Musik
Schlagworte: Music
(erstellt: Januar 2015)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Musik.100029
1. Musik als kulturelles Leitmedium in Alltag und Kunst
1.1. Zu Begrifflichkeit und gesellschaftlicher Bedeutung
Unter Musik können alle geordneten Klangereignisse verstanden werden, die nicht auf → Sprache
Neben der musikalischen Struktur sind die Vermittlungsbedingungen von Musik (Ort, Zeit, Situation, Atmosphäre, soziale Bedingungen und Vermittlungsart: live oder medial) sowie die unterschiedlichen, biographisch individuell geprägten Rezeptionsarten (motorisch, assoziativ-emotional, emphatisch-einfühlend, analytisch-strukturell, handlungsorientiert) für die unterschiedlichen Wirkungen von Musik ausschlaggebend. Die musikalische Wirkungsforschung nennt entsprechend verschiedene Funktionen von Musik: psychische Stabilisierung, Erhöhung der Kommunikationsfähigkeit, Differenzierung des Wahrnehmungsvermögens, Erweiterung der Emotionalität, Entlastung in Phantasiewelten und Entspannung, Ausdruck von Wirklichkeitsdeutung und Sinnsuche, Bewusstseinserweiterung u.a.
Auf der physikalischen Ebene werden die Schallwellen nicht nur mit den Ohren, sondern auch (vor allem bei sehr tiefen Schwingungen) über den Bauchraum leiblich wahrgenommen. Bei entsprechender Rhythmik und Dynamik initiiert die musikalische Bewegung menschlich-motorische Bewegung (→ Tanz
Auf ästhetisch-intellektueller Ebene (→ Bildung, ästhetische
In der Gegenwartskultur hat Musik insbesondere in jüngeren Milieus (→ Milieu und Religion
1.2. Musik in der Entwicklung des Individuums
Das für alle Musik grundlegende Verhalten, das Hören, beginnt bereits pränatal. Der Klang von Stimmen sowie der Herzschlag der Mutter werden intensiv wahrgenommen. Vom ersten Schrei des Säuglings an spielen dann Laute, Klänge und Bewegungen eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Person (→ Entwicklungspsychologie
Kinder spielen gerne mit der eigenen Stimme, mit klingenden „Instrumenten“ aller Art (von Steinen bis zu klingenden Hohlkörpern) und bewegen sich mit Lust dazu. In der Jugendzeit spielt Musik häufig eine besondere Rolle: Sie wird zum Kennzeichen einer beginnenden eigenen Identität, die durch → Peergroups
Ihr Vorteil gegenüber anderen ästhetischen Medien liegt darin, dass sie als akustisches Medium mittels der eigenen Stimme und mit Hilfe von Instrumenten „transportabel“ und mobil ist – heute im Zeitalter der digitalisierten Musikmedien ohnehin. Die Kehrseite ist ihr zeitlich-vergänglicher flüchtiger Charakter als Klanggeschehen. Dieser performative Charakter hat sie zum bevorzugten Gestaltungsmittel von Darstellungsprozessen aller Art gemacht: Religiöse → Rituale
Im Erwachsenenalter kann Musik(-hören wie eigenes Musizieren) einerseits bewusste Freizeitbeschäftigung und Hobby sein, andererseits begleitet sie als Alltagsmedium nebenbei viele andere Tätigkeiten (beim Autofahren, Hausarbeit etc.). Über die Mitwirkung in Chören, Bläserensembles, Bands oder anderen Instrumentalensembles (→ Chöre und Musikgruppen
Im höheren Alter spielt Musik eine wichtige Rolle in der biographischen Erinnerungs- und Bildungsarbeit mit Senioren. Selbst Demenzkranke können noch in die Lieder und Hits ihrer früheren Zeit einstimmen und so Freude und seelsorgliche Lebenshilfe erfahren.
Musik ist in den letzten Jahrzehnten auch ein wichtiges Medium interkultureller Dialoge und interkultureller Bildungsarbeit geworden. Die Begegnung mit Migrantenkulturen etwa kann über das Kennenlernen fremder Musikformen geschehen.
