Religion
Schlagworte: Religiosität
(erstellt: Januar 2015)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Religion.100075
1. Aufkommen der Frage nach Religion und etymologische Bestimmung
In einem ersten allgemeinen Zugang zu den Begriffen Religion und Religiosität wird unter Religion in der Regel ein mehr oder weniger verfasstes System von Glaubenssätzen und -lehren verstanden, religionspädagogisch oftmals als „gelehrte Religion“ bezeichnet, während Religiosität demgegenüber die subjektive Aneignung dieses Systems der Religion meint, religionspädagogisch oftmals als „gelebte Religion“ bezeichnet. Diese sehr allgemeine Bestimmung ist bereits eine moderne, insofern bereits die Frage danach, was Religion sei und wie sie zu bestimmen sei, ein Phänomen der Moderne ist, da sie sich erst zu einem recht späten Zeitpunkt im Laufe des 18. Jahrhunderts stellte (Kaufmann, 1989, 23-31). Das Zerbrechen des umfassenden christlichen Sinn- und Kommunikationszusammenhangs im europäischen Kontext, die Anfragen der Aufklärung und französischen Revolution, das Wahrnehmen anderer religiöser, nicht-christlicher Traditionen, das Aufkommen des Gedankens religiöser → Toleranz
Etymologisch wird „Religion“ auf den spezifisch mit dem römischen Reich verbundenen Begriff der „religio“ zurückgeführt und an die Verben „relegere“ („wieder lesen, genau beachten“) oder „religare“ („rückbinden“) angeschlossen. Allerdings lassen sich die genauen etymologischen Wurzeln nicht ermitteln. Inhaltlich geht es der „religio“ um die Haltung der Ehrfurcht vor dem Göttlichen, um die Gottesverehrung, die ihren Ausdruck in der genauen Ausführung der Kultvorschriften findet, es geht ferner aber auch um die Beziehung des Menschen zu → Gott
2. Bestimmungsversuche von Religion
Ist die Frage nach dem Religionsbegriff und -verständnis also verhältnismäßig jung, so war und ist sie bis heute von einer lebhaften Diskussion über die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit einer universalen Bestimmung des Religionsbegriffs begleitet; bis heute existiert keine allgemein anerkannte Definition von Religion. Zwei Grundprobleme kennzeichnen die Frage nach einem universalen Religionsbegriff: das Problem eines zu engen und zu weiten Religionsverständnisses auf der einen Seite und das Problem der Reichweite der universalen Bestimmung auf der anderen Seite (Könemann, 2002, 60-72). Ein eng gefasstes Religionsverständnis bestimmt Religion vornehmlich entsprechend dem traditionell herrschenden Diskurs von Religion, das bedeutet in unserem kulturellen Kontext eine Gleichsetzung von Religion mit Christentum und dessen Überzeugungen wie (kirchlichen) Ritualpraxen. Ein solches Verständnis wird weder den kollektiven und individuellen religiösen Ausdrucksformen gerecht, die nicht unmittelbar in den Kanon der traditionellen kirchlichen Praxis einzuordnen sind, noch werden andere religiöse Traditionen und deren kollektive und individuelle religiöse Ausdrucksformen damit wahr- und ernst genommen. Diese christentumszentristische und kirchensoziologisch verengte Sichtweise wurde bereits in den 1960er Jahren scharf durch Thomas Luckmann (1960) kritisiert. Ein zu weites Religionsverständnis findet sich wiederum bei Luckmann (1991), der Religion als Transzendierung des Menschen vom biologischen zum sozialen Wesen bestimmt: Religion ist in die Sozialität des Menschen eingeschrieben, wird mit dieser gleichgesetzt und somit als anthropologische Grundkonstante verstanden. Eine solch weite Bestimmung von Religion greift u.a. auf Schleiermachers Bestimmung der Religion als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ (Schleiermacher, 1967) und auf Paul Tillichs Beschreibung der Religion als das „was uns unbedingt angeht“ (Tillich, 1966) zurück. In dieser weiten Bestimmung wird Religion jedoch ununterscheidbar von Nicht-Religion und damit verliert der Religionsbegriff seinen heuristischen Wert.
