertung, Leistungsbewertung
4. Kritische Anfragen
4.1. Hattie-Studie
Für Aufsehen sorgte die fulminante Metastudie des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie (exemplarisch für die zahlreiche Literatur: Hattie, 2013; 2014). Seine Fokussierung auf die Bedeutung der Lehrperson als zentralen Indikator für den Erfolg von Unterricht und die damit verbundene Gegenüberstellung der Wirkung einer direkten Instruktion gegenüber der geringen Wirksamkeit offener Unterrichtsformen wurde vorschnell als Absage an eine konstruktivistische Vorstellung von Lernen gedeutet (vgl. Englert, 2013a, 32). Man übersieht (neben begrifflichen Unschärfen, die mit der Übersetzung der englischen Fachbegriffe ins Deutsche hinein verbunden sind, und den Anfragen der Vergleichbarkeit von Schulsystemen), dass auch Hattie selber den Lehrer in die Pflicht nimmt, Unterricht aus der Perspektive der Lernenden zu betrachten („Ich sehe Lernen durch die Augen meiner Lernenden“, „Ich helfe Lernenden, ihre eigene Lehrperson zu werden“, Hattie, 2014, 6) und entsprechend eine äußerst differenzierte und mit obigen konstruktivistischen Perspektiven durchaus zu vereinbarende Ausdifferenzierung der Lehrerrolle vorschlägt (der Lehrer als „kooperativer und kritischer Planer“, als „anpassungsfähiger Lernexperte“, als „Empfänger von Feedback“, ebd.).
4.2. Vulgärkonstruktivismus
Dass, wie auch Hattie mit Recht kritisiert, der Konstruktivismus häufig zu sehr im Sinne „eines schülerzentrierten, forschenden, problem- und aufgabenbasierten Lernens gesehen wird“ (Hattie, 2013, 32) und Lehrpersonen in ihrem Selbstverständnis als Moderatoren weder korrigierend noch instruierend mit ihrer fachlichen Expertise eingreifen (vgl. Englert, 2013b, 104f.), ist nicht von der Hand zu weisen. Die Breite eines anspruchsvollen zirkulären konstruktivistischen Lernsettings, das ausdrückliche instruktivistische Phasen einfordert, aber gleichzeitig die Lernenden zur selbsttätigen Auseinandersetzung und zur Ko-Konstruktion auffordert, wird in der Praxis noch zu wenig ausgeprägt konkretisiert. Im heutigen Religionsunterricht befähigen zwar zahlreiche kreative Methoden Schülerinnen und Schüler zur selbstständigen Auseinandersetzung mit Lerngegenständen, was aber immer noch zu kurz kommt, ist die produktive Weiterbearbeitung individueller Lernergebnisse im Austausch und Diskurs der Lerngruppe (Englert, 2013a, 29; Mendl, 2005, 36; Mendl/Stinglhammer, 2012).
4.3. Wahrheitsfrage
Grundsätzliche Anfragen an die erkenntnistheoretischen Grundlagen des Konstruktivismus (vgl. Orth, 2010; Englert, 2013a; Mendl, 2013, 19-22) sind häufig auch verbunden mit den Fragen nach der Vereinbarkeit zwischen einem Offenbarungsglauben und einer konstruktivistischen Vorstellung von Lernen sowie nach der Ethik des Konstruktivismus. Wie bereits oben erwähnt, wird von einem konstruktivistischen Denkmodell her weder die Existenz von Wirklichkeit noch das Apriori der → Offenbarung
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Abbildungsverzeichnis
- Ein konstruktivistisches Unterrichtsmodell. Aus: Mendl, Hans (Hg.), Konstruktivistische Religionspädagogik. Ein Arbeitsbuch, Münster 2005, 36. Hans Mendl
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