2. Musik und Religion
2.1. Geschichtliches
Religionsgeschichtlich spielt Musik in den verschiedenen → Religionen
In archaischen Religionsformen (etwa im Schamanismus) werden Klänge und Rhythmen magisch eingesetzt: Mittels bestimmter Trommel-Rhythmen oder Vokal- und Instrumentalklänge sollen böse Geister bzw. Naturkräfte bezwungen oder gute Geister herbeigerufen werden. Die ekstatisierend-bewusstseinstranszendierende Wirkung von Musik nutzen afrikanische Religionen und Teile der islamischen Mystik, teils auch die Kirchenmusik charismatischer und pfingstlerischer Kirchen sowie die religionsanalogen Phänomene der afro-amerikanischen Rock- und Popmusik bis zu den Techno-Raves ab den 1990er Jahren. Auf andere Weise dienen vedische und buddhistische Mantren-Meditationen durch das unentwegte Wiederholen heiliger Klanglaute (AUM bzw. OM als Urlaut) der Verbindung mit dem Göttlichen.
Für den jüdisch-christlichen und islamischen Kulturkreis ist die rhetorische Dimension der Musik bestimmend geworden. Aus der emphatischen Rezitation der heiligen Schriften und Gebete entwickelt sich die besondere Form des Sprechgesangs (Kantillation) und des Psalmodierens. Die klassische islamische Position des mittelalterlichen Theoretikers al-Ghazzali (1058-1111 n. Chr.) unterscheidet zwischen gesetzgemäßer Musik (Kantillation/taghbir des Koran, gesungene Gedichte und ernste begleitete Gesänge) und verbotener Musik. Lenkt Musik die Herzen vom Leben nach den Regeln des Korans ab, soll sie überhaupt nicht gehört werden. Solcher Rigorismus bestimmt zeitweilig auch die jüdische und christliche Tradition (in Abgrenzung zu heidnischen Kulten; so war in Genf wie Zürich in der Reformationszeit zeitweise nur unbegleiteter Psalmgesang erlaubt), hat sich in Europa jedoch nicht durchgesetzt. Durch die religiösen Autoritäten (Konzilien, Päpste, Reformatoren, landeskirchliche Kirchenmusikverordnungen) wird die christliche Kirchenmusik immer wieder darauf festgelegt, das Gotteslob, das Bekenntnis und die Verkündigung als Partnerin (oder Dienerin) der Sprache (der Theologie) mitzutragen.
Nur im Abendland hat sich daneben die Auffassung ausgebildet, dass Musik in ihrer ästhetisch-künstlerischen Dimension, also als autonomes, von äußerlichen religiösen Zweckbestimmungen und Funktionszuschreibungen freies (auch rein instrumentales) Kunstwerk, als religiös qualifiziert werden kann.
Auf der literarischen Ebene spielt Musik eine wichtige Rolle als religiöse Metapher und als Symbol in Sagen, Märchen, Mythen, sowie im philosophischen und religiösen Schrifttum (vgl. Bubmann, 2009, 25f.). Viele Sagen handeln von der besonderen Macht der Musik (z.B. die griechische Sage der Sirenen; der Rattenfänger von Hameln u.ä.). In vielen heiligen Schriften und Mythen wird ihr Ursprung auf eine Gottheit oder einen göttlichen Urklang zurückgeführt (anders in den Hauptströmungen von Judentum, Christentum und Islam: hier wird die Musik nach Gen 4,21
Für die vorstaatliche Zeit Israels (13.-11. Jahrhundert v. Chr.) gibt es in der Bibel nur vereinzelte Spuren kultischer (magischer?) Musikpraxis (z.B. Ex 15,20
Während sich seit den Dichtungen des Ambrosius von Mailand die Hymnen verbreiten, fördern in der liturgischen Musizierpraxis die Päpste Gregor I., Gregor II. (715-731) und Gregor III. (731-741) den lateinischen Kirchengesang und erheben in der Westkirche den römischen Choral zum Modell für die Weltkirche. Die → Reformation
Nach dem 1. Weltkrieg gerät diese Idee in die Krise, es entstehen neue Suchbewegungen im Verhältnis von Musik und Religion. 1922/23 bildet sich unter Anleitung von Fritz Jöde und Walter Hensel die Singbewegung, die ein neues Interesse an gemeinschaftlicher Musikpraxis (etwa auf „Singwochen“) aufnehmen. Die Blockflöte wird zusammen mit der Gitarre als Volksinstrument wiederentdeckt.
Die Avantgarde der Kunstmusik geht allerdings andere Wege und verlässt weithin das Komponieren im Rahmen der Tonalität. Einzelne Komponisten schreiben weiterhin größere geistliche Werke (Benjamin Britten: „War Requiem“; Arthur Honegger: „König David“, Arnold Schönberg: „Moses und Aaron“ u.a.).