Die andere Schwierigkeit eines universalen Religionsbegriffs liegt in seiner Abstraktion und Allgemeinheit. Damit verliert ein universales Religionsverständnis seine jeweilige Konkretion und Kontextualität und wird inhaltlich leer und ahistorisch. Aufgrund dessen wird ein allgemeiner (normativer) Religionsbegriff in der heutigen Religionssoziologie häufig abgelehnt, so z.B. bei Joachim Matthes (1993) oder Franz Xaver Kaufmann (1989). So möchte Kaufmann ihn nicht mehr als normativen Begriff, sondern nur noch als problemanzeigenden Begriff verstehen und nähert sich dem Phänomen der Religion über die historisch-konkrete Religion, wie in seinem zusammen mit Karl Gabriel entwickelten Ansatz einer Soziologie des Christentums (Gabriel/Kaufmann, 1980). Demgegenüber wird bleibend die Forderung der Notwendigkeit eines allgemeinen Religionsbegriffs aufrechterhalten (Pollack, 1995; 2003; Riesebrodt, 2001), da andernfalls die Gefahr bestehe, dass der Religionsbegriff in Beliebigkeit und Willkür abzugleiten drohe (Pollack, 1995, 163-190).
Die nichtsdestotrotz in großer Vielzahl vorgenommenen Bestimmungsversuche von Religion (Wagner, 1991) lassen sich verschiedenen Richtungen zuordnen. Substanziale Bestimmungen von Religion bestimmen diese über den Inhalt, über das Wesen der Religion, z.B. wie schon erwähnt als „schlechthinnige Abhängigkeit“ von einem transzendenten Grund bzw. als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ (Schleiermacher, 1967), mit Bezug auf das „Numinose“ bzw. auf das „Heilige“ (Otto, 2004), als das „Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht“ (Tillich, 1966), als das „Errichten eines heiligen Kosmos“ (Berger, 1988) oder eben wie bei Luckmann als Transzendierung vom biologischen zum sozialen Wesen. Substanziale Bestimmungen werfen das Problem auf, dass sie trotz aller Abstrahierungsversuche noch stark an christliche Vorstellungen anschließen, vor allem aber Religion als anthropologische Konstante betrachten und damit nicht nur die Unterscheidung von Religion und Nicht-Religion, sondern auch die Möglichkeit der freien Entscheidung des Individuums gegen Religion negieren. Funktionale, insbesondere durch die → Religionssoziologie
Doch trotz dieser vielfältigen Bestimmungsversuche von Religion erscheint eine universale Bestimmung des Religionsbegriffs schwierig, und zwar angesichts der Vagheit der Kriterien zur Unterscheidung zwischen Religion und Nicht-Religion, angesichts der Tatsache, dass Religion weder eine Institution ist, die sich von anderen unterscheidet, noch ein Diskurs, der überall denselben Regeln folgt und der nicht einmal immer vom selben Gegenstand handelt, als auch angesichts des in den verschiedenen religiösen Traditionen unterschiedlichen Gebrauchs der klassischen Unterscheidungen z.B. zwischen heilig und profan oder bezogen auf das Christentum zwischen → Kirche und Staat
3. Begriffsunterscheidungen: Religion, Religiosität, Spiritualität
Vom Religionsbegriff sind die Begriffe Religiosität und Spiritualität zu unterscheiden. Auch der Begriff der Religiosität (→ Religiosität, Jugendliche
In systematisch-theologischer als auch in praktisch-theologischer Sicht wird noch in einer weiteren Hinsicht zwischen Religion und Religiosität unterschieden, und dies in Bezug auf das Verständnis von Religion als (Sinn-) Deutungssystem: Religion stellt ein klassisches Sinndeutungssystem mit Transzendenzbezug dar, sie ist eine Sinnressource, die dem Menschen in Bezug auf ein Unbedingtes, auf Letztgültiges, auf Selbst- und Weltdeutung für sein Leben zur Verfügung stellt (Könemann, 2011, 71ff.; Wendel, 2010, 7-10): „Welt deuten muss man, Welt religiös deuten kann man“ (Hemel, 2000, 72). Handelt es sich bei Religionen um Sinndeutungssysteme, so handelt es sich bei Religiosität um die subjektive, sinnkonstituierende Praxis jener Deutung, die den Religionen zugrunde liegt und sie zugleich ermöglicht. Religiosität kann so auch als biographische Ausgestaltung und Aneignung jener Sinndeutung verstanden werden (Gräb, 2006; Korsch, 2003, 276; Grözinger, 1987). Biographie und Sinnfrage sind wechselseitig aufeinander bezogen, da die Sinnfrage über die in der → Biographie
Diese sinngenerierende und -deutende Bedeutung, die in der Tradition der natürlichen Theologie und der liberalen protestantischen Theologie steht und verbunden mit der Wende zur subjektiven Religion ist, kommt der Religiosität unter den Bedingungen der Moderne in besonderem Maße zu, insofern die dem modernen Menschen zur Aufgabe gewordene Deutung seiner selbst und der Welt und die damit verbundene selbstverantwortliche Generierung des Sinns seines Lebens angesichts des Wegbrechens einer einzigen, als allgemeinverbindlich angesehenen Tradition der Selbst- und Weltdeutung, umso deutlicher zu Tage tritt. Allerdings ist Religiosität anders als noch in den Traditionen natürlicher und liberaler Theologie nicht als anthropologische Grundkonstante und quasi „angeborenes“ Gefühl zu verstehen, also nicht als Existenzial des Subjekts, sondern vielmehr als ein Potenzial religiöser Sinndeutung, das mit den reflexiven Leistungen des Subjekts verbunden ist und das anzunehmen und zu entwickeln in der freien Entscheidung des Menschen liegt (Wendel, 2010, 46-48).