Die Pluralisierung der Stile der Spätmoderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führt auch zu verschiedenen neuen Beziehungen zwischen Musik und Religion. Die für den Großteil der Bevölkerung dominant werdende Pop- und Rockmusik (meist US-amerikanischer Herkunft) findet ihre Ableger auch in der Kirchenmusik, wo ab den 1960er Jahren Neue geistliche Lieder sowie Gospelsongs entstehen, die am Ende des 20. Jahrhunderts auch Eingang in die Gesangbücher finden (ausführlich: Bubmann, 2014).
In der Kunstmusik stehen christlicher Mystik (Henryk Górecki, Sofia Gubaidulina, Olivier Messiaen, Arvo Pärt, Krzysztof Penderecki, Alfred Schnittke) und Geist-Theologie (Dieter Schnebel) außerchristliche Prägungen (esoterisch: Karlheinz Stockhausen; fernöstlich: Steve Reich) und philosophisch gesellschaftskritisch motivierte Entwürfe einer klingenden Utopie und Gegenwelt gegenüber (Hans Werner Henze, Luigi Nono), deren Transzendierungsdimension ohne religiösen Transzendenzbezug (→ Transzendenz
2.2. Musik und Religion aus christlich-theologischer Perspektive
Traditionell wird Musik theologisch primär als rhetorisches Medium der Kommunikation mit → Gott
Singen und Musizieren können Symbole der Freiheitserfahrung sein und sind daher auch theologisch deutbar: „Im Medium der Musik verdichten sich Grundvollzüge christlicher Existenz. Im Hören, Singen und Musizieren erhält die christliche Freiheit eine klingende Gestalt“ (Kirche klingt, 2009, 8). Die christlich verstandene Freiheit als Freiheit von den Mächten der → Sünde
Musik als Freiheitsspiel hat in diesen Grundaspekten ihren Ort in allen Dimensionen des kirchlichen Auftrags der Kommunikation des Evangeliums: im darstellenden Handeln in der symbolischen Kommunikation des Glaubens in der Liturgie (leiturgia), im kommunikativen Handeln als Weitersagen, Bezeugen und Bekennen der guten Botschaft Gottes (martyria), im sozialen Handeln der Herstellung und Bewahrung von gemeinschaftlichen Lebensformen in Frieden und → Gerechtigkeit
3. Musik in (religiösen) Bildungsprozessen
3.1. Ästhetische Bildung und christlicher Glaube
Nach Wolfgang Klafki verfolgt → ästhetische Bildung
Die theologische und religionspädagogische → Bildungstheorie
3.2. Zur Geschichte des Einsatzes und der didaktischen Würdigung von Musik in der religionspädagogischen Arbeit
Über Jahrhunderte galt das Gesangbuch als dritte Säule des Religionsunterrichts neben → Bibel
Schon Martin Luther hat seine eigenen Kirchenlieder auch als Beitrag zur religiösen Erziehung verstanden. In der Aufklärungszeit (→ Aufklärung
Selbst in der Hochphase der → symboldidaktischen Ansätze
Im Zuge der (schul-)religionspädagogischen Aufmerksamkeit für Popkultur (→ Populäre Kultur
Dabei findet auch die Methodik (→ Unterrichtsmethoden
Auch seitens der Musikpädagogik wurden neben musikhistorischen Studien gelegentlich (theoretische) fachdidaktische Studien (Stange, 2011 mit ausgewählten Praxisbeispielen) und praxisorientierte Arbeitshilfen für die Erschließung des Themenbereichs „Musik und Religion“ vorgelegt (Schmitt, 1983; 2013; Richter, 2011; Thum-Gabler, 2010).
4. Zur Didaktik und Methodik der Arbeit mit Musik in religiösen Bildungsprozessen
4.1. Bildungschancen und Probleme in der Begegnung mit Musik
Musik ist vor allem die Kunst der hörenden Wahrnehmung. Im musikalischen Hören kann auch das religiöse Hören gebildet werden. Musik kann religiöse → Erfahrung
Auch das aktive musikalische Gestalten hat religiös bildende Bedeutung: Die Begabung und die Freiheit zur Weltgestaltung zeigt sich hier spielerisch-ästhetisch. Im instrumentalen oder vokalen Improvisieren etwa erspielen sich die Musizierenden neue Klangwelten und damit Möglichkeitsräume der Weltwahrnehmung.