Mit den Veränderungen, der → Pluralisierung
4. Religion in der Moderne – zur gesellschaftlichen Situation von Religion
Die Situation und Bedeutung von Religion in der modernen Gesellschaft wird unterschiedlich eingeschätzt. Unabhängig von den massiven Entkirchlichungsprozessen auf Seiten des Christentums werden innerhalb der Religionssoziologie gegenwärtig drei Theorien diskutiert, die jeweils den Anspruch erheben, die Situation und Bedeutung von Religion in der Moderne erklären zu können. Dabei handelt es sich um die Theorie der Modernisierung oder auch die Säkularisierungstheorie, die eine grundlegende Spannung zwischen Religion und Moderne ausmacht, um die Theorie der religiösen Individualisierung und um die Theorie des in den USA entwickelten Rational Choice, die beide von einer grundlegenden Vereinbarkeit von Religion und Moderne ausgehen und die Moderne gar für religionsproduktiv halten.
Im Mittelpunkt der Modernisierungstheorie, die auch unter dem Namen Säkularisierungstheorie (→ Säkularisierung
Ein zweiter erklärender Theorieansatz wurde in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre von Th. Luckmann mit dem Ansatz der „unsichtbaren Religion“ (Luckmann, 1967/1991), der in der These der Privatisierung und Individualisierung von Religion mündete, in die Diskussion gebracht. Der Grundgedanke dieses Ansatzes geht davon aus, dass nicht die Religion zurückgehe, die Moderne also keinen Bedeutungsverlust von Religion mit sich bringe, sondern sich vielmehr die Formen des Religiösen veränderten und privatisierten. Das „offizielle Modell“ der Religion, d.h. die institutionalisierte Religion würde durch frei wählbare, alternative oder neue Formen von Religiosität und Spiritualität ersetzt. Gegenwärtig wird dieser Ansatz vor allem von Grace Davie und Danièle Herviéu-Léger vertreten (Davie, 2003; Hervieu-Léger, 2004), noch weitergehend wird das Anwachsen nicht-institutionalisierter Religiositäts- und Spiritualitätsformen auch als (neue) spirituelle Revolution gesehen, so z.B. von Paul Heelas und Linda Woodhead (2005).
Der dritte Theorieansatz des „Rational Choice“ stammt aus den USA und wurde von Forschern wie Rodney Stark und William Bainbrigde (1989) sowie von Roger Finke und Rodney Stark (1992) Ende der 1980er Jahre in die Diskussion gebracht. Im Unterschied zu den anderen beiden Theorien setzt das Rational-Choice Modell bei der Ökonomie an und betrachtet Religion vor allem als Markt, auf dem wie auf anderen Märkten um die Konsumenten geworben und konkurriert wird. Es sei nun diese Konkurrenz, die die religiöse Vitalität in einem Land (wie z.B. in den USA) in einem positiven Sinne beeinflusse, und im Umkehrschluss sinke die religiöse Vitalität in Ländern mit recht stark regulierten und monopolisierten Religionssystemen, wie z.B. in einigen Ländern Westeuropas. Mangelnde Konkurrenz führe dazu, dass die Qualität der religiösen Produkte nachließe, wodurch Religion letztlich für die Menschen unattraktiv würde.
5. Offene Fragen, Desiderate, Perspektiven der Forschung
Christlich-religiöse Bildungsprozesse (→ Bildung, religiöse
Mit Blick auf die in den vergangenen Jahrzehnten immer wichtiger gewordenen interreligiösen Lernprozesse (→ interreligiöses Lernen
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