Für ganzheitliche religiöse Bildung sind musikalische Vollzüge unverzichtbar, denn „Musik …
• ... fördert religiöse Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Urteilskraft (→ Bildung, ästhetische
• ... dient der lebensbegleitenden, erfahrungsnahen religiösen Identitätsbildung der Lernenden im Kontext lebensweltlicher und gesellschaftlicher Prägungen.
• ... ermöglicht starke Erfahrungen von Gemeinschaft sowie Prozesse sozialer Bildung und hat damit Anteil an der kommunikativen und gesellschaftsdiakonischen Aufgabe der religiösen Bildungsarbeit […].
• ... ist Teil der religiösen Traditionen und als kulturelles sowie kirchenmusikalisches Erbe lohnender Gegenstand hermeneutischer Erschließungen (→ Musik, kirchengeschichtsdidaktisch
• ... stellt als kulturspezifisches Kommunikationsmedium eine besondere Chance für ökumenisches Lernen sowie interkulturelle und interreligiöse Bildung dar (→ Interreligiöses Lernen
• ... bietet sich als Medium spiritueller Erfahrung (→ Spirituelles Lernen
Allerdings birgt der Einsatz von Musik auch Risiken. In einer individualisierten und pluralisierten Welt (→ Pluralisierung
Religiöse Bildung muss heute häufig die musikalische Erfahrung und Praxis (etwa das gemeinsame Singen) überhaupt erst anbahnen. Die Didaktik solcher behutsamer religiös-musikalischer Erstbegegnungen erfordert ein differenziertes methodisches Instrumentarium: Hörübungen, kreative Verarbeitungsphasen, spielerische Herangehensweisen etc.
Im Sinne einer kritischen → Symboldidaktik
4.2. Lernorte und Einsatzfelder von Musik
Mit Musik wird religionspädagogisch nicht nur an den Orten formeller religiöser und musikalischer Bildung gelernt, also im Religionsunterricht (→ Religionsunterricht, evangelisch
Musik kann in religiösen Bildungsprozessen in ganz unterschiedlichen inhaltlichen Feldern eingesetzt werden, von Liedern und Musik zur Bibel und Kirchengeschichte über ethische Themen hin zur Begegnung mit fremden Formen von Religion und Religiosität (Übersicht: Bubmann/Landgraf, 2006, 46f.). Dabei kann Musik in allen Phasen des Lernprozesses zum Einsatz gelangen: Als Impulsmedium zur thematischen Eröffnung, als Hauptmedium intensiver Erarbeitung (auch in umfangreicheren, gegebenenfalls interdisziplinären Projekten), als Medium zur Anreicherung und für Transferaufgaben und auch zur Sicherung von Lernprozessen (→ Artikulationsschemata
4.3. Zur Methodik des Umgangs mit Musik in religiösen Bildungsprozessen
Handbücher und Praxismaterialien zum Einsatz von Musik in religiösen Bildungsprozessen (Bubmann/Landgraf, 2006; Lindner, 2014; Macht, 2013 u.a.) differenzieren die Darstellung verschiedener Methoden in die Einsatzfelder:
- Musik hören, analysieren und würdigen,
- Musik machen (Orff, Body-Percussion etc.), vor allem Singen,
- kreatives Arbeiten mit Musik (Komponieren etwa von Raps),
- interdisziplinäres Arbeiten: Konstellationen mit Literatur, Film (Videoclips, Mertin, 1999), Tanz, Raumkunst etc.
Dem gemeinsamen Singen kommt in allen Altersstufen besondere Bedeutung zu – gerade weil es in der Pubertät schwierig sein kann (aber keineswegs sein muss; dazu: Cramer, 2006). Für die musikalische Arbeit mit Kindern eignet sich weiterhin besonders das Orff-Instrumentarium (Schweizer, 2006). Sowohl die Arbeit mit Avantgarde-Musik (Lindner, 2003) als auch mit Pop- und Rockmusik oder Gospels (Bubmann, 2010; Depta, 1999; Jost, 2003; Thömmes, 2008) als auch mit allen Formen tradierter Kirchenmusik (Bubmann/Landgraf, 2006, 335-363; Kirschbaum, 2005; Macht, 2013; Richter, 2011; Schneider/Vicktor, 1993; Trutwin, 2003-2006; Wich, 2013; zur Begegnung mit der Orgel: Bubmann, 2013) ist empfehlenswert. Viele Landeskirchen und Bistümer bieten zur Qualifizierung des Lehrpersonals musikalische Fortbildungsmöglichkeiten für Lehrende an (bis hin zur kirchenmusikalischen D- oder C-Prüfung).
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